Auch dieses Mal hat die Frankfurter Buchmesse ihren kleinen Aufreger, der sich allerdings zu einem großen, ja einem zum Prinzip hochgeschaukelten auswuchs, denn er betrifft das hohe Gut der Meinungsfreiheit.
Ausgerechnet der Schriftstellerverband PENZentrum Deutschland, der unter Punkt vier seiner Charta schreibt, dass sich seine Mitglieder verpflichten, „jeder Art der Unterdrückung der freien Meinungsäußerung (…) entgegenzutreten“, fordert die Absage eines Auftritts der als rechtsnational eingeordneten Stiftung Europa Terra Nostra (hinter der wohl einige NPD-Vorstandsmitglieder stehen). Zudem möchte er einige „rechtsradikal“ genannte Verlage von der Buchmesse ausgeschlossen sehen, weil diese, jetzt bitte festhalten, die Meinungsfreiheit bedrohten – und zwar durch die Literatur, die sie verlegen. Der PEN als Säuberungskommando, man fürchtet um seinen Verstand!
Wie jedes Jahr freue ich mich auf den Trubel, auf Freunde, die ich das Jahr über nicht sehe und die sich alle brav auf Joachim Unselds Party treffen, natürlich nur um mich zu treffen, bei bewährten vegetarischen Gerichten und exzellentem Wein und möglicherweise dem einen oder anderen Joint, der selbstverständlich draußen gepafft wird.
Worauf ich mich persönlich freue, ist das Wiedersehen mit Irene Dische, die nach langer Pause ihren neuen Roman „Schwarz und Weiß“ vorstellt, eine Liebesgeschichte durch drei Jahrzehnte, und auf Jan Fleischhauers bitterbösen Abgesang auf eine Liebe, ein Sachbuch mit dem vielsagenden Titel „Alles ist besser als noch ein Tag mit dir“.
Ein Ereignis ist ganz sicher die Messepremiere der Buchreihe „Tichys Einblick“, um auch einmal pro domo zu schreiben − ermutigend, wie eine kühne verlegerische Initiative auch hier die immer ängstlicher gehüteten Meinungskorridore erfrischend erweitert.
Ansonsten werde ich auch in Zukunft auf diesen Seiten aus den Tausenden von Neuerscheinungen genau die drei vorstellen, die mich zur Stunde begeistern – für Verrisse ist der Platz einfach zu schade!
Ulrich Schacht: Notre Dame
Mit seinem Presseausweis hatte er sich drei Stunden zuvor an den Wartenden vorbeigemogelt. Er schaut den Tanzenden im Stroboskoplicht zu. Schaut „auf die zerfetzten Gesichter, fragmentierten Körper“, die sich zu Teilen eines Bildes formen, „in dem ein elastisches Ganzes ununterbrochen zerstört und wieder verquirlt wurde“, und er spürt, dass sich in dieser Zerstörung „Freiheit“ austobt, und denkt sich: „Wirkliche Freiheit – war sie zuletzt nicht doch unendlich mehr als bloßer Wille? Natur also, reine Natur?! Dem Menschen geschenkt, nicht erfunden von ihm.“
Philosophische Tiefenbohrung
Ziemlich schnell ist dem Leser klar, dass hier kein gewöhnlicher Reporter zuschaut, sondern ein Dichter, der philosophische Tiefenbohrungen nicht scheut, und so fragt ihn denn auch Rike, ob er „wirklich schreibt“. Nicht die übliche Zeitungsware, sondern Dichtung. Berg lässt sich ihre Adresse geben und schickt ihr einen seiner Lyrikbände. Ein paar Tage später erhält er einen Brief von ihr. „Ich lese eher seltener Gedichte“, steht da, „aber Deine habe ich ziemlich verschlungen. Vielleicht ist das nur heute so?! weil das, was Du da geschrieben hast, genau heute richtig für mich ist …“
So fängt das an. Und bald umschlingen sie sich in einem Hotelzimmerbett, und wie in einer seltenen Mischung aus ganz bestimmten chemischen Elementen zu einer ganz bestimmten Zeit schießt da plötzlich eine Flamme hoch, und die weiteren 400 Seiten sind im Grunde widerwillige Löscharbeiten, denn diese Liebe ist anziehende Verrücktheit und eine Feuersbrunst, die verheerend wirkt, sowohl für Berg als auch für die junge Rike. Denn Berg ist verheiratet und hat eine sechsjährige Tochter, und Rike, halb so alt wie er, hat nur ihre Neugier, ihre Zärtlichkeit, ihre Lust – und ihr endloses Schwanken und ihre große Weltunerfahrenheit.
Beobachtungslust
Berg, der Dichter. Der Name könnte nicht besser gewählt sein, Berg ist ein Held, ein Dissident, er saß im Zuchthaus, bis er freigekauft wurde in den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts, auch seine Mutter saß ein, weil sie mit einem sowjetischen Offzier liiert war, er wurde im Zuchthaus geboren. So weit ist das alles nicht Dichtung, sondern Wahrheit, denn der Autor Ulrich Schacht erlebte genau dieses Schicksal.
Bisher ist Ulrich Schacht als Essayist und Lyriker hervorgetreten sowie als Mitherausgeber der „Selbstbewussten Nation“ um Botho Strauß’ umstrittenen „Bocksgesang“-Essay. „Notre Dame“ ist sein Debüt als Romanautor, und zwar eines, der die Bobachtungs-Lust und die Wort-Lust und die Gedankentiefe des Lyrikers nie vergessen lässt. Das hier ist insofern ein Actionroman, als es die Action zweier Herzen ist, ein Lolita-Feuer, ein Mignon-Roman, der den Älteren um seinen Verstand bringt.
Berg kann durchaus brachial sein. Als Rike nach einem Konzert nicht wie verabredet bei ihm im Hotel auftaucht, sondern bei Freunden übernachtet, macht er sich auf, um sie in der dunklen WG aufzuspüren. Ein Raum mit Schlafenden, gleichmäßiges Atmen. Ihn beschleicht das „Gefühl, in eine Höhle träumender Wesen einzudringen, die vollkommen ahnungslos von fremden Augen beobachtet wurden“.
Irgendwann viel später wird sie sagen: „Wenn man einen anderen so ausschließlich begehrt, tötet man ihn dann nicht, und sich vielleicht sogar mit?“
Er schreibt ihr von den Färöer-Inseln, es sind Briefe voller Beschwörungen und Selbstbeschwörungen. Er will in ihre Seele, indem er die eigene klingen lässt, er erlebt für zwei.
Da er, der Revolutionsheld, überallhin eingeladen wird, besteht die Chance, ihr die Welt zu zeigen; sie fahren nach Paris, sie fahren nach Schottland, sie sind glücklich, und immer wieder stürzt dieses fragile Zusammensein ab in die Verzweiflung des Nichtgelingens.
Sie verbringen Silvester zusammen in Berlin, auf Einladung des Staatsministers, der seine Behörde in dieser Nacht auflöst und die Staatsgeschenke verlost, ja, die Posse ist immer nahe bei der Tragödie, der Sturm der Geschichte wirbelt alles und alle durcheinander, und schließlich findet Berg, allein in Paris, so etwas wie Erlösung. Ja, Ulrich Schacht greift mutig aus ins Religiöse, und schließlich sind es die weit geöffneten Flügeltüren von Notre Dame, die ihn und sein blutendes Herz aufnehmen.
Vor der Kulisse eines Geschichtssturms hat Ulrich Schacht einen Gefühlssturm in Szene gesetzt, schonungslos ernst und gleichzeitig wortzaubernd und wirbelnd, eine Amour fou, die die Wucht hat, den Protagonisten zu vernichten. Ein Bravourstück.
Rafael Seligmann: Deutsch meschugge
Wir schreiben das Jahr 2019, und die Deutsch-Nationale Mehrheitspartei hat mit 27 Prozent ihr vorheriges Wahlergebnis verdreifacht. Zwar ist die ewige Kanzlerin Hedwig Kleinert mit ihren 32 Prozent wieder stärkste Kraft, aber Paul Levite, der den tumben Altnazi Urban Hansen von der Spitze seiner Partei weggeputscht hat, erweist sich als biegsamer und hochintelligenter Schachspieler der Macht. Es gelingt ihm, die Linksradikalen zu einer Koalition zu bewegen und zusätzlich noch einige Konservative aus der Regierungspartei zu lösen, um die Kanzlermehrheit zu erringen. Noch sträubt sich der Bundespräsident, doch Levite mobilisiert die Straße. Vor 1,4 Millionen Leuten spricht er an der Siegessäule in Berlin. „Er hatte gewonnen … Die Deutschen schätzten ihn, den fetten Juden, mehr als ihr Staatsoberhaupt.“
Levite wird Kanzler, und der Schürzenjäger besetzt sein Kabinett durchaus mit Frauen, die er um sich haben will. Schließlich wird ein Terroranschlag in Istanbul zum Pulverfass, dessen Explosion den Dritten Weltkrieg auslösen könnte. Der Schluss soll hier nicht verraten werden, doch er ist menschenklug und lächelnd, und das Lächeln bleibt nach seinem letzten Satz: „Ein deutscher Bürger bin ich und ein Jud obendrein. Da muss man meschugge werden.“
Al Gromer Khan: Kurt und Bongo und die Hippies
Ansonsten sind sie ständig klamm und nehmen sich vor, das Finanzamt zu überfallen, „weil da das ganze Geld ist“. Allerdings vertun sie sich in der U-Bahn-Station und stehen plötzlich vor einem Frauengefängnis. Ein brechend komischer Hippie-Roman, so knallbunt, dass man die Joints regelrecht mitatmet. Wohl selten ist Swinging London 1967 so lebenslustig beschrieben worden, wie es Al Gromer Khan in dieser Aussteigerstory tut, in der man nebenher eine ganze Menge über das Sitar-Spielen und die indische Musik erfährt.
Kein Wunder. Al Gromer Khan ist heute einer der bemerkenswertesten Komponisten indischer Meditationsmusik. Und er hat genug Lebenserfahrung, um diesen drei 19-Jährigen, die sich und die Welt ausprobieren, jede Gerechtigkeit angedeihen zu lassen, denn er weiß: Es gibt nichts Wichtigeres im Leben, als dem Flug der Seele zu folgen.