Tichys Einblick
Information statt Agitation

Zeit für Fakten: Die Wurzeln des Streits zwischen Juden und Arabern

Seit über 130 Jahren tobt nun schon der unheilige Krieg zwischen Juden und Arabern um das Heilige Land. Wie unheilig, das zeigt sich in erschreckender Weise dieser Tage nach den von Hamas-Terroristen verübten Massakern in Israel, deren Folgen auch unsere jüdischen Nachbarn hier in Deutschland unmittelbar bedrohen. Höchste Zeit, dieses unübertroffene Standardwerk zu lesen.

Gut meinend, wenig wissend, stark wertend – so verlaufen die meisten Diskussionen über den israelisch-arabisch-palästinensischen Konflikt. Nicht nur in Deutschland findet man bei den Debatten an Stammtischen, bei Politikern, Journalisten und selbst an Universitäten kaum Unterschiede im Niveau der Argumentation. Jeder Konfliktpartner verfügt auch bei uns über treue Parteigänger. Der Kampf um die öffentliche Meinung tobt seit Jahren.

Gewarnt werden muß immer wieder vor den vermeintlichen oder auch den tatsächlichen Fachleuten. Ihre politische, parteiliche Botschaft verpacken sie wissenschaftlich. Sie liefern der jeweiligen Partei eher Beweismaterial für den eigenen Standpunkt als unabhängige und vollständige Informationen.

Der Begriff »Parteilichkeit« kommt vom lateinischen Wort »pars«, auf deutsch: der Teil. Ein Teil des Mosaiks ist nie das vollständige Bild. Vollständigkeit kann auch ich nicht bieten, aber wenigstens versuchen, Einseitigkeiten, also Parteilichkeit, zu vermeiden.

Um das vollständige Bild zu erhalten, müssen Vorurteile überwunden werden. Das ist für jede Seite schmerzlich, aber auch notwendig, wenn Kompromisse Konflikte dämpfen sollen. Für den Außenstehenden, der sich informieren möchte, ist es unerläßlich.

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Wer auf einseitige Parteilichkeit und Eindeutigkeit in der Argumentation verzichtet, verwirrt scheinbar. Es sei hier zwar vermieden, die Dinge kompliziert darzustellen, trotzdem muß hier und dort der Geist scheinbar verwirrt werden, wenn das Geflecht der Vorurteile im Dienste der Information entwirrt und geklärt werden soll.

Information statt Agitation in der Sache zu bieten bedeutet, Mehrdeutigkeit an die Stelle parteilicher Einseitigkeit und Eindeutigkeit in der Bewertung zu setzen. Für manche ist das eine Provokation. Ich habe „Wem gehört das Heilige Land?“ jedoch nicht für Parteigänger und Propagandisten geschrieben.

Heiliges Land? Israel? Palästina?

Was bedeuten uns Namen? Sind sie Schall und Rauch? Sie sind es sicher nicht in bezug auf Menschen oder auf Staaten und Städte. Indem wir Jerusalem oder Al-Quds sagen, entscheiden wir uns für die jüdisch-israelische oder für die arabisch-islamische Verknüpfung. Wir beschäftigen uns also nicht mit Namen- oder Wortspielen, sondern mit explosiver Politik.

Man denke an unsere eigene Geschichte: Die Deutschen nannten die Stadt Danzig, die Polen Gdansk. Aus Chemnitz machte die DDR Karl-Marx-Stadt, und das Ende der DDR war der Neubeginn für Chemnitz. Aus St. Petersburg wurde nach der Bolschewistischen Revolution Leningrad, und Leningrad erwachte 1991 wieder als St. Petersburg. Namen sind Inhalte, sind politisches Programm, sind Hinweise auf Sieger und Besiegte. Das gilt auch im Heiligen Land: Ist Israel das Land der Juden? Ist Palästina das Land der Palästinenser?

»Das Land« – auf diese knappe Formel brachten es die Juden am Ende der Epoche des Zweiten Tempels, also um die (christliche) Zeitenwende. Aber auch vorher findet man Hinweise auf »das Land«. Zum Beispiel im Dritten Buch Mose (Leviticus) 19,23: »Und wenn ihr in das Land kommt . . .« Oder: »Und Josua nahm das ganze Land ein . . .« (Josua 11,23). Aber es wurde hier eher als Abkürzung denn als Name benutzt. Damit sollte ausgedrückt werden, daß es viele Länder auf der Welt gibt, aber für Juden eben nur dieses eine, das »Land Israel«, auf hebräisch: »Eretz Israel«. Die verschiedenen Teile des Landes trugen auch vorher schon verschiedene Namen. Erst in jener Zeit sprach man von »dem Land«. Es knüpfte eine Einheit von Land, Volk und Religion: Israel, Juden, Judentum.

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Zu Beginn, bei den Ägyptern, hieß es bis zum 14. beziehungsweise 13. Jahrhundert v. Chr. Retenu. Dazu gehörten auch das heutige Syrien und der Libanon. Dann nannten sie es Hurru – nach den Hurritern, die seit dem 17. Jahrhundert v. Chr. vor allem in Syrien lebten. Bis in das 3. Jahrhundert v. Chr. findet man in ptolemäischen Texten diese Bezeichnung.

Vom Ende des 14. bis in das 12. Jahrhundert v. Chr. sprachen die Ägypter von P-Knaana, also vom Land Kanaan. Nun endlich bewegen wir uns auf vertrauterem Boden, denn wir kennen diese Bezeichnung aus der Bibel. Dort ist damit im engeren Sinne das Land westlich des Jordans gemeint, im weiteren Sinne auch der westsyrische Bereich. Ein kanaanitischer Stamm waren die Amoriter, deshalb wurde ein Teil der Region »Land der Amoriter« genannt. Auf der Suche nach Juden oder Hebräern hören wir also zunächst von anderen Völkern und anderen Namen für bestimmte Landesteile. Völker kommen und gehen. Die Hebräer kamen, und zu den Hebräern zählten unter anderem auch die Israeliten. »Denn gestohlen bin ich worden aus dem Land der Hebräer«, berichtet Joseph im Ersten Buch Mose (Genesis), 40,15.

Die vielbeschworene und ebenso umkämpfte Einheit von Land, Volk und Religion zeichnet sich mit der Landnahme durch die Israeliten erst spät ab. Vom Land der Kinder Israels ist im Buch Josua 11,22 die Rede. Hierhin führte Josua die Kinder Israels. Hier bekämpfte er die ansässigen Völker, ermordete und vertrieb sie allmählich. Die Tradition der gewaltsamen Landnahme durch die Juden begann.

Von »Eretz Israel«, vom Land Israel, lesen wir in 1. Samuel 13,19. Aber hier ist nur das Siedlungsgebiet der Kinder Israels gemeint, nicht das ganze Land. Saul, David und Salomo herrschten über das Königreich Israel, lesen wir in der Bibel. Aber die Forschung ist sich weitgehend darüber einig, daß die Bezeichnung »Land Israel« für die Zeit Davids nachträglich eingeführt wurde (1. Chronik 22,2 oder 2. Chronik 2,16).

Schon zu Zeiten König Davids ist sowohl von Israel als auch von Judäa die Rede. Beide kennzeichnen das von den Juden bewohnte Land. Allerdings werden auch schon im Buch Josua 11,21 sowohl Israel als auch Judäa genannt; Judäa allerdings nur als Gebirgslandschaft. Die Wissenschaft wertet dies als Vorgriff, denn erst nach dem Tod von König Salomo wurde das Reich in zwei Teile gespalten: eben in »Israel« und »Judäa«.

Es handelt sich also um keine babylonische, sondern um eine jüdisch-israelitische Sprachverwirrung. Sprachliche Begriffe sind ein Spiegel, nicht die Wirklichkeit selbst. Diese vielen Bezeichnungen und Namen spiegeln die Verwicklungen, den Kampf, die politisch und historisch unklaren oder ungeklärten Verhältnisse der Region. Angesichts der Mehrdeutigkeiten können nur Propagandisten behaupten, alles sei eindeutig.

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Im Jahr 538 v. Chr. erlaubte der Perserkönig Kyros den Juden die Rückkehr ins Land, nach Judäa. Jetzt erst bilden die Wörter »Jude« und »Hebräer« eine Einheit. Judäa ist nun der Juden Land, und zwar der Juden, die nach Zion zurückgekehrt waren. Als Rückkehr nach Zion bezeichnen die Juden diese 538 v. Chr. einsetzende Rückwanderung in die Heimat.

Zion ist der Name für die alte Jebusiterstadt, die man heute als Jerusalem kennt. Selbst das scheinbar so exklusive, rein jüdisch-hebräische Wort »Zion« ist also eigentlich ein Fremdwort. Schon dieser zentrale Begriff jüdischer Religion und Staatlichkeit enthält die Spannung von Eigenem und Fremdem, Universalem und Partikularischem. Wenn die jüdischen Propheten von »Zion« sprachen, dann verstanden sie darunter Jerusalem als geistiges und religiöses Symbol. »Denn aus Zion wird die Thora kommen und Gottes Wort aus Jerusalem.« Erst in der Diaspora, außerhalb Israels, wurde Zion den Juden zugleich zum Symbol für ihr »Heiliges Land«.

Der im 19. Jahrhundert gegründete Zionismus war also die Nationalbewegung des jüdischen Volkes, das die Rückkehr in sein Land plante, oder, vorsichtiger ausgedrückt, in das Gebiet, das es als sein Land betrachtete. Doch wir eilen der Geschichte um Jahrtausende voraus.

Seit 538 v. Chr. war Judäa sozusagen ganz amtlich das autonome Gebiet der Juden in ihrer Heimat, aus der sie erstmals 722 v. Chr. von den Assyrern und dann 586 v. Chr. von den Babyloniern verschleppt worden waren. Im 2. Jahrhundert v. Chr. gelang es den Juden Judäas unter den Hasmonäern sogar, wieder einen eigenen Staat zu schaffen: das Königreich Judäa. Auch unter König Herodes blieb dieser Name erhalten. Dieses Judäa war wesentlich größer als das einstige Königreich gleichen Namens, das 586 v. Chr. zerstört worden war.

Schon zu Herodes’ Zeiten waren die Römer die eigentlichen Herrscher des Landes. Gegen dieses Joch erhoben sich die Juden. Ihr Aufstand war jedoch vergeblich. Sie verloren ihn im Jahr 70 n. Chr. und endgültig im Jahr 135. Verloren ging zur Strafe auch der Name. Der römische Kaiser Hadrian nannte das Land Syrien-Palästina. Bald hieß es nur noch Palästina, das Land der Philister. Und jeder, der sich an David und Goliath erinnert, wird wissen, daß der Riese ein Philister war.

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Die von den Römern gewählte Symbolik erlaubte keinen Zweifel. Die Juden hatten ihr Recht auf dieses Land verwirkt – zumindest in den Augen Roms. Verwaltungsbezirke und einzelne Gebiete wurden diesem »Palästina« im Lauf der folgenden Jahrhunderte von Byzantinern, Arabern oder Osmanen das eine Mal abgezwackt, das andere Mal hinzugefügt. Aber Palästina blieb im Grunde unangetastet – bis zur Errichtung des Jüdischen Staates. Dieser besteht bekanntlich seit dem 14. Mai 1948 und heißt Israel.

Nicht ganz Palästina wurde Israel. Östlich des Jordans war 1921 durch einen Federstrich der Briten (Winston Churchill) das »Emirat Transjordanien« entstanden. Ab 1946 hieß es »Königreich Transjordanien«. Dieses König – reich verleibte sich im Dezember 1948 das Westjordanland und Ost-Jerusalem ein. Fortan hieß diese Verbindung von Ost- und Westjordland »Königreich Jordanien«. Außer Großbritannien und Pakistan erkannte kein anderer Staat diese Annexion an. Seit 1967 haben die Israelis Ost-Jerusalem und das Westjordanland besetzt. Der Gaza-Streifen fiel 1949 unter ägyptische Verwaltung; er war aber nie ein völkerrechtlicher Bestandteil Ägyptens. Auch der Gaza-Streifen wurde 1967 von den Israelis besetzt. Im Juli 2005 setzt Scharon gegen massiven innenpolitischen Widerstand den Rückzug Israels aus dem Gaza-Streifen durch.

Der Name Israel steht heute für das 1948 entstandene Gebiet des Jüdischen Staates. Die Einverleibung Ost-Jerusalems wird von den Israelis als »Wiedervereinigung« bezeichnet; die Palästinenser (und die meisten Staaten dieser Welt) sprechen von »Annexion«. 1981 annektierte Israel zudem die 1967 eroberten Golan-Höhen. Auch hier sagte die Welt: nein.

Woher stammt der Name Heiliges Land? Für Juden und Christen ist er ein Ausdruck der Ehrerbietung und Liebe gegenüber dem Land. Er gehörte natürlich nie zur Amtssprache. Für die Juden bedeutet er in Verbindung mit der Symbolik von Zion, dem geistig-religiösen Zentrum der Juden, eine Steigerung der Bezeichnung »das Land«. Der Apostel Paulus spricht vom »Land der Verheißung«, das Abraham von Gott als »Erbteil« erhalten habe (Brief an die Hebräer 11,9).

Die Muslime verehren heilige Stätten in diesem Land, aber das Land in seiner Gesamtheit war für sie nicht das »Heilige Land«. Der Islam orientiert sich an Arabien und der arabischen Sprache. Der Islam zeigt sich ursprünglich »arabozentrisch«. Die Konzentration auf Palästina ist ein Ergebnis der Politik und aus der Sicht der Muslime verständlich, nachvollziehbar und berechtigt. Doch immer wieder gilt, daß Berechtigtes nicht automatisch richtig sein muß. Meistens ist es parteilich; es soll eher provozieren als informieren. Das gehört zum Ritual von Konflikten und sei damit den Konfliktparteien überlassen, nicht jedoch der Darstellung in „Wem gehört das Heilige Land?“.

Leicht bearbeiteter Auszug aus:
Michael Wolffsohn, Wem gehört das Heilige Land? Die Wurzeln des Streits zwischen Juden und Arabern. Piper Taschenbuch, 304 Seiten, 12,00 €.


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