Tichys Einblick
Wolfgang Streecks neues Buch

Ein Plädoyer für die Demokratie gerichtet an die Gebildeten unter ihren Verächtern

Der Soziologe Wolfgang Streeck zeigt sich in seinem Buch "Zwischen Globalismus und Demokratie" als Kritiker der Globalisierung und der Zerstörung des Nationalstaates. Letzterer ist für Streeck das unentbehrliche Gehäuse der Demokratie und Fundament des Wohlfahrtsstaates.

Wolfgang Streeck

IMAGO / Belga

Wolfgang Streeck ist schon seit langem sowohl als Kritiker der ökonomischen Globalisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte und des mit ihnen verbundenen wirtschaftlichen Neoliberalismus hervorgetreten wie auch als scharfsinniger Gegner eine Ideologie, die den Nationalstaat für tot erklärt und alle relevanten Kompetenzen nach Brüssel zur EU oder zu anderen transnationalen Organisationen verlagern will. Sein neues Buch „Zwischen Globalismus und Demokratie“ nimmt diese Argumentation auf und verdichtet sie.

Für Streeck zeichnet sich seit etwa 1980, verstärkt aber seit den 1990er Jahren eine Tendenz ab, die Nationalstaaten als in Wirklichkeit unentbehrliche Gehäuse der Demokratie und als Fundament des Wohlfahrtsstaates zu schwächen. Vermeintlich um einem marktwirtschaftlichen System, das in den entwickelten Ländern seine Dynamik immer mehr verliert, neue Lebenskräfte einzuhauchen, wurden immer mehr Regulierungen, zum Beispiel des internationalen Kapitalverkehrs, aber auch in Form von Handelsschranken und Zöllen abgebaut. Zugleich entstand ein Druck auf die Regierungen, die öffentliche Infrastruktur und andere Bereich der Daseinsfürsorge zu privatisieren, etwa mit Blick auf die Eisenbahnen oder die Wasserversorgung.

Der Abbau von Kapitalverkehrskontrollen erleichterte es überdies internationalen Konzernen, ihre Gewinne mit einem minimalen Aufwand in Länder zu verlagern, die sich durch besonders niedrige Unternehmenssteuern profilieren, in Europa zum Beispiel Irland und Luxemburg, zum Teil auch die Niederlande. Der Druck der Globalisierung wirkte zwar einerseits in den letzten Jahren inflationsdämpfend, zwang die nationalen Regierungen aber zugleich auch zu Sparmaßnahmen, die den Sozialstaat verschlankten, und ließ oft auch einen großen Niedriglohnsektor mit prekären Arbeitsverhältnissen entstehen. Das alles ging, so Streeck, Hand in Hand mit einer Verlagerung von Kompetenzen weg vom Nationalstaat hin zu internationalen Gremien oder suprastaatlichen Organisationen, in Europa vor allem zugunsten der EU. In der EU sieht Streeck nicht nur einen Motor der Globalisierung, wenn nicht gar der Hyperglobalisierung, sondern auch einer neoliberalen Wirtschaftsordnung, die gegen die sozialstaatlichen Kompromisse der Nachkriegszeit mit ihren systemstabilisierenden Umverteilungsmechanismen, die jetzt als überflüssig und zu kostspielig erscheinen, gerichtet ist.

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Für die 1990er Jahre und die Zeit bis zur großen Finanz- und Eurokrise 2008-10 besitzt diese Analyse eine gewisse Plausibilität, denn eine Liberalisierung der Märkte und ihre Deregulierung im Sinne einer Erleichterung des grenzüberschreitenden Handels war damals tatsächlich das Ziel der EU-Kommission. Die Schaffung eines einheitlichen europäischen Binnenmarktes 1992/93 schuf nicht nur neue Einfallstore für Interventionen des EuGH und der EU-Kommission in nationalen Angelegenheiten, faktisch wurde dadurch die Möglichkeit nationaler Regierungen, eine selbständige Wirtschafts- und Sozialpolitik zu betreiben, so Streeck, stark beschnitten. Auch die Einführung des Euro als einheitlicher Währung kann, wenn man so will, zumindest anfänglich in dieser Perspektive gesehen werden. Indem den nationalen Zentralbanken die Verfügung über die Währungspolitik entzogen wurde, schuf man theoretisch einen neuen „Goldstandard“, was wiederum so Streeck, einen Zwang zu Reformen des Sozialstaates im Sinne von weniger Umverteilung schuf.

Allerdings konzipierten bestenfalls deutsche und wenige andere liberale Ökonomen im Süden Europas den Euro als eine Art Goldstandard. In Frankreich und Italien und vielen anderen Ländern dürfte man eher von Anfang an darauf gesetzt haben, dass die Einführung des Euro die Vorteile einer traditionellen Weichwährung mit starker monetärer Staatsfinanzierung mit niedrigen Zinsen verbinden würde, wie das zur Zeit ja in der Tat der Fall ist. Die Märkte, so die Erwartung, würden in die Bonität Deutschlands und seiner zur Not mit politischer Erpressung zu erzwingenden Bereitschaft, die Schulden aller anderen Euro-Staaten vollständig zu garantieren, als Garant der Stabilität des Euro vertrauen und deshalb niedrige Zinsen anders als zuvor zum Beispiel bei der italienischen Lira akzeptieren. Bislang ist diese Rechnung übrigens durchaus aufgegangen.

Auch stellt Streeck nicht wirklich in Rechnung, dass spätestens seit dem Brexit nicht mehr das isolierte und ungeliebte Deutschland, sondern eher Frankreich zur eigentlichen Hegemonialmacht im „liberalen Imperium“ (Streeck) der EU geworden ist. Dies zum Teil weil die deutsche Politik sich durch komplette Konzeptionslosigkeit und ein kaum noch intellektuell satisfaktionsfähiges Personal auszeichnet, zum andern Teil aber auch, weil es in den europäischen Gremien eine permanente Mehrheit der Länder gibt, die mehr Umverteilung auf Kosten Deutschlands und der nördlichen Staaten erzwingen wollen. Geführt wird diese Mehrheit von Frankreich, das seinerseits in der EU weniger ein Instrument zur immer weitergehenden Liberalisierung der Märkte, sondern eher zu einer etatistischen Industriepolitik in der Tradition Colberts und der unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnte sowie ein potentielles Bollwerk gegen die Globalisierung sieht.

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China ist als Markt für Frankreich sehr viel weniger wichtig als für Deutschland, so dass man eher bereit ist, einen Handelskrieg mit diesem Land zu riskieren, der für Deutschland leicht tödlich ausgehen könnte. Auch müsste man stärker in Rechnung stellen, dass der in den unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnten geschaffene Sozialstaat in Europa vor realen Finanzierungsproblemen steht, die sich nicht einfach durch Steuererhöhungen lösen lassen, Steuerflucht hin oder her. Kaum ein Land zieht einen so hohen Anteil des BIP in Form von Steuern und öffentlichen Abgaben ein wie Frankreich – und dennoch wächst die Staatsverschuldung unaufhörlich. In Europa leidet der Sozialstaat einfach unter den strukturellen Problemen einer Überalterung der Bevölkerung und einer nachlassenden wirtschaftlichen Dynamik in Form von ausbleibenden Produktivitätssteigerungen. Vielerorts treten eine zunehmende Deindustrialisierung, die man vermutlich auch mit Schutzzöllen und Subventionen nur verzögern, nicht verhindern könnte, und eine den Sozialstaat belastende massive Armutsimmigration als Probleme hinzu.
„Governance“ statt „government“ – oder die Vollendung postdemokratischer Ordnungen

Hier also kann man Streeck, der zu einer grundsätzlichen Kapitalismuskritik in zum Teil auch marxistischer Tradition neigt, nicht ganz folgen, auch wenn die Corona-Krise ja tatsächlich gezeigt hat, dass es gefährlich sein kann, sich so stark wie in den letzten drei Jahrzehnten von globalen Lieferketten abhängig zu machen. Auch ist kaum zu übersehen, dass die Finanzkrise von 2008-09 auch eine Folge zu weitgehender Deregulierung der Banken war.

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Zustimmen kann man ihm ohnehin, wenn er die seltsame Allianz zwischen einer Wirtschaftselite, die sich an keinen Nationalstaat mehr gebunden weiß, und einer postnationalen Linken angreift, die beide den Nationalstaat, mit seinen unbequemen Mitbestimmungsrechten unaufgeklärter „plebejischer“ Wähler, beerdigen wollen. Links ebenso wie im wirtschaftsliberalen Lager träumt man dabei davon, „government“ also demokratisch gebundene Regierungen und ihr Handeln durch bloße „governance“ im Idealfall „global governance“, also Entscheidungsmechanismen jenseits traditioneller Verfassungsstrukturen zu ersetzen. Hier zitiert er u. a. den deutschen Politikwissenschaftler Helmut Wilke, der – auf Englisch – von einem „global law without a state“ träumt, dessen segensreiche Herrschaft nicht mehr durch die durchschnittlichen uninformierten Wähler gestört werden kann. (286). So offen formuliert das zwar nicht jeder, der die nationalstaatliche Demokratie für überholt hält, aber um reine Träumereien handelt es sich hier natürlich nicht. In der EU oder zumindest der Eurozone sind zentrale wirtschaftspolitische Kompetenzen zum Beispiel immer stärker auf die EZB als rein technokratische Experteninstitution übergegangen. Rechenschaft ist die EZB niemandem schuldig, weder nationalen Parlamenten noch dem ohnehin nicht sehr demokratischen Europaparlament und zunehmend bekennt sie sich auch ganz offen dazu, durch ihre Geldpolitik politische Ziele wie eine „vernünftige“ Klimapolitik durchsetzen zu wollen. Es gibt durchaus Intellektuelle und Wissenschaftler ebenso wie zahlreiche Politiker, denen gerade das gefällt.

Zu den Wissenschaftlern, die der Entgrenzung des Mandates der Zentralbanken und besonders der EZB das Wort reden gehört zum Beispiel der angesehene englische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze, der fordert, der EZB durch Änderung der europäischen Verträge auch offiziell ein Mandat zu verschaffen, in einer Krise beliebige Maßnahmen zu ergreifen, um das Überleben der Währungsunion sicherzustellen. Von einer demokratischen Legitimation einer solchen Ermächtigung einer technokratischen Institution ist dabei kaum noch die Rede, und die freilich nie ganz ernst gemeinte Kritik des deutschen Verfassungsgerichtes an der faktisch schon vollzogenen Selbstermächtigung der EZB weist Tooze mit einer Wut und einer Leidenschaft zurück (294) die wohl nicht ganz frei ist von einer tief empfundenen Germanophobie. Streeck weist zurecht auf die Gefahren hin, die solche Träume von einer aufgeklärten Zentralbankendiktatur, die freilich seit Ausbruch der Corona-Krise ihrer Verwirklichung noch mal ein gutes Stück näher gekommen sind, mit sich bringen – nicht zuletzt durch das immer größer werdende Legitimationsdefizit einer solchen Konstruktion.

Allerdings ist er damit in seiner eigenen Heimat eher ein Außenseiter, denn für die meisten Deutschen ist die EU zunehmend zu einem sakralen Objekt geworden, dessen Kult, wie Streeck zeigen kann, eine ganz besondere Gattung von abstrusem Eurokitsch, etwa bei dem Schriftsteller Robert Menasse, der freilich Österreicher ist, und seiner Kampfgenossin der nimmer müden Aktivistin und Hochschullehrerin Ulrike Guérot hervorgebracht hat. Menasse muss man immerhin zugute halten, dass er die Beseitigung demokratischer Partizipation ganz offen verlangt, um die Schaffung eines geeinten Europa zu ermöglichen (138-9). So viel Ehrlichkeit ist selten.

Der Traum von der Überwindung des Staates

Hinter der Europabegeisterung von deutschen oder deutschsprachigen Intellektuellen steht oft der Traum von einer politischen Ordnung, die überhaupt nicht mehr staatlich verfasst ist, so etwa bei dem Philosophen Jürgen Habermas, der zu den engagiertesten Gegnern der europäischen „Kleinstaaterei“ und ihrer vermeintlich veralteten Form demokratischer Partizipation gehört. Gerade in Deutschland mag hier auch eine Rolle spielen, dass man sich mit konkreter Staatlichkeit im Gegensatz zu eher diffuser imperialer Herrschaft immer schwer getan hat. Denn ein Staat mit identifizierbarer Souveränität eines klar definierten Herrschaftsträgers war das 1806 untergegangene Heilige Römische Reich deutscher Nation, die politische Heimat der Deutschen in der Frühen Neuzeit, eben gerade nicht. Überdies spricht für Europa, dass das Endziel des europäischen Einigungsprozesses angenehm unscharf bleibt.

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Für welche Sozialverfassung, welche Form von Wirtschaftspolitik würde ein homogenes von Brüssel gelenktes EU-Europa stehen, welche Kompetenzen blieben am Ende noch den Nationalstaaten? Das wird niemals klar gesagt, so dass man auf Europa sehr unterschiedliche Hoffnungen projizieren kann, mehr als auf den eigenen konkreten Nationalstaat mit seinen sichtbaren Defiziten. Gerade so wird Europa dann zu einem „breiten postmaterialistischen Identifikationsangebot insbesondere für die neu-liberale internationalistische Mitte“, zu einem „Sehnsuchtsort ohne Eigenschaften“ (130, 132). Rein theoretisch wäre es die Aufgabe eines EU-Imperiums oder einer sich immer stärker verfestigenden Konföderation, eine spezifische europäische Lebensweise zu verteidigen; was diese Lebensweise freilich ausmachen soll, das wagt anders als in den 1950er Jahren, als der europäische Gedanke vor allem von moderat (oder auch nicht so moderat) konservativen antikommunistischen Katholiken propagiert wurde, keiner mehr zu sagen. Das bleibt gänzlich offen. Eine Definition, die in 27 Mitgliedstaaten überall auf Beifall stieße, lässt sich freilich auch nur schwer vorstellen, das zeigt sich ja gerade in diesen Tagen in den Konflikten Brüssels mit Polen und Ungarn, die nicht die letzten ihrer Art sein werden.
Eine Rückkehr zu Nationalstaaten, die soziale Kompromisse selbständig und demokratisch aushandeln können?

Streeck setzt daher faktisch seine Hoffnung darauf, dass das postdemokratische europäische Projekt in der jetzigen Form am Ende scheitern wird. Einerseits weil ein liberales Imperium, als das er die EU sieht, eben über zu wenig Zwangsmittel verfügt, um regionale „Aufstände“ niederzuwerfen, andererseits aber auch, weil sich schon jetzt abzeichnet, dass die wirtschaftlichen Ungleichgewichte in der Eurozone in den nächsten Jahren nicht kleiner, sondern eher größer werden dürften. Dies über finanzielle Transfers auch nur annähernd auszugleichen, würde jedes Jahr Kosten von mindestens ca. 4 Prozent des BIP der EU, respektive der Eurozone verursachen, wie ein Blick auf Süditalien oder die neuen Bundesländer lehrt. Dort haben in der Dimension ähnliche Transfers zwar keine echte Angleichung der Lebensverhältnisse herbeiführen können, aber doch die Vergrößerung der Disparität gestoppt. Für die gesamte EU wäre das eine Summe von mehr als 500 Milliarden Euro jährlich, die im wesentlichen von Deutschland und den Niederlanden und wenigen kleineren Staaten aufzubringen wäre, da die anderen Länder mutmaßlich einschließlich Frankreichs ja Subventionsempfänger sein müssten, um im Lebensstandard wenigstens nicht zurückzufallen. Das würde Deutschland in den Ruin treiben und wäre auch dem Wahlvolk mit noch so viel Märchen irgendwann nicht mehr vermittelbar. Bleibt also nur der jetzige Weg, die monetäre Staatsfinanzierung, die immer höhere Verschuldung sowohl der Einzelstaaten wie auch der EU insgesamt, abgesichert durch die Anleihenkäufe der EZB.

Wolfgang Streecks neues Buch
Dass dieser Weg sich unbegrenzt fortsetzen lässt, ist jedoch, da muss man Streeck zustimmen, unwahrscheinlich, denn irgendwann steigen die Zinsen auf Staatsanleihen dann eben doch wieder und dann droht der Bankrott. Von den Nebenwirkungen der jetzigen Politik der finanziellen Repression, die vor allem auf Kosten derjenigen geht, die nicht von der Inflation der Vermögenspreise profitieren, einmal ganz abgesehen. Kommt der Crash also doch, dann hofft Streeck, dass daraus in Europa eine neue Staatenordnung aus kooperierenden, aber autonomen Nationalstaaten hervorgeht, die selbst über ihre Fiskal- und Wirtschaftspolitik bestimmen können und wieder über echte demokratische Legitimität verfügen, die es ihnen erlaubt, das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit eigenständig auszuhandeln. Diese Art von Nationalstaat nennt Streeck in Anlehnung an den Ökonomen Lord Keynes und den Sozialwissenschaftler Karl Polanyi (1886-1964), auf dessen Buch „The Great Transformation“ (1944) er sich wiederholt bezieht, den „Keynes-Polanyi-Staat“.

Allerdings schreibt Streeck auch: „Die Fähigkeit scheiternder Eliten und realitätsuntüchtig werdender Denkschulen scheint unbegrenzt, gerade in Großkrisen immer wieder Kurs zu halten, in der Erwartung, beim nächsten Versuch dann doch noch irgendwie lebendig mit dem Betonkopf durch die Wand zu kommen“ (291). Warum denkt man bei diesem Satz sofort an EU-Funktionäre wie unsere immer lächelnde Ursula von der Leyen und andere Berufseuropäer jedweder Couleur? Schwer zu sagen, aber die Assoziation drängt sich jedenfalls auf.

Betonköpfe dieser Art sind nicht zu unterschätzen, sie sind letzten Endes genau so wenig lernfähig wie das System, das sie vertreten, die EU. Das weiß wohl auch Streeck selber, der vermutlich auch aus diesem Grunde in seinem Buch ausführlich den englischen Historiker Gibbon (1737-1794) zitiert, dessen großes Thema der Untergang des Römischen Reiches in der Spätantike war. Gibbon führte diese Katastrophe unter anderem auf die zu starke Zentralisierung des Reiches zurück. Fiel das Zentrum zum Beispiel durch Unfähigkeit des Herrschers und seines Stabes aus, oder wurde es Opfer einer „feindlichen Übernahme“ durch eindringende Barbaren, dann brach das ganze Reich in sich zusammen.

Die Überlegenheit der europäischen Staatenwelt seiner Zeit, also des 18. Jahrhunderts, sah Gibbon gerade darin, dass sie polyzentrisch war, und daher nicht leicht von außen gänzlich zu Fall gebracht werden konnte – eine Einsicht, die Streeck zustimmend zitiert und als Argument für die Überlegenheit der traditionellen vielgestaltigen Staatenordnung Europas im Vergleich zu homogenen Großreichen sieht. Nur: Ist nicht der Prozess der Zentralisierung in der EU schon so weit fortgeschritten, dass der Kontinent seine traditionelle Stärke, für die er freilich in Form vom Konflikten auch immer wieder einen hohen Preis bezahlt hat, also seinen Polyzentrismus, die Abwesenheit eines schlechterdings dominierenden Machtzentrums, schon jetzt verspielt hat? Ist damit die Bahn nicht vielleicht doch frei für einen Niedergang und Untergang, ähnlich der zivilisatorischen Katastrophe der antiken Welt, die Gibbon so elegant beschrieb? Leider spricht vieles dafür, dass gerade dies der Fall ist.


Wolfgang Streeck, Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus, Berlin 2021, 538 S.

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