„Es ist das große Paradox dieser demokratischen Gesellschaft: Im Sturmwind tief greifenden Wandels verkümmert der politische Diskurs. Weil sie Stimmungen folgt statt Haltungen, versagt die politische Klasse.“ Wolfgang Herles hat sein Buch vor Angela Merkels „Ja, wir schaffen das!“ abgeschlossen. Die Entpolitisierung des Politischen durch ein unheilvolles Zusammenspiel von Medien und Politik zieht sich als roter Faden durch sein Vermächtnis am Ende seiner mehr als 40 Jahre beim Fernsehen. Das real existierende Öffentlich-Rechtliche Fernsehen macht sich selbst überflüssig, ist sein Fazit.
Im Schlusskapitel heißt es bei Herles weiter: „Die Große Koalition ist ein Regierungsbündnis und zugleich Sinnbild einer verlotterten Debattenkultur. Deutschland, eine doch ganz freie, offene Gesellschaft, erstarrt in Konformismus. Ein Mainstream wälzt sich auch durch das breite zentrale Tal der Demokratie. Doch ist die sich in moralinsaurer Selbstgefälligkeit suhlende Wohlfühlgesellschaft keineswegs in Glück und Zufriedenheit gebettet, sondern in Wahrheit verunsichert und von Zukunftsängsten gebeutelt. Der Konformismus ist nur der Lack, mit dem Medien und Politik diese Wagenburg vermeintlich wetterfest anstreichen.“
Die Quoten-Erbsenzähler wissen gar nicht, was sie zählen
Im Fernsehen, konstatiert Herles, wird wie in der Politik alles einem Ziel untergeordnet: der Quote. Es geht nicht um die beste Lösung, sondern um die vermeintlich beliebteste. Wie das Fernsehen ermittelt, was das Beliebteste ist? Die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) hat 5.640 deutsche Haushalte (10.500 Personen) mit GfK-Metern ausgerüstet. Herles: „Die Auserwählten müssen sich, wenn sie mit dem Fernsehen beginnen, es unterbrechen oder beenden, per Tastatur an- und abmelden. Die zuverlässige Handhabung kann nicht überprüft werden. Zweifellos beeinflusst die Teilnahme an diesem Verfahren das Sehverhalten … Seit einiger Zeit wird auch die Online-Nutzung erfasst, aber die Messungen sind noch unpräziser als die der Fernsehdaten.“ Unpräziser als unpräzis – geht das? Bei Herles weiter: „Als das Schweizer Fernsehen den Anbieter der Quotenmessung wechselte und damit auch die Methode, änderten sich die Quoten um rund 20 Prozent.“
Die TV-Programmgewaltigen treffen ihre Entscheidungen also im Wissensnebel. Aber was ihre Programme ausstrahlen, schlägt sich maßgeblich in den Meinungsumfragen nieder – und danach richtet sich die Politik – das Ergebnis nennt Herles: Populismus der Mitte. Noch Fragen?
Die Große Koalition hat eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag, aber große Probleme packt sie nicht an. Unser Autor zitiert Alfred Polgar: „Was in Berlin Stillstand scheint, ist näher besehen doch ein Marschieren.“ Herles‘ Folgerung: „Vielleicht liegt es an der deutschen Mentalität, dass Gleichschritt für wichtiger gehalten wird als die Richtung, in die marschiert wird, Hauptsache, es tanzt niemand aus der Reihe.“ Welche öffentlichen Figuren fallen jedem von uns da gleich ein? Sie können es ja posten.
Konformismus und Ausgrenzung
Neben anderen Gründen für den Konformismus, den eine Allparteien-Koalition in Berlin verlangt, nennt Herles einen besonders interessanten: „Offenbar kommt das Bedürfnis, sich dem Mainstream der Meinungen anzupassen, aus dem Verlust von Gewissheiten. Ängste wachsen, losgelöst von wirklichen Gefahren. Die Gesellschaft rückt emotional zusammen. Das fällt ihr leichter als früher, denn mit dem Ende der großen, die Welt teilenden ideologischen Konfrontation gibt es scheinbar keine politischen Lager mehr. Weltanschauung ist aus der Mode gekommen.“ Konformistische Gesellschaften gingen Konflikten aus dem Weg, ohne sie zu lösen: „Sie verengen den Diskurs.“ Beim Dresdner Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt fand Herles die Begrenzungen beschrieben: Ein „Kanon dessen, was an Betrachtungsweisen, Begriffen, Sprachformeln und Argumenten in Deutschland ‚geht‘ oder eben nicht ‚geht‘. Wer sich daran hält, darf am öffentlichen Diskurs teilnehmen. Wer sich gegen diesen Kanon vergeht, ist auszugrenzen“.
Im ersten Teil geht es Herles um die Wechselwirkungen von Medien und Politik im Spannungsfeld, das Niklas Luhmann beschäftigte: Einerseits wissen wir alles, was wir wissen, aus den Massenmedien. Andererseits wissen wir über die Massenmedien so viel, dass wir ihnen nicht trauen dürfen. Der zweite Teil handelt von der „Konformismusfalle“, der Entpolitisierung von Politik, also auch der „stilbildenden Methode Merkel“. Weshalb die Medien dem so wenig entgegenzusetzen haben, erklärt Herles im dritten Teil mit der „Seichtigkeitsspirale“ – auch mit dem tiefgreifenden kulturellen Wandel der digitalen Revolution.
Mit den folgenden Zitaten möchte ich Sie neugierig machen auf ein mehr als lesenswertes Buch. Nicht von vielen Büchern kann ich sagen: Offensichtlich leben der Autor und ich in derselben Welt. Das ist nicht mein tägliches Lese-Erlebnis.
- „Die Mittel der Politik und der gefallsüchtigen Medien entsprechen einander. Versimpeln, Personifizieren, Emotionalisieren. Damit tragen sie die Verantwortung am Verdruss über die Politik wie am Verdruss über die Medien.“
- „In der Katastrophe ist das Medium (TV) ganz bei sich. Das mediale Lagerfeuer versammelt das Volk zum großen Trauer-Powwow.“
- „Der englische Begriff ‚newsshow‘ kommt der Sache näher: Auch die Nachrichtensendung ist längst eine Show … Oft ist es eher die Präsentation der Nachricht als die Nachricht selbst.“
- „Selbst der frühere Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye findet, die Heute-show ‚liefere einen umfassenderen Blick auf die Welt als das Heute-journal‘“.
- „In Talkshows stehen meist nicht die Gäste im Mittelpunkt, sondern die Gastgeber … Journalisten stellen dar, informieren und kommentieren. Talkmaster sorgen für Stimmung in der Bude.“
- „Der Talkmaster versucht abzuwürgen, was länger als eine gefühlte Minute dauert. Es ist nicht nötig, dass jemand eine komplizierte Sache hinreichend erklärt. Gefragt ist die Fähigkeit der Zuspitzung. Wie jemand auftritt ist wichtiger als das, was er zu sagen hat. Rhetorik schlägt Kompetenz.“
- „Moralisieren ist die geläufigste und wohlfeilste Methode der Vereinfachung.“
- „Die Entrüstungsindustrie ist auf Skandale angewiesen … Hat die Medienmeute Blut geleckt, lässt sie sich nicht mehr einfangen.“
- „Vertreter unerwünschter Meinungen mundtot zu machen ist einer offenen Gesellschaft nicht würdig.“
- „Warum verehren viele Journalisten die Macht? Vom vermeintlichen Glanz der Mächtigen fällt ein Schein auf die, die sich in ihrer Nähe aufhalten dürfen.“
- „Die Gefallsucht der Medien und der Konformismus der Politik verursachen einen Populismus der Mitte, der für die Kreislaufschwäche der Demokratie verantwortlich ist.“
- „Die meisten Menschen ziehen Sicherheit der Freiheit vor. Sie lassen sich auf Flughäfen wie Vieh schikanieren und von ihrer Regierung zu Sozialstaatsuntertanen machen.“
- „Je mehr die Gesellschaft von den Fliehkräften des Wandels erfasst wird, desto fester klammert sie sich an vermeintliche Gewissheiten. Sie klammert sich gewissermaßen an sich selbst. Und wird so erst recht unbeweglich.“
Zu Wolfgang Herles‘ Buch passt, was er auf der Buchmesse notierte:
„Neue Zahlen bestätigen: Es wird weniger gelesen! Gegen diesen Trend ist die Branche machtlos. Es geht nicht um die Rettung des gedruckten Buches, es geht um die Verteidigung des Lesens als Fundament unserer Kultur. Wer kaum noch liest, weil überall, auch im Netz, Bewegtbild die Schrift verdrängt, verblödet allmählich. Lesen programmiert das Gehirn anders als Gucken … Mit dem Ende der Schriftkultur … verändern sich auch Gesellschaft und Politik, und das ist kein bildungsbürgerliches Schreckgespenst, sondern bereits heute in Deutschland zu besichtigen … Nur Texte lassen zu, die Dinge zu hinterfragen und zu reflektieren. Wo die Schriftkultur schwindet, schwindet das Niveau des Diskurses.“
Werte Leser, bitte helfen Sie bei der Rettung des Lesens und Schreibens.
Wolfgang Herles: Die Gefallsüchtigen. Gegen Konformismus in den Medien und Populismus in der Politik. Knaus 2015.