Tichys Einblick
Abendland am Scheideweg

Wolffsohn liest dem deutschen Bürgertum samtweich die Leviten: Zumindest prüfen sollten wir, wer zu uns kommt

Michael Wolffsohn, berufener Historiker und Publizist, hat eine neue „andere Jüdische Weltgeschichte“ vorgelegt, in der bisher sicher geglaubte Dogmen fallen. Etwa jenes, dass der historische Islam freundlicher mit Juden umgegangen sei als das Christentum. In Berlin sprach er über sein Buch und wurde einige unorthodoxe Aussagen los.

IMAGO / Uwe Steinert

Nach einem Interview mit der Berliner Zeitung, das man durchaus als furios bezeichnen kann, war der konservative jüdische Historiker Michael Wolffsohn am Donnerstagabend in der Vertretung des Freistaats Thüringen in Berlin zu Gast. Diese Landes-, eigentlich ja Freistaatsvertretung liegt (noch) an der Mohrenstraße in Berlins Mitte. Blickt man aus dem Fenster, dann sieht man die Bronzestatue des „Alten Dessauers“, Generalfeldmarschall unter Friedrich dem Großen und Sieger bei Kesselsdorf im Zweiten Schlesischen Krieg. Aber das sind nur ferne Erinnerungen an die Berliner Stadtgeschichte. Wieso und warum dieses Standbild dort steht, weiß heute fast keiner mehr. Nur die Rabenschwärze des gedunkelten Metalls fällt auf.

Innen begegnete ein Historiker seinem alten Duzfreund Benjamin-Immanuel Hoff und einem wahren Multitalent der Thüringer Linkspartei. Hoff ist seit 2014 Chef der thüringischen Staatskanzlei, daneben Europaminister und seit 2019 zusätzlich Beauftragter für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus bei der Landesregierung. Dass man als „Antisemitismusbeauftragter“ das benannte Phänomen nicht propagiert, sondern bekämpft, muss man in der Erfurter Landesregierung offenbar dazusagen; das tat Hoff auch in Berlin. Daneben ist er seit 2010 auch Honorarprofessor an der Berliner Alice-Salomon-Fachhochschule, was vielleicht eine gewisse Nähe zum einstigen Geschichtsprofessor an der Bundeswehr-Universität München erklärt, der Wolffsohn ist.

Inzwischen ist Wolffsohn mit ganzer Seele Publizist geworden und insofern eigentlich um keinen Streit verlegen, wie er gelegentlich selbst hervorhebt. Das schimmerte auch in dieser Veranstaltung durch, die sich an der Oberfläche relativ harmonisch gab. Wolffsohn scherzte, wurde gelegentlich etwas anzüglich – der Körper ist im Judentum kein Gegenstand der Scham – und teilte doch Grundlinien seines Denkens unaufdringlich mit.

Ungarn und Polen – und warum wir nicht wie sie sind

Man könnte sagen, Wolffsohn nutzt den Themenkomplex Judentum, jüdische Geschichte und Antisemitismus dazu, um auch bei Linken Einlass zu bekommen und ihnen dann in Engelszungen die Leviten zu lesen. Auch wenn ein Großteil der Anwesenden aus Wolffsohn-Fans oder Interessierten an seinem Buch bestanden haben dürften, entspricht das dem Resümee des Abends. Dem jüdischen Professor, der von der dreitausendjährigen Verfolgungsgeschichte seines Volkes (seit altägyptischen und babylonischen Zeiten) spricht, erlaubt man im Folgenden auch so manche eigentümliche Meinung.

Im Interview mit der Berliner Zeitung hatte Wolffsohn freilich schon den breitestmöglichen Teppich für die Akzeptanz seiner kritischen Zeitgenossenschaft in der deutschen Mehrheitsgesellschaft ausgerollt. In seinem Buch hatte er nämlich die Regierungen in Ungarn, Tschechien, Polen und der Slowakei – also des Visegrád-Quartetts – als judenfreundlicher bezeichnet als die der meisten anderen EU-Länder. Auf Nachfrage distanzierte er sich pflichtschuldig von den „Herren Orbán und Kaczyński oder der polnischen PiS“. Trotzdem stehen wir vor dem Rätsel, wie es diesen Herren besser gelingt, „ihre Juden zu schützen, als den lupenreinen westlichen Demokratien“ einschließlich Deutschland: „Wenn man in Budapest vor der Hauptsynagoge steht, gibt es dort keine Sicherheitsleute.“

Wolffsohns Antwort: „Ungarn ist ein autoritärer Staat, der mehr auf Sicherheit achtet. Dazu kommt die unterschiedliche Migrationspolitik.“ Sagte es und begrüßte doch im nächsten Satz den „ethisch-humanen Impetus der bundesdeutschen Migrationspolitik vor allem seit 2015“…, um im nächsten Satz wiederum zu bemerken, dass man dadurch einen „militanten Antijudaismus“ gleich mitimportiert habe. Diese felsenfeste Diagnose dürfe man nicht übersehen. Doch auch ein Wolffsohn wagt nicht den Sprung in den nächstbenachbarten Universalismus human-abendländisch-aufgeklärter Werte, der für Éric Zemmour, ebenfalls jüdischer Herkunft, geradezu selbstverständlich ist und ziemlich große Parallelen zur Politik der ostmitteleuropäischen Länder aufweist.

Oder sagt er am Ende nur dasselbe in einer anderen Sprache, der Sprache nämlich der neuen deutschen Bourgeoisie, die sich aufs „Humane“ verlegt hat und darüber den einzelnen Menschen manchmal vergisst? Den Deutschen schlägt er vor, die, die man aufnimmt, zumindest besser zu prüfen: „Seit dem 24. Februar gibt es in Deutschland ein Umdenken in Bezug auf die äußere Sicherheit. Wir brauchen auch ein Umdenken im Bereich der inneren Sicherheit.“

Nach Zion? Nur wenn’s brennt

In der Mohrenstraße wurde er etwas deutlicher. In Frankreich sei, wie allerdings bekannt ist, der jüdische Exodus nach Israel schon in vollem Gange. Ein Fünftel der französischen Juden habe dem Land bereits den Rücken gekehrt. In Deutschland stehe uns Ähnliches bevor, wenn die „verbale und körperliche Gewalt“ nicht abnehme. Gemeinsam ist seinen beiden Auftritten – im Zeitungsinterview und im Podiumsgespräch –, dass er die Zukunft trotz allen Vorwissens düster sieht: Denn diese Entwicklung scheint ihm auch in Deutschland schon vorbestimmt und nicht mehr aufhaltbar zu sein. Ähnlich sagte er gegenüber der Berliner Zeitung, dass der Staat Israel sich am Ende nicht halten werde, auch wenn die kriegerische Auseinandersetzung, in der er den jüdischen Staat untergehen sieht, noch in weiter Ferne liegen mag.

Und er relativiert auch alles das wieder, indem er sich selbst relativ fest im Diaspora-Judentum verwurzelt sieht, das liberaler sei als die in Israel einflussreiche Orthodoxie. Das ist gewissermaßen die allgemeine Achillesferse dieses aufgeklärten jüdischen Welt- und Geschichtswissenschaftlers. Er bevorzugt konsequent die „universalistische“ Tradition gegenüber jedem „Partikularismus“. Oder ist das wieder nur Teil des Entree-Billetts für die links-bürgerlichen Kreise? Vermutlich nicht nur. Der Universalismus erscheint Wolffsohn vermutlich als die einzige geistige Tendenz, in der einer wie er vorkommen kann.

Trotzdem spricht er ganz unbeschämt auch von der biologischen Dimension des Judentums, die manche als „jüdische Rasse“ ansprechen. Richtiger ist wohl die Rede vom Volk Israel, die man kaum besonders neu nennen kann. Wolffsohn findet es eine bedenkliche Entwicklung, wenn sich Menschen heute nicht trauen, gewisse Dinge deutlich auszusprechen.

Und natürlich haben sich die verschiedenen Völker auch schon in der mittelalterlichen Stadt vermischt, wie der Historiker sicher glaubt. Die Judengassen – mögen sie uns noch lange erhalten bleiben – lagen ja oft genug auf dem Weg zum Dom. Man begegnete sich also automatisch, damit ist für Wolffsohn die Argumentation abgeschlossen. Die Genetik scheint ihn zu bestätigen: Die Juden besitzen – so Wolffsohn – zwar auch ihnen eigentümliche Gene, daneben teilen sie aber auch jeweils DNS mit den Völkern, mit denen sie historisch koexistierten.

Auch ein Wolffsohn muss sich erst einmal trauen

Nun könnte diese trotz allem in vielen Teilen Europas erhalten gebliebene Kontinuität jüdischen Lebens also aufgrund einer verfehlten Zuwanderungspolitik aufhören. So das sanft ausgesprochene Menetekel Wolffsohns. Besonders fatal findet Wolffsohn in dieser Lage einen blinden Fleck der spezialisierten Geschichtswissenschaft. Das Schicksal der Juden unter dem Islam wird bis heute weithin, auch von ausgewiesenen Experten idealisiert. So raspeln auch ausgewiesene Spezialisten wie Bernard Lewis laut Wolffsohn Süßholz, wo es um das jüdische Leben im Nahen Osten geht. Wolffsohn glaubt auch nicht an eine besonders ideale Koexistenz von Juden und Muslimen im maurischen Al-Andalus. Eine relative Gleichgültigkeit habe es nur bis zum Jahr 1000 gegeben, bis sich die islamische Herrschaft auf der iberischen Halbinsel fest etabliert hatte.

Aber auch ein Wolffsohn musste sich erst einmal trauen, den Koryphäen der Islam-Forschung zu widersprechen und das Märchen vom judenfreundlichen Orient zu demontieren. Er schaute also extra genau in die Quellen und fand doch nichts außerordentlich Judenfreundliches in jenen Zeiten und an den besagten Orten.

Richtig interessant wurde es, als Wolffsohn auf eine „tagespolitische Konsequenz“ seiner Nachforschungen hinwies. Dem „neudeutschen“ Bürger, also vorzugsweise jenem mit muslimischem Kulturhintergrund, müsse man nicht mit der Shoah kommen, sagte er etwas berlinerisch flapsig: „Das geht ihn nüscht an.“ Das sei einfach nicht der Anti-Antisemitismus, der solche Jugendlichen pädagogisch erreichen könne. Viel nützlicher sei es da, die Geschichte des islamischen Antisemitismus mit in die Lehrpläne aufzunehmen. Das Publikum nahm es gelassen, vielleicht mit kleinem Erstaunen, hin. Genau das, könnte man vermuten, ist aber Wolffsohns heimliche Absicht: Der weitverbreiteten Indolenz in Bezug auf den muslimischen Antisemitismus das Wasser abzugraben.


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