Es gibt nicht viele Romane, bei denen man beim Lesen losprustet und der Schluck Kaffee wird zu Aerosol. Nein, es ist nicht so, dass Juli Zeh eine Humoreske geschrieben hätte, aber ihre Beschreibung der hippen jungen Berliner Paare in Zeiten von Corona und Klimapolitik ist großartig. Wenn Sie sich jemals über grünschnabelige Besserwisser – „Woke“ wie man heute zu sagen hat – und ihre besserwisserische Selbstgerechtigkeit geärgert haben: hier wird es fröhlich geschildert, abgrundtief böse, vorgetragen im freundlichen Ton einer Reportage, präzise und detailgenau.
Die Ich-Erzählerin hat ihren Geliebten an eine andere Frau verloren. Nun ja, das passiert nahezu in jedem Roman, wegen Liebe und Leid wurde dieses Genre erfunden. Aber bei Juli Zeh ist es eine ganz besondere junge Frau, die Liebe bleibt sehr platonisch und doch wird sie folgenreich.
»Dora ist mit ihrer kleinen Hündin aufs Land gezogen. Sie brauchte dringend einen Tapetenwechsel, mehr Freiheit, Raum zum Atmen. Aber ganz so idyllisch wie gedacht ist Bracken, das kleine Dorf im brandenburgischen Nirgendwo, nicht. In Doras Haus gibt es noch keine Möbel, der Garten gleicht einer Wildnis und die Busverbindung in die Kreisstadt ist ein Witz. Vor allem aber verbirgt sich hinter der hohen Gartenmauer ein Nachbar, der mit kahlrasiertem Kopf und rechten Sprüchen sämtlichen Vorurteilen zu entsprechen scheint.«
»Geflohen vor dem Lockdown in der Großstadt muss Dora sich fragen, was sie in dieser anarchischen Leere sucht: Abstand von Robert, ihrem Freund, der ihr in seinem verbissenen Klimaaktivismus immer fremder wird? Zuflucht wegen der inneren Unruhe, die sie nachts nicht mehr schlafen lässt? Antwort auf die Frage, wann die Welt eigentlich so durcheinandergeraten ist?
Während Dora noch versucht, die eigenen Gedanken und Dämonen in Schach zu halten, geschehen in ihrer unmittelbaren Nähe Dinge, mit denen sie nicht rechnen konnte. Ihr zeigen sich Menschen, die in kein Raster passen, ihre Vorstellungen und ihr bisheriges Leben aufs Massivste herausfordern und sie etwas erfahren lassen, von dem sie niemals gedacht hätte, dass sie es sucht.«
So führt der Klappentext zum neuen Roman von Juli Zeh, deren Debüt „Adler und Engel“ vor zwanzig Jahren erschien, zu einem Welterfolg wurde und mittlerweile in 35 Sprachen übersetzt worden ist. „Ganz nebenbei“ ist die immens produktive und erfolgreiche Autorin promovierte Juristin mit Schwerpunkt Europa- und Völkerrecht (sic!) und seit drei Jahren Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg. Lange habe ich das für einen Fehler gehalten, aber es scheint als nutze Zeh diese Berufung, um sich geistigen Freiraum zu schaffen. Deutschland ist längst in einer geistigen Lage, in der die Kritiker sich listig verhalten müssen – und aus dieser Not entsteht (zumindest in diesem Fall) große Literatur, die sich mit dem verordneten Zeitgeist raufen – oder ihn hintergehen muss.
Nun hat Juli Zeh den „ersten echten Corona-Roman“ (SZ) vorgelegt, auch wenn sehr rasch klar wird, dass sich die Autorin virtuos und mit erfrischender Unvoreingenommenheit aller ideologischen Vereinnahmungen und Verortungen entzieht. Und zwar so gekonnt, dass selbst die politisch strengste Gouvernante unter den deutschen Medien, die Süddeutsche Zeitung, sie lobt. Lassen Sie sich aber davon nicht abhalten.
Juli Zeh verteidigt die Menschen. Sie entideologisiert und taucht tief in die Herzen. Und am Ende ist das dann auch ein trauriger Roman, aber er macht es uns leichter, sie wieder richtig zu sehen, unsere diversen Nachbarn, ganz ohne gefärbte Brille.
Juli Zeh, Über Menschen. Roman. Luchterhand, Taschenbuch, 416 Seiten, 12,00 €