Tichys Einblick
Interview

Wir sind dabei, das Erbe Leonardo da Vincis zu verspielen

Am 2. Mai jährt sich zum 500. Mal der Todestag des großen Künstlers und Gelehrten. Roland Tichy befragt dessen Biographen Klaus-Rüdiger Mai nach Leonardos Geheimnis.

Roland Tichy: Mona Lisa lächelt betörend und schielt dabei, dazu ein Abendmahl, das längst zum religiösen Kitsch verkommen ist: Warum sollten wir etwas über Leonardo da Vinci lesen wollen?

Klaus-Rüdiger Mai: Allein schon deshalb, weil das „Abendmahl“ nicht zu religiösem Kitsch verkommen ist und es doch sehr die Frage ist, ob Mona Lisa lächelt und dann auch noch betörend? Ich gestehe, ich stehe nicht in der Schlange der Bewunderer der Mona Lisa, wenngleich dieses Porträt Leonardos persönlichstes Bild ist – und auf diese Weise großes Interesse erregt, führt es doch näher an LEONARDOS GEHEIMNIS.

Ich gebe Ihnen recht, dass auch durch die wirksamen Trivialitäten von Dan Brown Leonardos großartiges „Abendmahl“ mit religiösem Kitsch, historischem Zehntelwissen und einer stupenden Verschwörungstheoriensucht geradezu überschüttet wurde und – besäße es nicht diese künstlerische Qualität – sogar zugeschüttet worden wäre. Die Geschichte, die das Abendmahl wirklich erzählt, ist doch viel geheimnisvoller und viel spannender als diese auf dem Hinterhof der Verschwörungstheorien des 18. Jahrhunderts zusammengekehrten Versatzstücke.

Das Abendmahl ist ein Bild in Bewegung, eine Vorform des Films, eine Darstellung des Verrats. Was macht der Verrat mit Menschen, wie verhalten sie sich im Augenblicke des Verrats? Stehen sie zu dem Abtrünnigen, verlassen sie ihn heimlich oder distanzieren sie sich von ihm? Geht uns das Thema Verrat nichts mehr an? Verrat am Menschen, Verrat an den Gefährten, Verrat an einer Idee, Verrat an Bürgerrechten, Verrat an den Standards der Aufklärung, Verrat an Herkunft? Wie kleinlich und spießig sind dagegen die Spekulationen über Johannes als Maria Magdalena und die „Blutlinie“ und die Templer. Das ist doch eher die Ebene von „Fifty Shades of Grey“.  Nein, im Ernst: Im Abendmahl geht es um viel mehr, um Verrat und Zivilcourage. Ich möchte den Leser gern einladen, sich der Mühe zu unterziehen, das Bild zu entschlüsseln: es zu lesen. Übrigens spielt in diesem Gemälde, was gerade in der Gestalt des Johannes den Betrachter verblüfft wie übrigens auch bei der Mona Lisa, nicht das Thema der Homosexualität eine Rolle, sondern dass der Androgynität, was ein noch wenig beachtetes Thema der Theologie der Renaissance war. Eine Betrachtung von Leonardos Homosexualität, die nicht die Problematik der Androgynität auf der Rechnung hat, geht am Thema vorbei.

Wenn man all diese existentiellen und künstlerischen Gründe vernachlässigt, springt noch ein universeller Grund, sich mit Leonardo und seine Zeit zu beschäftigen, ins Auge. Leonardos Zeit kennzeichnete der große Paradigmenwechsel, der Weltenwechsel vom Spätmittelalter zur Neuzeit. In dieser Zeit des großen Umbruchs entstand unser modernes Europa, das heute wie zu Leonardos Zeiten vor einer großen und grundsätzlichen Veränderung steht. Die Dimension der Herausforderung in der Gegenwart ist noch viel zu wenigen bewusst, sie verschwindet hinter dem Rauch ideologischer Strohfeuer. Wir müssen aufpassen, dass diese Flammen nicht auf unsere Gewissheiten überspringen, denn sie suchen Nahrung.

Und ganz ehrlich, es bereitet ein riesiges Vergnügen, sich mit Leonardo, seiner Zeit, seinen Werken zu beschäftigen. Ich wünsche mir sehr, dass dieses Vergnügen auf den Leser überspringt.

RTY: Die generelle Leonardo-Begeisterung in Deutschland hat spürbar nachgelassen. War er zu sehr Techniker und Militäringenieur, um in der pazifizierten Gesellschaft noch die notwendige Wertschätzung zu erfahren?

KRM: Das setzt voraus, dass einem größeren Publikum, diese Seite Leonardos präsent wäre. Es ist eher, ein anderer Prozess zu beobachten. Zum einen stirbt das Bildungsbürgertum aus, Bildung selbst ist immer weniger ein Wert, und zum anderen wird Bildung suspekt. Wie man der FAZ entnehmen kann, gerät man bereits in AfD-Verdacht, wenn man sich seines Verstandes bedienen will, anstatt gläubig nachzuplappern, was die neuen „Interpretationseliten“ vorgeben. Vom Staatsbürger wird nicht mehr kritisches Denken, sondern blindes Vertrauen in die Institutionen erwartet. Gegen diese Vorstellung, dass jedem das entsprechende Wissen zugeteilt wird und er ansonsten den Autoritäten zu folgen hat, dagegen begehrten Leonardo und seine Zeitgenossen auf, wenn man nur an den großartigen Pico della Mirandola und den amüsanten Spötter Luigi Pulci denkt.

Anja Karliczek
Aber welchen Bildungsunterbau braucht eine Bundesbildungsministerin?
Der Bildungsverlust hat Methode. Im Fach Kunst erlebe ich, dass keine Kunstgeschichte mehr durchgenommen wird und keine Bildbeschreibungen geübt werden. Indem die Schüler nicht im Lesen von Bildern unterwiesen werden, werden sie zu piktographischen Analphabeten. Das wirkt sich umso verheerender aus, weil im digitalen Zeitalter gerade die Bildkultur im Vergleich zur Schriftkultur an Bedeutung gewinnt. Denken Sie nur an die vielen Emojis, um am unteren Ende der neuen Piktomanie anzufangen. In Geschichte fällt die Chronologie weg, stattdessen werden Themen wie Migration unterrichtet, wobei so unterschiedliche Phänomene wie die Einwanderung der Hugenotten nach Deutschland, die Flucht und Vertreibung mit dem Ausgang des Zweiten Weltkrieges und Merkels Flüchtlingspolitik seit 2015 nicht einmal mehr verglichen, sondern schlicht gleichgesetzt werden.

Schülern aber, denen weder Wissen vermittelt, noch ein Koordinatensystem erschlossen wird, die nicht mehr in der Lage sind, von sich, von ihren Meinungen und Gefühlen zu abstrahieren, sind leicht für Ideologien zu rekrutieren. Diese Selbstbezogenheit führt zu einem gesellschaftlichen Autismus, der ein Dekadenzphänomen ist. Ganz anders Leonardo, der geradezu getrieben ist von dieser ungeheuren Sehnsucht, der alles wissen will über die Natur, den Menschen, das Wasser, die Steine, den Flug der Vögel, der alles erkennen, bauen und konstruieren möchte. Malen ist für ihn keine eitle Selbstbespiegelung des Ichs, sondern ein Verfahren, den Geheimnissen der Welt auf die Spur zu kommen, eine cosa mentes, eine Sache des Geistes, des Verstandes. Im Malen erkennt Leonardo die Welt. Was man von Leonardo lernen kann: Bedingungslose und rastlose Neugier auf die Welt. Sich auf die Welt einzulassen.

RTY: Die Renaissance ist ja die Zeit, in der sich zumindest in Italien die Menschen aus der Enge des Mittelalters befreiten und mit dem Blick zurück auf die Antike einen ersten Blick nach vorne bis in die spätere Aufklärung und Moderne wagten. Passt Leonardo nicht mehr in die heutige Zeit, in der Wissenschaft eher kritisch betrachtet wird und die Aufklärung von Gruppen wie den Grünen geradezu abgelehnt wird, um einer Neuen Religiosität Platz zu machen?

KRM: Ich würde es nicht Religiosität nennen, sondern schlicht Aberglauben. Leonardo wäre gewiss kein Grüner. Die Grünen wären ja eher die von den deutschen Humanisten verspotteten Dunkelmänner (und heute natürlich auch Dunkelfrauen), die Obskuranten. Wir erleben in der Tat, einen Sturz in den Irrationalismus, eine grüne Antiaufklärung, ein Spießertum, von dem sich Leonardo abgewandt hätte, wobei erwähnt werden muss, dass Leonardo niemals politisch Stellung bezog, weil er es für aussichtlos hielt, denn die Menschen würden sich seines Erachtens ohnehin nicht bessern. Sie waren und bleiben Bestien. Sein Menschenbild war pessimistisch oder realistisch – das liegt im Auge des Betrachters.

Deshalb auch das Abendmahl. Alle seine Bilder, selbst die Porträts erzählen Geschichten. Ihnen gehe ich in der Biographie nach, ich höre Leonardo zu. Er löst sich deutlich von der gängigen Ansicht über die Bilderzählung seiner Zeit und findet vollkommen neue Formen und Dramaturgien, nicht Ereignisse, sondern Geschichten zu erzählen. Das ist beeindruckend. Und der Weg dorthin hat ihm einiges abverlangt.

RTY: Wäre Leonardo auf eine Freitagsdemo von Greta gegangen oder wäre er Klimaskeptiker geworden? 

Greta macht alle verrückt
Ist Greta doch die falsche Prophetin? Hüpfen für Kernenergie.
KRM: Er wäre schon allein deshalb nicht hingegangen, weil er es für Zeitverschwendung gehalten hätte. Außerdem hasste er es, in große Menschengruppen hineinzugeraten, allein schon aus hygienischen und olfaktorischen Gründen. Vor allem aber hätte Leonardo nicht demonstriert, sondern geforscht. Er hätte die Thesen der Klimaideologie einer wissenschaftlichen Überprüfung unterzogen und entsprechend seiner Ergebnisse versucht, Lösungen zu finden. Er hätte über Antriebsarten nachgedacht und Ideen zu Papier gebracht, wie er ja auch zu seiner Zeit Fluggeräte und Panzerwagen konstruiert hatte. Leonardos technisches Interesse ist beeindruckend, wenngleich nicht einzigartig. Mit Sicherheit hätte er keine abstrakten Forderungen in die Welt hinausgerufen, das wäre ihm närrisch vorgekommen.

Leonardo zeichneten zwei Leidenschaften aus, zu erkennen, „was die Welt/im Innersten zusammenhält“ und Lösungen für Probleme zu finden. Ein Lehrbeispiel hierfür findet sich in seinen Bemühungen, ein 7 m hohes Reiterstandbild aus Bronze herzustellen. Doch für die Herstellung dieses Kolosses existierten keine Gusstechnologien, so dass er sich mit diesem Problem solange auseinandersetzte, bis er eine Technologie entwickelt hatte. Wie das geschehen und zu welchem erstaunlichen Ergebnis er gekommen ist, erfahren Sie im Buch.

RTY: Sie beschreiben, wie er nachts und ohne Gummihandschuhe Leichen sezierte, um seine anatomischen Kenntnisse zu perfektionieren. Wie weit ist er Maler und wieweit war seine Gemälde gewissermaßen “nur“ ästhetische Abbildungen seiner naturwissenschaftlichen Erkenntnis?

KRM: Das kann man nicht voneinander trennen. Die Sektionen vermittelten ihm Einsichten über die Prozesse, die ablaufen, wenn sich ein Mensch bewegt. Diese Kenntnisse über das Zusammenspiel von Knochen, Muskeln und Sehnen benötigte er, wenn er einen Menschen in Bewegung zu malen gedachte. Darüber hinaus besitzen diese Zeichnungen einen hohen ästhetischen Wert, sind zugleich Kunstwerk und Abbildung. So ganz nebenbei setzte Leonardo hier auch Maßstäbe für wissenschaftliche Abbildungen. Es gab ja noch keine Photographie – und auch sehr lange nach ihm noch nicht. Er leistete hier Hervorragendes für die Wissenschaftskommunikation, indem er Standards setzte.

RTY: Im Bild „Madonna Benois“ hat Maria Zahnlücken, ihre Hand ist nicht sauber ausgeführt sondern wirkt wie die einer alten Frau – aber faszinierend ist für den Betrachter, wie das Jesuskind eine Blüte fixiert, so faszinierend, dass die offensichtlichen Mängel des Bildes nicht mehr bemerkt werden – manche Wissenschaftler vermuten, dass da Vinci dem kindlichen Entwicklungsstadium auf der Spur war, wonach Kinder erst ab einem bestimmten Alter tatsächlich Gegenstände optisch in den Blick nehmen können. Eigentlich ein Lehrbuch in Öl der Augenheilkunde. 

KRM: Diese Sujets „Maria mit dem Jesuskind“, „Verkündigung an Maria“, „Kreuzigung“, „Die Anbetung der heiligen drei Könige“ usw. waren Standardmotive, die immer und immer wieder gemalt wurden – und im Gegensatz zur Gegenwart kannten alle Betrachter die Geschichten, die diese Bilder erzählten. Die Leute wollten diese Standardszenen neu dargestellt sehen, das machte das Ansehen eines Malers aus, die Innovation des Vorgegebenen. Und Leonardo versuchte nicht ferne Heilige, sondern wiedererkennbare Menschen zu schaffen – in ihren Entwicklungsphasen. Da stimme ich Ihnen zu. Sein Anspruch war, dass das, was er malte, auch stimmte. Er wollte nicht Wirklichkeit erfinden, sondern finden.

RTY: In einer aktuellen Rezeption wird er als Homosexueller gefeiert, dessen unterdrückte Sexualität sich in künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen umgesetzt habe. Ist er ein Opfer seiner Zeit?

Wer seine Kultur verleugnet, verleugnet sich selbst.
Rohani und die Nackten von Rom
KRM: Leonardos Opferstatus hätten wir wohl alle gern. Er lebte in großer Freiheit. Sieht man von einer Denunziation ab, die ihm keine Verfolgung eintrug und im Sande verlief, hatte er mit seiner Homosexualität keine Probleme. Das Mittelalter war erstens nicht dunkel und zweitens viel offener und freier, als man es sich heute vorstellt. Zwar war Homosexualität verboten, doch wurde sie nur verfolgt, wenn jemand ein Interesse an der Strafverfolgung hatte und die Macht besaß, diese auch ins Werk zu setzen. Leonardo konnte sich in Florenz, in Mailand, in Venedig inmitten seiner Schülerschar zeigen, öffentliche Auftritte zelebrieren, die keinen Zweifel daran ließen, in welchem Verhältnis er zu den jungen Männern stand. Alles, was wir mit dem Mittelalter verbinden, Folter, Verfolgung der Homosexualität, Ketzer- und Hexenverfolgungen in großem Ausmaß ist nicht Mittelalter, sondern Neuzeit. Die Folter stand Pate für unser modernes Rechtssystem.

RTY: In ihrem Buch erfährt man viel über die glanzvollen und gleichzeitig mörderischen Jahre der Renaissance in Italien. Noch mal: Gemessen daran – in welchem Zeitalter befinden wir uns heute: vor oder nach Leonardo?

KRM: Eindeutig in Leonardos Zeitalter. Wir sehen, wenn wir nicht die Augen davor verschließen, die großen gesellschaftlichen Umbrüche wetterleuchten. Im hohen Mittelalter lagen hinsichtlich politischer Bedeutung, wirtschaftlicher Kraft, Wissenschaft, Philosophie und Dichtung der Orient und der Okzident gleichauf. Doch die Renaissance und die Reformation verliehen unserem Kontinent einen Impuls, der eine Entwicklung in Gang setzte, die zum Aufstieg Europas in der Welt führte und unsere Welt schuf. Wir sind dabei, dieses Erbe zu verspielen, wir sind, da wir über Leonardo reden, dabei, Leonardos Erbe zu verspielen. Es ist Zeit, einen neuen Aufbruch zu wagen.

Klaus-Rüdiger Mai, Leonardos Geheimnis. Die Biographie eines Universalgenies. Evangelische Verlagsanstalt, 432 Seiten, 25,00 €.


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