In der »Gaststätte zum Flugplatz« am Rande unseres Viertels hing über dem Tresen ein poliertes Messingschild mit einem Sinnspruch, den ich nie ganz verstand, wenn wir jeden zweiten Sonntag dort essen gingen. Mir erschloss sich schon nicht, was der Name der Wirtschaft zu bedeuten hatte, denn es befand sich weit und breit kein Flugplatz in der Nähe. Allerdings war der Betreiber Georg Strobel, den alle nur den »Schorsch« nannten, ein begeisterter Modellflugzeugsammler, was man an den zahlreichen Exponaten im urigen Gastraum sehen konnte und was die Benennung vielleicht erklärte.
Das Schild aber ergab für mich wirklich keinen Sinn. Auf ihm war zu lesen: »Wer nichts wird, wird Wirt«, aber das stimmte in meinen Augen überhaupt nicht. Herr Strobel konnte herausragend kochen, sieben Pils parallel zapfen, nebenher bedienen und auch noch blitzschnell kopfrechnen. Und er war, zumindest erzählte das mein Vater, in seinem früheren Leben seit seinem 15. Lebensjahr Fliesenleger gewesen, bevor seine Knie kaputtgingen und er sich als Gastronom selbstständig machte.
Der Mann hatte also einiges auf dem Kasten und sogar etwas Anständiges gelernt. Und er sorgte an sechs von sieben Wochentagen von 10 Uhr morgens bis tief in die Nacht dafür, dass jeder seiner Gäste satt, zufrieden und häufig auch etwas angesoffen wieder nach Hause ging.
In der Politik sind, zumindest auf höherer Ebene, derartige Laufbahnen eher selten anzutreffen. Also Menschen, die idealerweise eine Ausbildung absolviert sowie einen normalen Beruf erlernt haben und sich nebenher politisch engagieren, bis sie es irgendwann in den Bundestag schaffen oder in ein Landesparlament. In der aktuellen Legislaturperiode haben fast 80 Prozent aller deutschen Abgeordneten stattdessen eine teils recht ausdauernde akademische Karriere hinter sich: Die meisten von ihnen sind Juristen, Wirtschafs- und Politikwissenschaftler, aber es finden sich auch noch sagenhafte 150 weitere Studiengänge in den Lebensläufen unserer Parlamentarier. Studierte Fliesenleger sind eher nicht dabei. Und unstudierte schon gar nicht.
Niemand würde doch auf die tollkühne Idee kommen, einen diplomierten Soziologen mit der Reparatur eines defekten Spülklosetts zu betrauen oder einen promovierten Germanisten anzurufen, wenn der Wagen mit einem Kolbenfresser liegen bleibt. Aber wenn’s um unsere Volksvertreter geht, zählen Kompetenz und Sachverstand plötzlich gar nicht mehr.
In unserem Plenum sitzen derzeit gerade mal zehn Unternehmer, fünf Krankenpfleger, vier Erzieher, vier Landwirte und eine einzige Altenpflegerin – dafür aber massenhaft Anwälte, Beamte oder Bankkaufleute. Zwar können sich sogar solche Menschen möglicherweise durchaus in komplizierte Sachverhalte einarbeiten. Mir wäre aber wohler dabei, die fachliche Expertise gerade in sensiblen gesellschaftlichen und ökonomischen Bereichen wie der Kinder- und Altenversorgung, der Agrarwirtschaf, dem Handwerk oder dem Gesundheitswesen wäre etwas stärker ausgeprägt.
Das Medizinstudium unseres Gesundheitsministers Karl Lauterbach zählt hier übrigens nicht, denn dieser Mann hat keinen Tag als niedergelassener Arzt verbracht oder in einem Krankenhaus gewirkt, sondern sich lieber in der Forschung aufgehalten, Studien gelesen und Aufsätze veröffentlicht. Das ist selbstverständlich nicht verwerflich, aber dass Theorie und Praxis bisweilen sehr weit auseinanderklaffen, hat man an Herrn Lauterbachs Verhalten während und nach der Corona-Pandemie gemerkt. Jemand, der sich schon vor einer Prise Salz im Essen vor Angst in die Hose macht, hätte man vielleicht nicht unbedingt mit unserem angeschlagenen Gesundheitssystem betrauen sollen – auch wenn er sich durch das jahrelange Belagern sämtlicher Talkshowformate in den Augen seines Kanzlers dafür qualifiziert haben mag.
Aber wer sich gleich nach der wirtschaftlichen Krisenzeit der Pandemie einen Wirtschafsminister gönnt, der nicht einmal zu verstehen scheint, was eine Unternehmenspleite wirklich bedeutet, der braucht sich nicht zu wundern, wenn auch auf anderen politischen Feldern geistige Insolvenz angemeldet wird. Aber vielleicht ist Robert Habeck gar nicht naiv, sondern hat nur aufgehört, nachzudenken.
Immerhin hat er in seinem früheren Leben als Schriftsteller Geld vereinnahmt, das ihm nicht die öffentliche Hand ausbezahlte. Das unterscheidet ihn schon mal von vielen seiner Kolleginnen und Kollegen. Familienministerin Lisa Paus beispielsweise hat nach ihrem insgesamt elfjährigen Studium für einen Europaabgeordneten gearbeitet, bevor sie in den Bundestag gewählt wurde. Auch Bauministerin Clara Geywitz wirkte nach der Uni bei einem brandenburgischen SPD-Landtagsmitglied, ehe sie selbst politische Karriere machte. Kanzleramtsleiter Wolfgang Schmidt folgte nach einer kurzen Dienstzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Uni Hamburg seinem Chef Olaf Scholz schon seit dessen Generalsekretärszeiten. Arbeitsminister Hubertus Heil war parallel zu seiner Studienzeit ab 1994 Mitarbeiter gleich zweier Parlamentarierinnen, bevor er 1998 seinerseits in den Bundestag gewählt wurde. Und Außenministerin Annalena Baerbock hat neben Hörsälen und den Redaktionsräumen der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, wo sie neben ihrer Hochschulzeit als freie Mitarbeiterin jobbte, auch nur Parlamentsbüros und Fraktionssäle der Grünen gesehen. Das alles ist freilich keinesfalls ehrenrührig – aber mit dem wahren Leben und seinen vielfältigen Herausforderungen haben solche Karrieren eher nicht so viel zu tun.
Anstatt uns ohne belastbares reales Wissen die Welt zu erklären, wäre es in diesem Zusammenhang doch schön, wenn ein selbst ernannter Migrationsexperte, der uns permanent einredet, wie unsere Willkommenskultur zu funktionieren hat, mal in einer Brennpunktschule einer deutschen Großstadt unterrichtet hätte. Oder wenn mit der Finanzgesetzgebung betraute Staatssekretäre zuvor beim Erstellen der Steuererklärung eines mittelständischen Betriebs mitgeholfen hätten. Oder wenn ein Energiepolitiker wenigstens ein Praktikum bei einem Grundversorger durchlaufen hätte, wo ihm idealerweise gezeigt worden wäre, woher unser Strom kommt, wenn kein Wind weht und keine Sonne scheint.
Weder einen Abschluss noch eine ordentliche Ausbildung kann auch die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang vorweisen, die sich dafür seit ihrem 18.Lebensjahr in ihrer Partei engagiert – was dafür ausreichen muss, wöchentlich fundierte Verbesserungsvorschläge für unser aller Alltag auszustoßen. Auch solche Äußerungen erzeugen übrigens CO2, aber das ist ganz sicher noch das geringste Problem.
Friedrich Merz hingegen hat zwar den Steuerzahler in seiner Eigenschaft als öffentlich bestellter, hoch dotierter Berater beim einst geplanten Teilverkauf der WestLB an einen privaten Investor ebenfalls eine Menge Geld gekostet – er soll damals einen Tagessatz von 5000 Euro aufgerufen haben. Aber immerhin hat er durch die Besteuerung seines üppigen Einkommens als Aufsichtsratsvorsitzender des Finanzinvestors BlackRock, im argwöhnischen Volksmund auch kleingeistig als »Heuschrecke« diffamiert, wieder einiges davon eingespielt. Trotzdem befürchte ich, dass jemand, der mit dem eigenen Privatflugzeug zur Hochzeit eines Kollegen einfliegt, mit den Problemen von Otto Normalverbraucher unter Umständen nicht ganz so vertraut ist. Vielleicht täusche ich mich aber auch, und Frau Merz schickt ihren Gatten am Samstag wenigstens zum Wochenendeinkauf bei Netto (es war ja auch zu hören, dass er manchmal sogar selbst seine Hosen bügelt, aber das kann auch ein bösartiges Gerücht sein).
Unserem Stammwirt Schorsch Strobel, der Kohlrouladen machen konnte wie kein Zweiter, waren Politiker jeglicher Couleur immer suspekt, und hätte es damals den Begriff schon gegeben, wäre er höchstwahrscheinlich so etwas ähnliches wie ein Querdenker gewesen. »Nicht das Erreichte zählt, das Erzählte reicht«, lachte er immer, wenn am Stammtisch nach vier oder fünf Bieren die Sprache auf Helmut Kohl, Franz Josef Strauß, Willy Brandt oder Hans-Jochen Vogel kam. Trotzdem hätte er für seine Leistungsbilanz posthum das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen müssen.
Denn nach ungefähr 55 Jahren sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung ist der Schorsch Ende der Neunzigerjahre eines Abends nach Schankschluss hinter seinem Tresen einfach umgekippt und mit knapp 70 an einem Herzinfarkt gestorben, ohne netterweise die Rentenkasse weiter zu belasten. Vermutlich hatte er sich, man kann es bedauerlicherweise nicht anders sagen, zu Tode gearbeitet. Das immerhin kann den meisten unserer heutigen Politiker zum Glück nicht passieren.
Kapitel von Andreas Hock aus:
Monika Gruber/Andreas Hock, Willkommen im falschen Film. Neues vom Menschenverstand in hysterischen Zeiten. Piper Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag, 240 Seiten, 22,00 €.