Tichys Einblick: Herr Schlarmann, bis 2013 waren Sie Vorsitzender der einflussreichen Mittelstandsunion. Sie saßen auch lange im CDU-Vorstand. Wie nehmen Sie die Entwicklung wahr?
Josef Schlarmann: Das ist eine Treppe nach unten. Die Schritte weg von der Marktwirtschaft begannen langsam und wurden allmählich immer größer.
In Ihrem Buch „Die Magie vom Wohlstand“ erzählen Sie die Geschichte vom wirtschaftlichem Aufstieg Deutschlands im 19. Jahrhundert – und seinem Abstieg in der Gegenwart. Und Sie schildern auch sehr detailliert, wie Sie als Mitglied der Parteiführung die Ära Merkel erlebten. Wann begann eigentlich die Abwendung von marktwirtschaftlichen Prinzipien in der deutschen Politik? Mit der Finanzkrise 2008, mit der Griechenland-Rettung?
Wenn man den Bruch mit wesentlichen marktwirtschaftlichen Prinzipien beschreiben will, muss man noch deutlich weiter zurückgehen: bis zum Beginn der rot-grünen Koalition 1998. Schon damals verfolgten die Grünen ein klares Interventionskonzept mit mehreren Strängen: Zum einen das, was damals mit dem Etikett „ökologische Steuerreform“ begann, also die Verteuerung der fossilen Energieträger, zum anderen der Ausstieg aus der Atomenergie und die Subventionierung der erneuerbaren Energien.
Das fiel zunächst öffentlich nicht so auf, weil diese Politik von einer Auseinandersetzung innerhalb der SPD überlagert wurde: der zwischen Kanzler Gerhard Schröder, der sich als „Genosse der Bosse“ sah, und Finanzminister Oskar Lafontaine, der eine sehr gewerkschaftsorientierte Politik verfolgte. Im Schatten dieser Auseinandersetzung konnten die Grünen ihre Vorstellungen gleich am Anfang gut durchsetzen. Atomausstieg und Förderung von Solar- und Windkraft, wie Umweltminister Jürgen Trittin sie wollte, blieben bis zum Ende von Rot-Grün 2005 die bestimmenden Themen.
Wenn wir die Regierungschefs seit 1998 vergleichen – kann es sein, dass Schröder wirtschaftspolitisch der traditionellste und auch am ehesten marktwirtschaftlich orientierte von den dreien war?
Das auf jeden Fall. Klimapolitik interessierte ihn nicht. Auch die Förderung der erneuerbaren Energien hat er mit Sicherheit nicht besonders ernst genommen. Er dachte in Kategorien von Öl und Gas. Ganz klassische Industriepolitik zu betreiben und die damals noch hohe Arbeitslosigkeit abzubauen – das war sein Ehrgeiz.
Zunächst einmal hatte es den Anschein, als würde Angela Merkel daran anknüpfen – und nicht an die politischen Vorstellungen der Grünen.
Außerdem hatte sich schon vor 2005 in der CDU unter der Bezeichnung „Pizza-Connection“ eine Gruppe junger CDU-Politiker zusammengetan, die politische Beziehungen zu den Grünen aufbauten. Als Merkel dann Kanzlerin wurde, kam diese Truppe sofort nach oben. Und man darf nicht vergessen: Schon sehr früh tauchte in einem Papier des Wissenschaftlichen Beirats des Umweltministeriums die Idee von der „Transformation“ der Gesellschaft auf, notfalls gegen die Mehrheit der Bevölkerung, um die Welt zu retten.
In Ihrem Buch schildern Sie diese Veränderungen als sehr allmählichen Prozess.
Merkels Kanzlerschaft teilt sich im Rückblick in vier Abschnitte, die den jeweiligen Legislaturperioden entsprechen. Die erste Periode war geprägt durch ein Vortasten. Sie merkte spätestens in der Finanzkrise 2008, als es in der SPD und auch in der CDU den Ruf nach sehr viel mehr staatlicher Intervention und Wirtschaftslenkung gab: Ich stoße in der Partei auf gar keinen so großen Widerstand. Das nutzte sie gnadenlos aus. In der zweiten Periode hat sie dann auf europäischer Ebene das deutsche Stabilitätsmodell aufgegeben.
In dieser Zeit, die als „Eurokrise“ in die Geschichte einging …
Das war keine Euro-, sondern eine Staatsschuldenkrise. Die Finanzmärkte hatten damals die Südländer in der Bonität herabgestuft, was bedeutete, dass sie höhere Zinsen für ihre Anleihen zahlen mussten. Aber es herrschte damals – auch in der CDU-Führung – die Meinung, dass es nicht ginge, wenn verschiedene Euroländer unterschiedliche Zinsen zahlen müssten. Es begann die sogenannte Eurorettungspolitik. Und dafür wurde alles über Bord geworfen, was Kohl vorher in die Europäischen Verträge hineinverhandelt hatte. Die CDU hatte ja ihren Wählern das Versprechen gegeben, dass kein Eurostaat für die Schulden eines anderen haften würde. Das galt plötzlich nicht mehr.
Wie lässt sich dieser schnelle Meinungsumschwung erklären?
Das wurde alles überdeckt von dem beherrschenden Motto: „Wir wollen gute Europäer sein“.
Zunächst meinte Merkel – zumindest in der Öffentlichkeit –, Griechenland müsse seine Probleme durch einen strikten Sparkurs selbst lösen. Wann und wie fand ihre Wende statt?
2010 kam der damalige griechische Premierminister Giorgos Papandreou nach Berlin und bat Merkel um den erforderlichen Beistand. Nach dem Gespräch erklärte er: „Wir wollen keinen einzigen Cent von Deutschland.“ Und Merkel bekräftigte: „Es geht nicht um Hilfszusagen, sondern um gute Beziehungen zwischen Athen und Berlin.“
Merkels Argument würde heute wahrscheinlich lauten: Mag sein, dass das alles gegen die damaligen Regelungen verstieß, aber Griechenland blieb im Euroraum – und die Sache ist längst Vergangenheit.
Man darf nicht vergessen, dass sich als Reaktion die AfD gründete.
Wie konnte Merkel das eigentlich gegenüber der CDU durchsetzen? Sie selbst hatte schließlich kurz vorher noch in der Griechenland-Schuldenfrage ziemlich genau das Gegenteil verkündet.
Das ist bis heute das große Rätsel für mich: Wie konnte die CDU das alles mitmachen? Ich kann das nur mit dem Herdentrieb erklären: Wenn die Führung in eine bestimmte Richtung marschiert, marschieren die meisten Abgeordneten hinterher, weil sie befürchten, sonst auf der Strecke zu bleiben.
Als es um die „Griechenland-Rettung“ ging, gab es allerdings einen sehr prominenten Christdemokraten, der öffentlich gegen die Hilfen plädierte: Wolfgang Schäuble, immerhin die wichtigste Figur in der Partei nach Merkel. Sein Ausspruch „isch over“ ist sogar in den allgemeinen Sprachschatz eingegangen.
Griechenland ist ein gutes Beispiel dafür, dass Schäubles Durchsetzungsfähigkeit unter Merkel überschätzt wurde. Er hat gelegentlich eine Durchsetzungskraft vorgespiegelt, die es in der Realität so nicht gab.
Merkels dritte Regierungsperiode war vom Atomausstieg geprägt. Auch diese Kehrtwende machte die Partei fast geräuschlos mit. Warum?
Im März 2011 glich die Parteizentrale einem Hühnerhaufen – nicht wegen des Atomunfalls in Fukushima, sondern wegen der bevorstehenden Landtagswahl in Baden-Württemberg. Durch Fukushima standen die Grünen bei über 20 Prozent. Seit Adenauer hatten alle Kanzler bis zu Schröder auf Atomkraft gesetzt. Helmut Schmidt stand deshalb unter einem erheblichen Druck, auch aus seiner eigenen Partei, und hatte diesem Druck standgehalten. Und Merkel verkündete den Ausstieg aus der Kernkraft, um eine Landtagswahl zu retten.
Wenn man so ein hohes Amt innehat, dann muss man sich bei großen Entscheidungen fragen: Dient das dem Land, dient es der Partei – oder dient es nur mir? Unter diesem Gesichtspunkt hat Merkels Kanzlerschaft eine sehr fragwürdige Bilanz hinterlassen.
Merkels Regierungsjahre ab 2015 waren sehr stark von der Migration geprägt. In der CDU-Basis rumorte es damals durchaus. Wie haben Sie das im Bundesvorstand erlebt?
Das heißt, im Vorstand der Regierungspartei wurde eigentlich gar nicht mehr politisch diskutiert?
Ja, so war es. Das entsprach allerdings nicht dem Bild eines Politikers, das ich mir vorgestellt hatte.
Wie kam es zu dieser Entwicklung? Hört man sich unter Veteranen der Kohl-Zeit um, dann gab es zu dessen Zeiten durchaus noch Kontroversen im Führungsgremium – und das, obwohl Helmut Kohl ja nicht als Verfechter des herrschaftsfreien Diskurses galt.
Die politische Entscheidungsfindung ist insgesamt sehr viel technischer und detaillierter geworden. Heute fallen Entscheidungen kaum noch grundsätzlich als Ja oder Nein in einer zentralen Frage, sondern es kommen von vornherein nur noch Kompromisse zustande. Diese Entwicklung liegt wahrscheinlich auch daran, dass Abgeordnete heute nicht mehr das Standing ihrer Vorgänger haben.
Sie gehörten zu den wenigen Führungsleuten der CDU, die Merkel in der Griechenland- wie auch in der Energiepolitik öffentlich widersprachen. Es war also durchaus möglich, sich zu artikulieren.
Eben weil es in zentralen Fragen keine offenen Debatten und Entscheidungen gab, bin ich mit meinen Wortmeldungen öfters an die Presse gegangen. Ich bin dafür kritisiert worden – aber mir blieb keine andere Möglichkeit.
Haben Sie in Ihrer Zeit als Chef der Mittelstandsunion und Vorstandsmitglied einmal mit Merkel direkt diskutiert beziehungsweise gestritten?
Ich habe während meiner Zeit in Führungspositionen keine einzige Diskussion mit Merkel mit offenem Visier erlebt. Das lag vermutlich daran, dass sie aus ihrer Vergangenheit gar keine offenen Diskussionen kannte.
Gab es nie ein Gespräch unter vier Augen?
Doch. Sie hat mich einmal zu einem Gespräch zum Thema Unternehmensbesteuerung eingeladen. Sie interessierte sich dabei gar nicht so sehr für die große Linie, dafür aber umso mehr für Details.
In der Wirtschaft nennt man das Mikromanagement.
Heute können sich die Grünen in der Regierung auf vieles berufen, was Merkel schon vorbereitet hatte. Saß in den vier Jahren bis 2021 eigentlich schon eine Grüne im Kanzleramt?
Für Merkel war die vierte Legislaturperiode die entscheidende. In dieser Phase hat sie das Konzept für die grüne Transformation ausarbeiten lassen. Den Kern bildeten CO2-Budgets für einzelne Wirtschaftssektoren und planwirtschaftliche Vorgaben, bis wann wie viel CO2 reduziert werden sollte. Damit wollte sie offensichtlich sagen: Das ist mein politischer Nachlass, jetzt kann ich mich verabschieden und weiß Deutschland auf dem richtigen Transformationspfad.
Robert Habeck ist sozusagen ihr politischer Erbe?
Ihr Erbe – und gleichzeitig die Galionsfigur dieser Transformation.
Gibt es aus Ihrer Sicht überhaupt noch eine Chance, den Transformationsprozess zu einer politisch gelenkten Wirtschaft zu stoppen?
Ich bin da gar nicht so pessimistisch. Erstens hat das Bundesverfassungsgericht dem Schuldenwahn mit seinem Urteil ein Ende gemacht. Es ist also nicht mehr so einfach möglich, Steuermilliarden für die Subventionierung bestimmter Industrien auszugeben. Zweitens rechne ich damit, dass das Verbrennerverbot auf EU-Ebene fällt.
Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hat bekanntlich erklärt, Ursula von der Leyen bei ihrer Kandidatur für eine zweite Amtszeit als Präsidentin der Kommission zu unterstützen – aber nur unter der Bedingung, dass sie das Verbrennerverbot aufgibt. Und flexibel, wie sie ist, wird sie das wohl auch tun. Außerdem habe ich den Eindruck, dass kritische Stimmen in der Öffentlichkeit zunehmen. Die Stellungnahme des Bundesrechnungshofs zur Energiewende ist ein Beispiel.
Wie blicken Sie auf die Entwicklung in Ihrer eigenen Partei?
Die CDU ist heute noch nicht vollständig auf Merz-Linie. Vor allem auf Landesebene gibt es noch viele Politiker, die durch die Merkel-Zeit geprägt worden sind. Auch nach der letzten Bundestagswahl haben Merkelianer wichtige Posten unter sich verteilt. Nach der nächsten Bundestagswahl wird es aber in der Fraktion eine neue Besetzung geben. Der Einfluss von Merkel wird dann größtenteils vorbei sein.
JOSEF SCHLARMANN Jahrgang 1939, studierte Jura und Volkswirtschaft und promovierte 1971 über das staatspolitische Thema „Die Zusammenarbeit zwischen Staat und Wirtschaft“. 1972 machte er sich als Rechtsanwalt selbstständig. Nach weiteren Zusatzqualifikationen als Steuerberater und Wirtschaftsprüfer gründete er mit anderen Gesellschaftern die Kanzlei Schlarmann von Geyso. Von 2005 bis 2013 war Schlarmann Bundesvorsitzender der Mittelstandsvereinigung der CDU.
Josef Schlarmann, Die Magie vom Wohlstand. Eine Zeitreise durch Deutschlands Wirtschaftspolitik. Lau-Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 568 Seiten, 35,00 €
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