Erich Fromm, am 23. März 1900 in Frankfurt am Main geboren, gehört wie viele Deutsche jüdischen Glaubens zu jenen Denkern, die der nationale Sozialismus schon unmittelbar nach 1933 aus ihrem Heimatland vertrieb und die deshalb dem späteren Massenmord nicht zum Opfer fielen. Dem Zeitgeist folgend, verstand er sich selbst dennoch und trotz seiner unmittelbaren Kritik an jeglichem Kollektivismus als Anhänger eines demokratischen Sozialismus – verkennend, dass jeglicher Sozialismus das Ziel verfolgt, aus dem selbstbestimmten Individuum ein fremdbestimmtes Rädchen im Kollektiv zu machen. Dennoch hat er nicht nur in „Die Kunst des Liebens“ vor nunmehr über sechzig Jahren den Weg aufgezeigt, den die modernen Massengesellschaften gehen mussten und gingen: Die bedingungslose Aufgabe des Selbst zugunsten eines Kollektivs, dessen scheinbar freiwillig und aus eigenem Willen heraus geformten Ziele eine von der kollektiven Idee losgelöste, unabhängige Beschäftigung mit den Themen der Zeit verunmöglicht.
Jüngst blätterte ich nach langer Zeit wieder in jenem Werk, das Erich Fromm 1956 unter dem Titel „The art of loving“ veröffentlicht hatte. Dort finden sich in der deutschen Ausgabe, 1980 vom Ullstein-Verlag in neuer Übersetzung als „Die Kunst des Liebens“ verlegt, ab Seite 24 folgende Sätze:
„Die meisten Menschen sind sich ihres Bedürfnisses nach Konformität nicht einmal bewußt. Sie leben in der Illusion, sie folgten nur ihren Ideen und Neigungen, sie seien Individualisten, sie seien aufgrund eigenen Denkens zu ihrer Meinung gelangt, und es sei reiner Zufall, daß sie in ihren Ideen mit der Majorität übereinstimmen. Im Konsensus aller sehen sie den Beweis für die Richtigkeit ‚ihrer‘ Ideen. Den kleinen Test eines Bedürfnisses nach Individualität, der ihnen geblieben ist, befriedigen sie, indem sie sich in Kleinigkeiten von den anderen zu unterscheiden suchen … In Wirklichkeit gibt es kaum noch Unterschiede.
Die wachsende Neigung zum Ausmerzen von Unterschieden hängt eng zusammen mit dem Begriff der Gleichheit und der entsprechenden Erfahrung, wie er sich in den am weitesten fortgeschrittenen Industriegesellschaften entwickelt hat. Gleichheit im religiösen Sinne bedeutete, daß wir alle Gottes Kinder sind und alle an der gleichen menschlich-göttlichen Substanz teilhaben, daß wir alle eins sind. Sie bedeutete aber auch, daß gerade die Unterschiede zwischen den einzelnen Individuen respektiert werden sollten: Wir sind zwar alle eins, aber jeder von uns ist zugleich ein einzigartiges Wesen, ein Kosmos für sich. Die Überzeugung von der Einzigartigkeit des Individuums drückt folgender Satz aus dem Talmud beispielhaft aus: ‚Wer ein einziges Leben rettet, hat damit gleichsam die ganze Welt gerettet; wer ein einziges Leben zerstört, hat damit gleichsam die ganze Welt zerstört.‘ Auch in der westlichen Aufklärungsphilosophie galt Gleichheit als eine Bedingung für die Entwicklung von Individualität. Am klarsten hat dies Kant formuliert, als er sagte, kein Mensch dürfe einem anderen Mittel zum Zweck sein, und die Menschen seien sich insofern gleich, als sie alle Zweck und nur Zweck und niemals Mittel füreinander seien. …
In der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft hat sich die Bedeutung des Begriffs Gleichheit geändert. Man versteht heute darunter die Gleichheit von Automaten, von Menschen, die ihre Individualität verloren haben. Gleichheit bedeutet heute ‚Dasselbe-Sein‘ und nicht mehr ‚Eins-Sein‘. … Genauso wie die moderne Massenproduktion die Standardisierung der Erzeugnisse verlangt, so verlangt auch der gesellschaftliche Prozeß die Standardisierung des Menschen, und diese Standardisierung nennt man dann ‚Gleichheit‘.
Vereinigung durch Konformität vollzieht sich weder intensiv noch heftig; sie erfolgt ruhig, routinemäßig und bringt es eben deshalb oft nicht fertig, die Angst vor dem Abgetrenntsein zu mildern. … Aber nicht nur die Konformität dient dazu, die aus dem Abgetrenntsein entspringende Angst zu mildern, auch die Arbeits- und Vergnügungsroutine dient diesem Zweck. Der Mensch wird zu einer bloßen Nummer, zu einem Bestandteil der Arbeiterschaft oder der Bürokratie aus Verwaltungsangestellten und Managern. Er besitzt nur wenig eigene Initiative, seine Aufgaben sind ihm durch die Organisation der Arbeit vorgeschrieben; es besteht in dieser Hinsicht sogar kaum ein Unterschied zwischen denen oben auf der Leiter und denen, die unten stehen. … Selbst die Gefühle sind vorgeschrieben: Man hat fröhlich, tolerant, zuverlässig und ehrgeizig zu sein und mit jedem reibungslos auszukommen. … Wie sollte ein Mensch, der in diesem Routinenetz gefangen ist, nicht vergessen, dass er ein Mensch, ein einzigartiges Individuum ist, dem nur diese einzige Chance gegeben ist, dieses Leben mit seinen Hoffnungen und Enttäuschungen, mit seinem Kummer und seiner Angst, mit seiner Sehnsucht nach Liebe und seiner Furcht vor dem Nichts und dem Abgetrenntsein zu leben?“
Uneingeschränktes Recht auf Individualität?
Wie aktuell Fromms Überlegungen sind, können wir alltäglich erleben, wenn die vorgeblich alternativlose Unterwerfung unter einen nicht minder vorgeblichen, ökokollektivistischen Zwang die Gemeinschaft ungleicher Individuen unter dem Gebot der Gleichheit in das Kollektiv der Guten und die Parias der Bösen teilt; die „Gleichheit von Automaten“ durch die Verkehrung des Identitäts-Begriffs in der Überwindung biologischer und sozialer Selbstverständlichkeiten zu schaffen sucht. Ob mit pseudowissenschaftlichem Genderismus oder der Hybris der Klimarettung, mit einem zur Schimäre der kollektiven Gleichheit verfremdeten Gerechtigkeitsgebot anstelle der gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe der Individuen nach ihren jeweiligen Möglich- und Fähigkeiten, und selbst mit einem, zum gegen alles „Weiße“ gerichteten Rassismus mutierten, vorgeblichen Anti-Rassismus – die „Vereinigung durch Konformität“ ist längst Realität der modernen Gesellschaft. Wer sich der Konformität des Kollektivs des Guten unterwirft, wird privilegiert – wer sich, gleich ob als Individualist oder als Mitglied eines anderen Kollektivs, dagegen wendet, als Paria stigmatisiert.
Auf der Strecke bleibt zwangsläufig jene Idee, die als „Demokratie“ heute von den Kollektivisten eines ständig eingeforderten „Haltungsgebots“ zweckentfremdet und vergewaltigt wird. Denn Demokratie bedarf des Widerspruchs durch die Individualität der Demokraten. Sie bedarf – das zeichnet ihre Einzigartigkeit unter all jenen bislang denkbaren und erprobten Formen der Organisationen menschlicher Gemeinschaften aus – der Individualisten, die mit dem Anspruch gleicher Teilhabe selbst bei absoluter Ungleichheit ihrer Ansichten und Ziele aufeinanderprallen und um den richtigen Weg ringen, ohne sich gegenseitig das Recht auf diese Teilhabe abzusprechen und Tabus gegen das Denken und Aussprechen „böser“ Gedanken zu erlassen. Sie bedarf vor allem und unbedingt der „Haltung“, sich dem Diktat eines Haltungsgebots entgegen zu stellen und so um das uneingeschränkte Recht auf die eigene Individualität zu kämpfen.
Der kurze Weg vom Demokraten zum Diktator
Eine Demokratie muss es ertragen, wenn in ihr Individuen radikal vom Mehrheitswillen abweichende Vorstellungen vertreten. Sie muss es ertragen, wenn Einzelne gegen sie und vor allem ihre Fehlentwicklungen argumentieren. Sie muss es sogar ertragen, wenn Mitglieder dieser Demokratie deren Abschaffung fordern. Die Demokratie – oder besser: Die Demokraten haben das Recht, nein, die Pflicht, gegen ihre Gegner zu argumentieren. Sie haben sogar das Recht, den gewaltsamen Versuch der Überwindung der Demokratie mit Mitteln des Strafrechts zu bekämpfen. Aber nur den gewaltsamen Versuch – nicht den argumentativen. Und so haben Demokraten nicht das Recht, bereits den Gedanken an diesen Versuch und dessen Formulierung zu untersagen und mit Strafen als Disziplinierungsmaßnahmen zu belegen.
In dem Moment, wo sich als Demokraten Bezeichnende anderen Mitgliedern der Gemeinschaft ihr Recht auf Teilhabe am demokratischen Prozess absprechen, mutieren sie selbst vom Demokraten zum Undemokraten, zum Diktator. Wer dem Individuum das Recht auf Einzigartigsein abspricht, indem er seinen eigenen Konformitätsanspruch zum Diktat und damit den Menschen zum Mittel statt zum Zweck macht, der bewegt sich geistig in den Kategorien des Glaubensdiktats aus der Zeit vor der Aufklärung. Nicht Demokrat sein kann, wer unter dem Banner der Demokratie die Individualität verbietet, denn er belegt damit, dass sein Gesellschaftsziel nicht eine Demokratie von Individuen, sondern das eines gleichdenkenden, gleichhandelnden und in jeder Hinsicht entindividualisierten Kollektivs ist.
Drei Thesen – eine Art Fazit
Die Feinde der Demokratie sind nicht jene, die die Entwicklung in demokratischen Gesellschaften kritisieren und gegen diese argumentieren. Die wahren Feinde der Demokratie sind vielmehr jene, die sich der Demokratie bedienen, um die Einzigartigkeit des Individuums durch ein Kollektiv der Gleichgemachten zu vernichten.
Die Feinde der Demokratie sind nicht jene, die von ihnen erkannte Fehlentwicklungen auf- und andere Möglichkeiten der Weiterentwicklung anzeigen. Die wahren Feinde der Demokratie sind jene, die das Aufzeigen von Fehlentwicklungen als Angriff auf die Demokratie brandmarken und damit deren Weiterentwicklung verhindern.
Die Feinde der Demokratie sind nicht jene, die ihre Mächtigen angreifen, von denen sie ihrer Individualität beraubt werden. Die wahren Feinde der Demokratie sind vielmehr jene, die den Menschen das Recht auf ebendiese Individualität rauben.
Fromm, der sich in der Tradition Kants und der westeuropäischen Aufklärung verstand, erkannte dieses schon vor 60 Jahren. Ohne dabei den Begriff Demokratie auch nur einmal in den Mund nehmen zu müssen.