Tichys Einblick
Die britische Linke und der Antisemitismus

Wie die Labour Party unter Corbyn im Namen des Antirassismus rassistisch wurde

Dave Rich geht in seiner Studie "The Left’s Jewish Problem" der Frage nach, wie der Antisemitismus in der sozialistischen Partei Großbritanniens so einflussreich werden konnte.

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Vor kurzem konnte man im britischen Fernsehen bei BBC Panorama eine Dokumentation sehen, die sich mit antisemitischen Tendenzen in der Labour Party beschäftigte. Die Sendung konnte zeigen, dass jüdische Mitglieder der Partei, zumindest dann, wenn sie sich der fundamentalen Kritik des linken Flügels der Partei an Israel nicht explizit und konsequent anschlossen und ihre komplette Loyalität gegenüber dem Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn täglich demonstrierten, zunehmend unter Druck geraten. Man wirft ihnen implizit oder auch explizit vor, innerhalb der Partei die Interessen eines fremden Landes, Israels, zu vertreten, keine wirklichen Briten und womöglich Teil einer jüdischen Verschwörung zur Demontage Corbyns zu sein. Wichtig dabei ist, dass die bloße Tatsache, dass ein Parteimitglied jüdisch ist und sich nicht komplett von Israel distanziert, ihn oder sie in der Partei isoliert und rasch zum Ziel von offenen Anfeindungen werden lässt. Hier ist die Beweislage geradezu erdrückend.

Man fragt sich, wie es so weit kommen konnte, denn, das muss man zugeben, im 19. und 20. Jahrhundert war Antisemitismus in Europa primär ein „rechtes“ Phänomen. Konservative, die sich im Kampf gegen den Liberalismus, die Demokratie und die Sozialismus sahen, aber auch Nationalisten, die ihre Nation vor allem über eine vermeintlich unveränderliche ethnische Identität definierten, sahen in den Juden als angeblichen Gegnern jeder Tradition und „entwurzelten“ Kosmopoliten – so die gängigen Vorurteile – ihre Feinde. Die Linke hingegen zeigte sich gegen antisemitische Tendenzen in der Regel leidlich immun, von Ausnahmen abgesehen, wenn sich etwa die Kritik am Finanzkapitalismus oder am Imperialismus mit Ressentiments gegen jüdische Unternehmer oder Bankiers verband. In den letzten ca. 20 bis 30 Jahren hat sich dies zumindest in Großbritannien jedoch geändert.

Dave Rich geht in seiner Studie The Left’s Jewish Problem der Frage nach, wie der Antisemitismus in der sozialistischen Partei so einflussreich werden konnte. Das Buch erschien zuerst 2016, ist aber vor kurzem (2018) in einer erweiterten zweiten Auflage erschienen, die die jüngste Entwicklung unter Jeremy Corbyn berücksichtigt.

Vom Antizionismus zum Antisemitismus

Rich kann zeigen, und das überrascht nicht, dass der linke Flügel der Partei zu dem Corbyn immer gehörte, die Existenz Israels schon in den 1970er Jahren mit massiven Vorbehalten betrachtete. Man identifizierte sich mit den Palästinensern und Männer wie Corbyn sympathisierten offen mit dem gewaltsamen Kampf gegen Israel und zögerten auch nicht, sich mit Leuten zu solidarisieren, die Attentate gegen Zivilisten befürworteten. All dies mag bis zu einem gewissen Grade noch im Rahmen dessen liegen, was sich auch in anderen Ländern findet, und kann auch nicht per se als antisemitisch bezeichnet werden, da man zwischen Antizionismus und Antisemitismus durchaus unterscheiden muss. Seit den 1990er Jahren und verstärkt seit dem Zweiten Irakkrieg (2003) kam es jedoch zu einer deutlichen Eskalation.

Dafür waren mehrere Grunde ausschlaggebend. Zum einen begannen sich die in Großbritannien lebenden Muslime – die ja meist nicht aus dem Nahen Osten, sondern vom indischen Subkontinent stammen – verstärkt mit dem Kampf gegen Israel zu identifizieren, was zuvor nicht der Fall gewesen war. Hier spielte sicherlich auch eine Rolle, dass der Kampf der Palästinenser gegen Israel seit den 1990er Jahren zunehmend als religiöser Konflikt und nicht mehr als säkularer nationaler Befreiungskampf wie zuvor definiert und inszeniert wurde. Für viele Muslime in England war überdies der jugoslawische Bürgerkrieg, bei dem es in der Tat zu Akten des Völkermordes an muslimischen Bosniern kam, denen Großbritannien und andere westliche Länder zunächst tatenlos zusahen, ein Schock. Man sah sich selber bedroht, so stellt es Rich dar.

Das Bündnis zwischen der radikalen Linken und dem anti-westlichen Islam

Andererseits begann sich die Linke stärker mit den Muslimen und der Sache des Islam zu identifizieren. Es entstand das, was man in Frankreich „islamo-gauchisme“ nennt. Die radikale Linke wollte nun keinen Klassenkampf gegen die „Reichen“ mehr führen, sondern sah sich an der Spitze eines Feldzuges für den globalen Süden gegen die vermeintlichen Ausbeuter in der westlichen, entwickelten Welt. Zugleich öffnete man sich der aus den USA stammenden Identitätspolitik. Die Opfergruppen, für die man kämpfte, wurde nun nicht mehr primär über ihre soziale Lage (Armut, mangelnde Bildungs- und Aufstiegschancen etc.) definiert, sondern über ihre ethnische Identität oder andere nicht-ökonomische Merkmale wie das Geschlecht, die Hautfarbe, die sexuelle Orientierung oder eben das religiöse Bekenntnis. Der Islam, das wurde jetzt zum allgemeinen Credo, war die Religion der Unterdrückten, da die Welt von Eliten dominiert wurde, die durch eine christliche oder eben auch durch eine jüdische Tradition geprägt waren, wie man im linken Milieu meinte (S. 209). Jede Kritik am Islam, selbst an seinen fundamentalistischen und besonders reaktionären Manifestationen, galt nun automatisch als „islamophob“ und rassistisch, ja mehr noch, eine solche Kritik wurde gleichgesetzt mit dem europäischen Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Muslime waren in dieser Perspektive die neuen Juden.

George Galloway, ein sozialistischer Politiker, der 1987-2015 mit einer Unterbrechung von drei Jahren Unterhausabgeordneter war und nach 2003 (in diesem Jahre musste er die Labour Party verlassen) diverse Wahlkreise für die Respect Party – eine Partei, die den zweiten Irakkrieg ablehnte und dezidiert die Interessen britischer Muslime vertreten sollte – gewann, vertrat diese linke Haltung mit besonderem Nachdruck. Er kann in gewisser Weise als Vorläufer und Stichwortgeber von Corbyn gesehen werden. Einer seiner früheren Mitarbeiter, Kevin Ovenden, brachte diese Position 2016 in einem Artikel im linksradikalen Morning Star auf den Punkt: „Islamophobia is the Jewish question of our day. It is not simply one reactionary idea among many … It plays a particular corrupting role across politics and society as a whole. (Zitiert, S. 210 – hier

Es gibt übrigens auch deutsche Politiker, die sich, wenn auch etwas weniger prononciert, ähnlich geäußert haben, wie zum Beispiel die mögliche neue Vorsitzende der SPD, Gesine Schwan, die sich damit in interessanter Gesellschaft befindet. (Siehe hier und hier)

Das Gefährliche an solchen Gleichsetzungen ist einerseits, dass sie eine Verharmlosung des Holocaust begünstigen können. Andererseits erschweren sie auch jede ernsthafte Kritik an der nun einmal gar nicht so seltenen muslimischen Judenfeindschaft, denn wenn die Muslime selbst die neuen Juden sind, wie können sie dann rassistisch oder antisemitisch sein? Ja, für radikale Linke liegt es im Kontext dieser Umwertung der Werte dann sogar nahe, in den Israelis die neuen Rassisten zu sehen – Rich führt hier zahlreiche Belege auch aus dem Umfeld von Corbyn an –, deren Siedlungspolitik z. B. auch nicht viel besser sei als die genozidale Politik der Nazis, der Millionen zum Opfer fielen. Nun kann man an der Politik Israels sicherlich manches kritisieren, setzt man diese Politik jedoch mit der der Nazis gleich, während man über Menschenrechtsverletzungen in zahlreichen anderen Ländern oft großzügig hinwegsieht, dann liegt es nahe, in allen Juden, die irgendwie in Beziehung zu Israel stehen oder das Land nicht komplett ablehnen, Feinde zu sehen, denen man nur mit Hass begegnen kann.

Gar so weit ist die Labour Party heute von einer solchen Haltung in großen Teilen nicht mehr entfernt, wie man leider feststellen muss. Sicher, Corbyn mag persönlich kein Antisemit im engeren Sinne des Wortes sein, oder zumindest sieht er sich selbst nicht so, aber solange der politische Schaden nicht zu groß war, hat er den Kontakt zu Personen und Gruppierungen, die antisemitisches Gedankengut verbreiten, bis hin zu Argumenten aus dem Repertoire des rechtsradikalen Rassismus jedenfalls nie konsequent vermieden und zum Teil sogar gesucht, das kann Rich sehr deutlich zeigen.

Hier gibt es sicher auch die taktische Überlegung; man will die Stimmen muslimischer Wähler in den Großstädten für sich gewinnen. Natürlich gibt es auch viele Muslime, die einen expliziten Antisemitismus dezidiert ablehnen, aber eine gewisse, oft wenig reflektierte Antipathie gegen Israel und diejenigen, die Israel scheinbar oder wirklich unterstützen, ist doch in diesem Milieu nicht selten. Das ergibt sich einfach aus der Konfliktlage im Nahen Osten, denn in einer multikulturellen Gesellschaft, in der Immigranten auch noch in der dritten oder vierten Generation sich stark mit ihrer ursprünglichen Heimat identifizieren – was die politische Linke ja meist explizit begrüßt – , werden Konflikte, die ihren Ursprung außerhalb Europas haben, zwangsläufig auch in Europa selber ausgetragen. Das kann leicht zum Teufelskreis werden, denn in dem Maße, in dem sich Juden in Großbritannien vermehrt angefeindet fühlen, identifizieren sie sich stärker als früher mit Israel, das ihnen als Refugium für den Fall einer mittlerweile denkbaren dramatischen Verschlechterung der Lage erscheint, und ziehen damit umso mehr den Hass derjenigen auf sich, die in Israel, dieser Bastion des Westens außerhalb Europas, die Verkörperung des Bösen schlechthin sehen.

Die Wirkung des zweiten Golfkrieges

Speziell in Großbritannien hat sich die Lage freilich auch auf Grund des zweiten Irakkrieges von 2003, das wurde bereits angedeutet, stark zugespitzt. Tony Blair führte damals das Vereinigte Königreich an der Seite der USA in den Krieg. Das war eine in den Reihen der Labour Party stark umstrittene Entscheidung, namentlich der linke Parteiflügel lehnte sie vehement ab, konnte sich aber nicht durchsetzen. Im Rückblick sollten die Kritiker, das muss man einräumen, weitgehend recht behalten, denn die anglo-amerikanische Intervention schuf im mittleren Osten ein Chaos, das bis heute nicht wirklich überwunden ist.

Indirekt war dieser unüberlegte Militärschlag auch eine der Ursachen für die Flüchtlingskrise der Jahre 2015-17. Von daher muss man Corbyn und den Seinen zugestehen, dass sie damals nicht ganz falsch lagen. Allerdings bestand im Linksaußen-Milieu schon da eine Tendenz, die Politik von Bush und Blair auf die Lobby-Arbeit Israels und den vermeintlichen Einfluss von „Big Jewry“ (so wörtlich in einem Artikel des New Statesman über eine mögliche „kosher conspiracy“, der noch vor Ausbruch des Krieges, 2002, erschien) zurückzuführen. (Siehe hier)

Der Umstand, dass sich unter den amerikanischen „Neo-Cons“, die als Architekten der Politik von Bush auftraten, auch etliche jüdische Intellektuelle befanden, nährte entsprechende Verschwörungstheorien.

Als New Labour und der von Blair und später Gordon Brown geführte wirtschaftsliberale Flügel der Labour Party in der Finanzkrise 2008-10 untergingen, rückte für die Parteilinke jedenfalls die Stunde der Abrechnung näher. Zwar musste man bis 2015 warten, bis mit Corbyn ein Vertreter des äußersten linken Flügel den Vorsitz der Partei übernehmen konnte, aber die Abkehr von der Ära Blair hatte sich schon vorher angedeutet. Unter Corbyn wurde nicht nur die mehr oder weniger neo-liberale Wirtschaftspolitik als Verrat an alten sozialistischen Idealen verdammt, es galt nun auch die eher israel-freundliche Politik von Blair zu revidieren. Wer dem widersprach, und sei es noch so vorsichtig, indem er etwa Boykottaktionen gegen Israel ablehnte, war ein „Zionist“, in relevanten Labour-Kreisen nunmehr ein Schimpfwort, das eigentlich nur eine Umschreibung für „Jude“ ist, ähnlich wie in rechtsradikalen Kreisen in den USA.

Verschwörungstheorien erhielten überdies Auftrieb durch das Internet, facebook ebenso wie durch spezielle Blogs, die sich exklusiv an den linken Parteiflügel richteten. Man solle nicht vergessen, die Tendenz, sich in „Konversationsblasen“ von Gleichgesinnten abzuschotten und sich Verschwörungstheorien hinzugeben, findet sich keineswegs nur rechts außen, sondern ist auch bei radikalen Linken zu finden, wie Dave Rich detailliert zeigen kann. Das dürfte auch in Deutschland nicht immer so viel anders sein, wird von der Politik in Kontext der Rufe nach einer schärfen Kontrolle des Internets aber meist geflissentlich ignoriert.

Eine Besserung ist nicht in Sicht

Einer der wichtigsten Blogs des Corbyn-Lagers ist The Canary. Dort erschien in diesen Tagen ein Interview mit Norman Finkelstein. Finkelstein ist ein jüdischer Antizionist, der geradezu besessen von der Idee ist, dass Israel bekämpft werden müsse. Die Sonderstellung des Holocaust als Verbrechen von besonderer Dimension bestreitet er, wenn auch nicht den Holocaust selber. Sein Buch The Holocaust Industry aus dem Jahr 2000 wurde seinerzeit auch von der Deutschen National-Zeitung begeistert gefeiert. Dieser Mann verteidigt Corbyn gegen den Vorwurf des Antisemitismus mit dem Argument, hinter diesen Vorwürfen stehe nur Israel, dessen Propaganda sich in einer Sackgasse befinde und deshalb linke Kritiker des Zionismus diffamiere. Freilich habe sich das britische Establishment jetzt opportunistisch dieser Kampagne angeschlossen, weil man auf diese Weise die sozialistische Linke zerstören wolle. Das muss man sich dann freilich auf der Zunge zergehen lassen. Ein einflussreicher linker Blog, der Corbyn verteidigen will, fährt einen Mann als Kronzeugen auf, der sonst vor allem im antisemitischen Rechtsaußen-Milieu seine begeisterten Anhänger hat. Soweit ist es in Großbritannien mit der Labour-Party gekommen.

Kann so etwas auch in Deutschland geschehen? Auf absehbare Zeit wohl eher nicht. Unsere Erinnerungskultur ist auch auf Grund des Zweiten Weltkrieges eine andere. Aber eine Warnung sind die Vorgänge in Großbritannien dennoch allemal. Wer politische Konflikte der Gegenwart vor allem als Konfrontation zwischen einem ausbeuterischen brutalen „Westen“, der sich stets auf der Anklagebank befindet, und einem geschundenen globalen Süden sieht, für den liegt es nicht sehr fern, in Israel eine vorgeschobene Stellung dieses bösen weißen Westens zu sehen und es entsprechend pauschal zu verurteilen. Von dort bis zu einem Generalverdacht gegen alle, die auf Grund ihrer Herkunft und ihrer Religionszugehörigkeit vielleicht mit Israel sympathisierten könnten – falls sie nicht beständig durch Worte und Taten das Gegenteil beweisen – ist es so sehr weit nicht.

Dazu kommt aber ein anderer Punkt. Die Labour Party sieht sich als anti-rassistische Partei, die für die Interessen von Benachteiligten eintritt. Diese Benachteiligten werden aber, wie schon erwähnt, heute vor allem in den Kategorien der Identitätspolitik identifiziert, also Rasse, Geschlecht, Religion. Die Begrifflichkeit der Identitätspolitik ist letzten Ende ein Werkzeugkasten, den man für unterschiedliche Zwecke einsetzen kann. In der Tat kann man diese Werkzeuge für eine emanzipatorische Politik, wenn man das so nennen will, einsetzen, aber genauso gut kann man sie nutzen, um den politischen und ideologischen Gegner zu identifizieren, und zur Zielscheibe zu machen.

Das können dann zum Beispiel weiße (alte oder nicht so alte) Männer sein, oder eben auch wie jetzt in Großbritannien, Juden, das eine funktioniert so gut wie das andere, wenn man sich auf diese Art der Argumentation einmal eingelassen hat. Natürlich ist es inkonsequent, wenn man rezenten Immigranten das Recht bescheinigt, ihre oft mit westlichen Werten nicht immer leicht kompatible kulturelle Identität ungehemmt auszuleben, dieses gleiche Recht auf eine eigene Identität anderen Gruppen, sei es nun der einheimischen, kulturell eher durch das Christentum geprägten Bevölkerung oder Juden, die sich zu einer gewissen Solidarität mit Israel verpflichtet fühlen, aber bestreitet.

Aber es gibt eben gute und schlechte Identitäten aus der Sicht der anti-westlichen, regressiven Linken. Die Folgen einer solchen Politik sind allerdings fatal und oft von denen eines eher traditionellen Rassismus gar nicht leicht zu unterscheiden, wie man in England sehen kann. Das sollten all diejenigen bedenken, die auch in Deutschland linke Politik im Sinne einer flächendeckenden positiven Diskriminierung von vermeintlich benachteiligten ethnischen und religiösen Gruppen umdefinieren wollen. Was als Antirassismus und Antidiskriminierungspolitik beginnt, kann recht rasch ins Gegenteil umschlagen, auch das zeigt das britische Beispiel. Vestigia terrent.


Dave Rich, The Left’s Jewish Problem. Jeremy Corbyn, Israel and Antisemitism, 2. Aufl. London 2018, 413 S.

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