Sprechen wir von Corona, dann benutzen wir in dem Zusammenhang immer wieder den Begriff Krise – ohne uns aber bewusst zu machen, was dieser Begriff wirklich bedeutet. Denn tatsächlich steht der Begriff für einen Höhe- beziehungsweise Wendepunkt im Rahmen eines Konflikts, den Punkt der Entscheidung. Diesem Höhepunkt ging eine massive Funktionsstörung im Rahmen eines sozialen Systems voraus. Der Wendepunkt bietet die Möglichkeit zur Lösung des Konflikts – oder aber auch dessen Verschärfung.
Einen solchen Wendepunkt gab es in Deutschland zum Beispiel im Jahr 1918 nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Damals stellte sich die Frage, ob das Land künftig eine Räterepublik nach sowjetischem Vorbild werden oder ob der Weg vielmehr in Richtung einer Demokratie weisen sollte. Schließlich fiel die Entscheidung glücklicherweise dann für den demokratischen Staat.
Zu Beginn der 1930er-Jahre stand das Land erneut vor einer Entscheidung. Nun lautete die Frage, ob es möglich sei, die demokratischen Kräfte sowie Teile der gemäßigten Rechten zu einen – oder ob es zu einer Machtübernahme durch die Nationalsozialisten käme. Wie wir heute wissen, ging es damals für die Demokraten schlecht aus.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand bis etwa 1952, bis zum Zeitpunkt der Stalin-Note, die Frage, ob Deutschland künftig ein neutraler Staat werden, oder ob das Land die Westbindung eingehen würde. Die Westbindung wurde schließlich durchgesetzt, und diese Konstellation hatte bis zum Mauerfall am 9. November 1989 Bestand.
Heute stehen wir wieder vor einer Weichenstellung. Und die Frage lautet jetzt, ob wir eine offene Gesellschaft bleiben, die sich auf unantastbare Grundrechte stützt. Bleiben wir also eine Gesellschaft, in der Entscheidungen durch Wahlen herbeigeführt werden und in der es um einen Wettbewerb politischer Parteien geht, während Experten jene Bereiche vorbehalten bleiben, in denen sie auf der Grundlage fachlichen Wissens und Könnens imstande sind, Aufgaben und Probleme zielorientiert, sachgerecht, methodengeleitet zu lösen?
Dieser Weg wird künftig auch bestimmen, wie wir etwa mit der Klimakrise verfahren. Es wurde auch schon angedroht, die Coronakrise als Blaupause für das Thema Klima zu nutzen. Ein weiteres Beispiel wäre die Wirtschafts- und Finanzpolitik, bei der etwa Zentralbanken rein technokratisch festlegen würden, wie es künftig im Euroraum weiterzugehen hat. In einer offenen Gesellschaft würde man hingegen einen anderen Weg einschlagen, solche Entscheidungen demokratisch einbetten und unterschiedliche Positionen anhören.
Bei all den genannten Wenden vergangener Jahrzehnte spielten übrigens die liberalen Kräfte eine entscheidende Rolle. Damit meinen wir nicht spezifisch jene Partei, die das Wort »liberal« im Namen trägt, sondern liberale Strömungen und Politiker/innen im weitesten Sinne. Auch jetzt sind wir wieder an einem solchen Punkt, an dem die Liberalen eine besondere Rolle zu spielen hätten. Denn die liberalen Strömungen sind vor allem deshalb so wichtig, weil sie immer auch den Blick darauf richten, dass die Grundrechte kompromisslos zu achten sind. Bei anderen politischen Strömungen stehen beispielsweise mehr die innere und äußere Sicherheit im Mittelpunkt des Interesses. Oder sie setzen mehr auf soziale Sicherheit. Die Grundrechte aber sind immer ein überparteilich liberaler Punkt. Wir müssen wieder dahin gelangen, dass wir die Grundrechte so sichern, dass sich ihr Aushebeln nicht mehr wiederholen kann, vor allem nicht über einen derart langen Zeitraum, wie es zuletzt der Fall war.
Liberalismus aber bedeutet noch mehr. Er bedeutet auch, sich von dem Gedanken zu verabschieden, dass der Staat für den Einzelnen immer alles richtet, dass der Mensch also einen großen Teil der Verantwortung dem Staat zuschiebt. Gerade diese illiberale Haltung wurde in der Vergangenheit (leider) von einigen Philosophen immer wieder gestärkt. Hegel etwa hat betont, dass es der Staat ist, der den Menschen erst vollendet. Und was wir heute beobachten können, das ist letztlich eine Allianz von linkem und rechtem Hegelianismus. Der rechte Hegelianismus wird verkörpert durch Personen wie etwa Markus Söder, der in den Augen vieler für einen auf Autorität setzenden Staat steht. Bei dem linken Hegelianismus geht es hingegen um einen ideologisch untermauerten Staat, der bestimmte Ziele wie die soziale Gerechtigkeit verfolgt oder der die Menschen von ihren Risiken entlastet.
Während der Coronakrise sind diese beiden gegensätzlichen Strömungen plötzlich eine Allianz eingegangen. Denn nun sahen beide Seiten den Staat gefordert als diejenige Institution, die mit autoritären Maßnahmen angeblich die Gesundheit der Menschen schützen soll.
Diese perfekte Allianz zwischen einem Söder auf der einen und den Grünen auf der anderen Seite ist das wirklich Neue an dieser Situation. Denn alle unterscheiden sich in ihren politischen Aussagen plötzlich nur noch unwesentlich. Beide betonen im Grunde unisono, der Staat habe das Ziel zu erreichen, dass sich niemand mehr mit Viren infiziert, und der Staat solle auch noch dafür sorgen, dass sich das Weltklima nicht weiter verschlechtert und so weiter. Das führt letztlich dazu, dass die Menschen in einen Zustand allgemeiner Unsicherheit geraten, der durch die Grundrechte eigentlich verhindert werden soll. Bisher galt auch die Rechtssicherheit als einer der wichtigsten Standortfaktoren Deutschlands, weil hier Sicherheit für Investitionen geboten wurde – sowohl ausländischen Investoren als auch den Bürgern, die in ihre Geschäftsidee investierten. Diese Rechtssicherheit aber geht verloren, wenn die Menschen erleben, dass Grundrechte wegen willkürlich herausgestellter Gesundheitsrisiken – oder in Zukunft vielleicht wegen Klimarisiken – ausgesetzt werden können.
Die Deutschen sollten lernen, grundsätzlich mehr Misstrauen gegen einen überbordenden Staat zu haben. Es würde sich um eine durchaus positive Entwicklung handeln, weil ein solches Misstrauen in anderen Ländern wesentlich stärker vorhanden ist. Schon während der Coronakrise gab es Anzeichen, dass eine solche Entwicklung auch hierzulande im Gang ist. Gerade weil die Maßnahmen sich derart lang hinzogen, haben Menschen erkannt, dass sie vielem nicht mehr vertrauen können. Das gilt für die Politik, die Medien und auch für die Wissenschaft. Der Staat hat also durch sein Handeln schon viel von dem zuvor in ihn gesetzten Vertrauen verloren. Man stellt das auch bei durchaus dem Mainstream zuzurechnenden Künstlern, Sportlern und Schauspielern fest, die sich – bei allem Verständnis – mittlerweile ausgesprochen kritisch über die restriktiven Maßnahmen äußern, etwa Daniel Kehlmann, Jan Josef Liefers oder Katarina Witt.
Zurückgewinnen kann der Staat das verloren gegangene Vertrauen nur, wenn er sich auf seine Kernaufgabe zurückbesinnt, einen Rechtsrahmen zu schaffen, um die Grundrechte zu schützen.
Wir sollten in Deutschland vor diesem Hintergrund auch lernen – formulieren wir es mal so –, mehr Helmut Schmidt zu wagen. Also Dinge auch unbürokratisch anzugehen und zu regeln – so wie Schmidt bei der Hamburger Sturmflut 1962 oder der RAF-Bedrohung in den 1970er-Jahren. Denn eines unserer großen Probleme besteht darin, dass wir regelrecht in Bürokratie ersticken. Das war gerade im bislang letzten Teil der Coronakrise zu beobachten. Beispiele dafür sind etwa die unsäglichen Pannen bei der Auszahlung versprochener Hilfen oder bei dem, was inzwischen nur noch als Impfdesaster bezeichnet werden kann. Schon bei der Bestellung der Impfstoffe wurde vor allem bürokratisch gedacht. Mehr Helmut Schmidt wagen bedeutet, dass wir viel mehr über die bestehenden bürokratischen Strukturen hinausdenken und handeln sollten. Dass wir uns also fragen, warum wir etwas machen, was denn eigentlich der Sinn staatlicher Maßnahmen ist – was ist der Sinn von Krisenbewältigung? Und wie erreichen wir diesen Sinn, ohne uns gleich wieder in kleinsten Details der Regulierung zu verfangen? Diese Bürokratisierung hat in der Ära Merkel einen neuen Höchststand erreicht – gerade im Vergleich zu ihrem Vorgänger Schröder, der eher bürokratische Hürden zu umschiffen suchte.
Tatsächlich fällt es schwer, in der Ära Merkel überhaupt irgendwelche Zukunftsprobleme zu nennen, die mit einer echten Zukunftsperspektive angegangen wurden. Das gilt auch für die Außenpolitik, das Verhältnis zu den USA oder China. Und man muss nicht einmal so weit in die Ferne schweifen. Die EU hat während der Krise ebenfalls massiv Schaden genommen: Zum einen wurden außerhalb der EU die Risikogruppen deutlich schneller geimpft. Und zum anderen geht es um die offenen Grenzen, die immer ein zentrales Argument für ein Vereinigtes Europa waren – und die nun infolge der Krise für die Menschen über viele Monate hinweg praktisch nicht mehr existent sind. Merkel und andere Politiker warnten immer wieder vor Reisen ins Ausland – und das nur 30 Jahre nach dem Fall der Mauer. Geschichtsvergessen. Nun, das wird zur Folge haben, dass sich die Bürger der EU die Frage stellen werden, wozu die EU denn überhaupt noch gut ist: Vielleicht bleibt der Brexit kein isoliertes Ereignis.
Auszug aus: Christoph Lütge/Michael Esfeld, Und die Freiheit? Wie die Corona-Politik und der Missbrauch der Wissenschaft unsere offene Gesellschaft bedrohen. Riva, 128 Seiten, 10,00 €.