Tichys Einblick
Eine unverzichtbare Streitschrift

Wie der Westen im Zeitalter der Unvernunft bestehen kann

Eine Kultur, die weltweit Milliarden Menschen aus der Armut geholt, die lebensrettende Entwicklungen in den Naturwissenschaften und der Medizin, sowie Michelangelo, Leonardo, Bernini und Bach hervorgebracht hat und der Welt die größte Blütezeit des Denkens bescherte, wird mit tiefster Feindseligkeit und Naivität betrachtet und so dargestellt, als habe sie nichts Relevantes zu sagen.

»Krieg dem Westen« ist ein Buch darüber, was passiert, wenn eine Seite eines Kalten Krieges – die der Demokratie, der Vernunft und der universellen Prinzipien – vorzeitig kapituliert. Allzu häufig stufen wir diesen Krieg falsch ein. Wir lassen zu, dass er als »vorübergehend« bezeichnet wird, sich angeblich nur in Randbereichen abspielt, oder wir tun ihn als Kulturkrieg ab. Wir deuten die Ziele der Akteure falsch oder spielen die Rolle herunter, die dieser Krieg im Leben zukünftiger Generationen spielen wird. Und dennoch steht genauso viel auf dem Spiel wie bei jedem anderen Kampf im 20. Jahrhundert, es sind viele derselben Prinzipien am Werk – und sogar viele derselben üblen Akteure.

Wir würdigen und schützen nicht länger, was an der westlichen Kultur gut ist, sondern behaupten, dass alles demontiert werden muss.

Es ist mittlerweile über 30 Jahre her, dass Reverend Jesse Jackson eine Gruppe von Protestierenden an der Stanford University mit dem Sprechchor anführte: »Hey hey ho ho, Western City has got to go.« Damals protestierten Reverend Jackson und seine Anhänger gegen das Einführungsprogramm »Western Culture« an der Stanford University. Sie brachten vor, dass etwas falsch daran sei, die westlichen Prinzipien und die westliche Kultur zu lehren. Was 1978 in Stanford passierte, war ein Vorbote für das, was noch kommen sollte.

In den darauffolgenden Jahrzehnten folgte nahezu die gesamte akademische Welt im Westen Stanfords Vorbild. Die Geschichte des westlichen Denkens, der Kunst, Philosophie und Kultur wurde zu einem zunehmend weniger kommunizierbaren Thema. Tatsächlich wurde sie zu etwas Peinlichem: dem Produkt eines Haufens »alter weißer Männer«, um nur eine der charmanten Bezeichnungen aufzugreifen, die Eingang in die Sprache fanden.

Seither wurde jeder Anstrengung, das Lehren der westlichen Kultur am Leben zu erhalten oder gar zu neu zu beleben, mit anhaltender Feindseligkeit, Hohn und sogar Gewalt begegnet. Wissenschaftler, die versucht haben, westliche Nationen in neutralem Licht zu untersuchen, wurden bei ihrer Arbeit behindert und Opfer von Einschüchterung und Diffamierung, sogar durch Kollegen.

Gefangene der Zeit
Die Spuren der Geschichte in der Gegenwart entdecken
In Australien versuchte das Ramsay Centre for Western Civilisation, dessen Board-Vorsitz der ehemalige Premierminister John Howard innehat, Partneruniversitäten zu finden, an denen Studenten die westliche Kultur studieren können. Sie hatten größte Schwierigkeiten, überhaupt Universitäten zu finden, die bereit waren, mit ihnen zu arbeiten. Und das verrät uns etwas über die Geschwindigkeit dieser umwälzenden Bewegung. Nur ein paar Jahrzehnte zuvor war Unterricht in Geschichte der westlichen Zivilisation gang und gäbe. Heutzutage ist das so anrüchig, dass Universitäten dies nicht einmal für Geld anbieten.

1969 sendete die BBC die außergewöhnliche 13-teilige Dokumentationsreihe Civilisation von Sir Kenneth Clark. Sie präsentierte eine einzigartige Geschichte der westlichen Zivilisation und vertiefte deren Kenntnis von Millionen Menschen weltweit. Fast 50 Jahre später, 2018, versuchte die BBC, daran anzuschließen. Civilisations (mit Betonung auf dem Plural-s) war das Gemeinschaftswerk von drei verschiedenen Historikern, die sich verzweifelt abmühten, nicht so zu klingen, als sei der Westen besser als jeder andere Ort und eine Art Weltgeschichte präsentierten, die nichts klar darstellte.

In nur wenigen Jahrzehnten war die ehemals gefeierte westliche Tradition peinlich und anachronistisch geworden und schließlich etwas, dessen man sich schämen musste. Sie verwandelte sich von einer Geschichte, die Menschen inspirierte und in ihrem Leben voranbrachte, in eine Geschichte, die Menschen beschämte. Und es war nicht nur der Terminus »westlich«, an dem die Kritiker Anstoß nahmen, sondern alles, was damit in Verbindung stand. Das gilt sogar für den Begriff »Zivilisation«. Wie es einer der Gurus des modernen rassistischen »Antirassismus«, Ibram X. Kendi, ausdrückte, ist »Zivilisation selbst oft ein höflicher Euphemismus für kulturellen Rassismus«.

Natürlich ist ein gewisses Schwingen des Pendels unvermeidlich und vielleicht sogar wünschenswert. Es gab sicher Zeiten in der Vergangenheit, in denen die Geschichte des Westens gelehrt wurde, als handle es sich um eine Geschichte des hemmungslos Guten. Mit der Geschichte kritisch umzugehen, ist nie verkehrt. Jedoch sollte die Jagd auf sichtbare, konkrete Probleme nie zu einer Jagd auf unsichtbare, nicht greifbare Probleme werden. Vor allem nicht, wenn sie von unehrlichen Leuten durchgeführt wird, die mit extremen Lösungen aufwarten. Wenn wir es arglistigen Kritikern erlauben, unsere Vergangenheit zu vereinnahmen und zu verdrehen, dann wird die von ihnen geplante Zukunft nicht harmonisch sein, sondern die Hölle.

In meinem Buch werde ich zwei zentralen Ideen auf den Grund gehen. Die erste ist, dass Kritiker der westlichen Kultur Alternativen bieten. Sie verehren jede Kultur, solange sie nicht westlich ist. Zum Beispiel werden Gedankengut und kulturelle Ausdrucksformen von Ureinwohnern gefeiert, solange diese Eingeborenenkultur nicht westlich ist. Das ist der Vergleich, den wir ziehen sollen, also ziehen wir ihn auch.

Auf in den Kulturkampf
Die Kultur des Westens muss verteidigt werden
Aus dem Bejubeln aller nicht-westlichen Kulturen entstehen zwei Hauptprobleme. Erstens kommen nicht-westliche Länder dadurch mit aktuellen Verbrechen davon, die so monströs sind wie alles, was in der westlichen Vergangenheit passierte. Einige ausländische Mächte fördern diese Gewohnheit. Denn wenn der Westen derartig damit beschäftigt ist, sich selbst zu verunglimpfen, wie sollte er dann Zeit finden, auf den Rest der Welt zu schauen? Zweitens führt das zu einer Form von engstirnigem Internationalismus, bei dem Abendländer irrtümlich annehmen, dass Aspekte des westlichen Erbes auch auf dem restlichen Globus angestrebte Ziele seien.

Von Australien bis Kanada und Amerika und überall in Europa hat sich eine neue Generation der Idee verschrieben, dass Aspekte der westlichen Tradition (wie »Menschenrechte«) eine historische und globale Norm seien, die sich überall eingeschrieben hat. Mit der Zeit hat es den Anschein bekommen, dass die westliche Tradition, die diese Normen hervorbrachte, auf einzigartige Weise dabei versagt hat, nach ihnen zu leben, und dass nicht-westliche »einheimische« Kulturen (neben vielem anderen) reiner und aufgeklärter sind, als es die westliche Kultur je sein kann.

Dies sind weder Ansichten von Randgruppen, noch sind sie neu. Sie reichen mindestens bis ins 18. Jahrhundert zurück. Heutzutage durchdringen sie die Werke von Bestsellerautoren wie Naomi Klein und Noam Chomsky. Diese Ansichten werden an Universitäten und Schulen in der gesamten westlichen Welt gelehrt. Was dabei herauskommt, kann man an nahezu jeder wichtigen kulturellen und politischen Institution sehen. Es taucht an den überraschendsten Orten auf.

Zum Beispiel ist der »National Trust« in Großbritannien dazu gedacht, viele der schönsten und teuersten Landhäuser zu erhalten und für Besucher zugänglich zu machen. Die 5,6 Millionen Mitglieder des Trusts sind durch die stattlichen Herrenhäuser spaziert und haben anschließend dort einen Nachmittagstee genossen. Aber in den letzten Jahren entschied der Trust, dass er noch eine weitere Aufgabe habe: seine Besucher über die Gräuel der Vergangenheit aufzuklären.

Das betrifft nicht nur Verbindungen zum Empire und den Sklavenhandel, Homophobie und die Verbrechen des Erstgeburtsrechts. Kürzlich entschloss man sich dazu, die Vorstellung voranzutreiben, dass das englische Landleben selbst rassistisch sei und (wie der Programmdirektor des Trusts es bezeichnet) England ein »grünes unangenehmes Land« sei.

Ich habe dieses Beispiel ausgewählt, aber Sie finden in nahezu jedem Lebensbereich Beispiele für ähnliche Abwertungen. Von Kunst, Mathematik und Musik über Gartenanlagen und Sport bis zu Speisen wurde alles dem gleichen Schleudergang unterzogen. Vieles daran ist kurios. Nicht zuletzt, dass der Westen für alles beschuldigt wird, was er verbrochen hat, ihm aber gleichzeitig keinerlei Verdienste angerechnet werden. Vielmehr werden ihm seine Verdienste – einschließlich der Entwicklung der Individualrechte, der Religionsfreiheit und des Pluralismus – vorgehalten.

Das führt uns zu einem zweiten, tiefergehenden Rätsel. Warum wird alles im Westen angreifbar?

Mutiges Grundlagenwerk historischer Forschung
Ein amerikanischer Politologe verteidigt den Kolonialismus
Die Kultur, die der Welt lebensrettende Entwicklungen in den Naturwissenschaften sowie der Medizin und einen freien Markt gebracht hat, die weltweit Milliarden Menschen aus der Armut geholt und ihnen die größte Blütezeit des Denkens in der Welt bescherte, wird durch eine Brille tiefster Feindseligkeit und Naivität betrachtet. Jene Kultur, die Michelangelo, Leonardo, Bernini und Bach hervorbrachte, wird dargestellt, als habe sie nichts Relevantes zu sagen. Nachfolgenden Generationen wird diese ignorante Sicht auf die Geschichte beigebracht. Ihnen wird eine Geschichte der Versäumnisse des Westens angeboten, ohne dass entsprechend Zeit auf seine rühmlichen Errungenschaften verwendet wird.

Heutzutage weiß jedes Schulkind von der Sklaverei. Aber wie viele können ohne Ironie, Unterwürfigkeit oder Vorbehalt über die großartigen Geschenke sprechen, die die westliche Tradition der Welt gemacht hat?

Alle Aspekte der westlichen Tradition leiden unter demselben Angriff. Die jüdisch-christliche Tradition, die einen Grundpfeiler der westlichen Tradition darstellt, wird besonders stark angegriffen und verunglimpft. Aber genauso ergeht es der Tradition des Säkularismus und der Aufklärung, die ein Gedeihen der Politik, Wissenschaften und Künste hervorbrachte. Und das hat Konsequenzen.

Eine neue Generation scheint nicht einmal die grundlegendsten Prinzipien des freien Denkens und der freien Meinungsäußerung zu verstehen. Tatsächlich werden diese selbst als Produkte der Aufklärung in Europa dargestellt und von Menschen angegriffen, die nicht verstehen, wie oder warum der Westen zu den Regelungen kam, die er hinsichtlich der Religion traf. Oder auch, inwiefern das Priorisieren der wissenschaftlichen Methode den Menschen weltweit zu unzähligen Verbesserungen ihres Lebens verhalf.

Stattdessen wird ihr Erbe kritisiert als Beispiel westlicher Arroganz, Elitedenken und unverdienter Überlegenheit. Als Folge davon wird alles, was mit der westlichen Tradition in Verbindung steht, über Bord geworfen. An pädagogischen Hochschulen in den USA wird angehenden Lehrern beigebracht, dass sogar der Terminus »Meinungsvielfalt« lediglich »Bullshit weißer Vorherrschaft« sei. (…)

Dieser Krieg gegen den Westen hat viele Facetten. Er wird in den Medien und im Radio ausgetragen, in den Bildungssystemen, schon in der Vorschule. Er ist weit verbreitet innerhalb der Gesamtkultur, wo alle wichtigen kulturellen Institutionen entweder unter Druck geraten oder sich freiwillig von ihrer eigenen Vergangenheit distanzieren.

Und mittlerweile wütet er in den obersten Reihen der US-amerikanischen Regierung, eine deren ersten Amtshandlungen der Erlass einer Präsidentenverfügung war, die nach »Gleichheit« verlangte und der Demontage dessen, was als »systematischer Rassismus« bezeichnet wird. Anscheinend sind wir gerade dabei, die Gans zu töten, die ein paar sehr goldene Eier gelegt hat.


Gekürzter und um die Fußnoten bereinigter Auszug aus:
Douglas Murray, Krieg dem Westen. FBV, Hardcover, 332 Seiten, 25,00 €


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