„Zurecht bekannt und Teil unserer Erinnerungskultur ist die mutige Tat und das Schicksal der Studentin Sophie Scholl. Doch wer war Herbert Belter?“ Mit dieser Frage eröffnet Klaus-Rüdiger Mai sein Buch „Der kurze Sommer der Freiheit“. Den meisten dürften Namen wie Herbert Belter oder Werner Ihmels vor der Lektüre des Buchs nichts gesagt haben. Danach kennt der Leser ihre Geschichte und die etlicher anderer junger Männer und Frauen, die im Osten zwischen 1945 und 1953 versuchten, den Marsch in die Diktatur aufzuhalten. Allein dafür verdient Mais Buch Verbreitung.
Worum geht es in den kurzen Lebensgeschichten dieser bisher nahezu Unbekannten? Herbert Belter, Jahrgang 1929, glaubte an die Möglichkeit, als Student an der Universität Leipzig mit Gleichgesinnten das Abgleiten der DDR in die autoritäre Ordnung bekämpfen zu können – mit Mitteln, die im Rückblick anrührend und heroisch zugleich anmuten. Der junge Student, übrigens SED-Mitglied, lieferte drei Artikel über Ereignisse in Leipzig an den RIAS. Außerdem holte er SED-kritische Flugschriften aus Westberlin ab. In der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober 1950 verteilten Belter und sein Freund Helmut du Mênil in Leipzig Flugblätter. Deutsche Sicherheitskräfte verhafteten die beiden, dann auch andere junge Männer aus ihrem Umkreis und überstellten sie dem sowjetischen Sicherheitsapparat. Der machte aus dem Fall des Studenten die „Gruppe Belter“ (die es so stringent wahrscheinlich gar nicht gab).
Er hätte sich beinahe retten können – die politische Polizei nahm ihn auf dem Leipziger Hauptbahnhof fest, als er die Stadt verlassen wollte, um auf die Universität Tübingen zu wechseln. Ihmels starb mit 23 Jahren an Lungentuberkulose im „Gelben Elend“, dem Zuchthaus Bautzen.
„Der kurze Sommer der Freiheit“ skizziert neben den Biografien dieser und vieler anderer Oppositioneller die kurze und in der Geschichtsschreibung bisher kaum beleuchtete Zeit, in der sowjetische Besatzungsmacht und KPD-, ab 1946 SED-Kader die von Anfang an geplante Diktatur errichteten – allerdings Schritt für Schritt. Wie das zu geschehen hatte, schärfte der spätere SED-Generalsekretär Walter Ulbricht seinen Genossen mit den legendären Worten ein: „Es muss demokratisch aussehen – aber wir müssen alles in der Hand haben.“
Das Buch erinnert daran, dass es zunächst auch in der Sowjetischen Zone nichtkommunistische Parteien gab (die nach und nach gleichgeschaltet oder wie die SPD geschluckt wurden), und dass bis 1948 einigermaßen freie Wahlen stattfanden.
Nein, die reelle Chance, auf eine freie Gesellschaft, das stellte der Autor fest, existierte in der östlichen Zone von Anfang an nicht. Aber es gab auch dort – eben wegen dieser Täuschungsmanöver – nach der NS-Zeit gerade bei vielen Jüngeren die Hoffnung auf eine nichtdiktatorische Gesellschaft. Beziehungsweise den Unglauben, dass auf eine Diktatur gleich die nächste folgen würde.
Mais Verdienst besteht auch darin, persönliche Zeugnisse der frühen Oppositionellen zu zitieren, die für ihre Überzeugung mit dem Leben oder jahrelangen Freiheitsstrafen bezahlten. Etwa zitiert er das Gnadengesuch, das der 21-jährige Belter kurz vor seiner Erschießung an den Obersten Sowjet richtete. Ein Grab für ihn gibt es nicht – seine Asche wurde in einem Massengrab in Donskoje verscharrt. Das Buch enthält auch ein Faksimile eines Kassibers an die Eltern, das Ihmels aus dem Zuchthaus Bautzen schmuggeln konnte. „Macht euch weder Sorgen noch Vorwürfe“, heißt es dort: „Es war gut so“.
Klaus-Rüdiger Mai, Der kurze Sommer der Freiheit. Wie aus der DDR eine Diktatur wurde. Herder, 320 Seiten, 22,00 €