Tichys Einblick
„Haltung zeigen“

Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss

Rhetorisches Lametta, Behauptungen, denen nicht auf den Grund gegangen werden soll: Phrasen. Sie täuschen etwas vor, was nicht da ist: einen klugen Gedanken, eine tiefe Einsicht, eine hohe Moral.

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Phrasen überdauern ihre Urheber. Sie führen ein Eigenleben, das den Moment der Entstehung hinter sich lässt. Ehe ein eingängiger Spruch zur Phrase wird, muss er durch viele Münder hindurch. Das einmal und nie wieder Gesagte, der Satz, der aufgeht in den Bedingungen seines Anlasses, die Pointe, die nur einer macht: All das taugt noch nicht zur Phrase. Die Phrase beginnt, wo das Denken endet. Sie erweckt den Eindruck, sie sei bereits das Ergebnis eines langen Nachsinnens und also müsse an der Stelle, an der sie aufgerufen wird, nicht mehr gedacht, sondern nur noch verkündet werden. Sie will Einverständnis, nicht Eigensinn. Akklamation, nicht Reflexion. So kommt in Phrasen auch das Reden an sein wortreiches Ende. Phrasen sind die Schwarzen Löcher unserer Kommunikation.

Darum kann es sein, dass linke Parteien, vermutlich unwissentlich, eine rechte Kampfparole der 1930er Jahre aufwärmen, die aus der Mitte der heutigen Gesellschaft zu stammen scheint. Wer den Phrasenpool anzapft, kann sich nie sicher sein, wessen semiotische Felder er damit bewässert. Im Zweifel ist jede Nachdenklichkeit schon einmal trivialisiert worden. »Haltung statt Hetze« etwa ist ein Aufruf, dem sich gegenwärtig große Mehrheiten anzuschließen bereit sind. Die verführerische Polarität – böse Hetze versus gute Haltung – lässt keine Möglichkeit, der Moralfalle zu entkommen.

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Besonders gerne machen sich Grüne, SPD und Linkspartei die Losung zu eigen, aus verständlichen Gründen. Die »Grüne Jugend Bayern« etwa lud unter diesem Motto zu einem »Hateslam« nach Augsburg: »Vertreter der Grünen geben euch Einblicke in die Kommentare, mit denen sie tagtäglich leben müssen. Das Ganze soll euch einerseits natürlich unterhalten, andererseits aber auch kritisch hinterleuchten, wie tief die Kluften der Menschlichkeit in unserer Gesellschaft bereits klaffen.« Ob man in Augsburg zur klaffenden Kluftenmessung ein Kluftenmessgerät reichte? Oder tat’s eine hin und her und hinterleuchtende Taschenlampe?

»Haltung statt Hetze« ist ein bewährtes Motto für Demonstrationen, Resolutionen, Parteitagsreden im 21. Jahrhundert. Der Slogan fällt nicht nur mit der Tür ins Diskurshaus, er reißt sie ein. Man muss nicht wissen, was die Hetze der anderen konkret meint und welche eigene Haltung konkret gefordert wird, um augenblicklich einzustimmen: Ja zur Haltung, Nein zur Hetze. So wie es auch nur ein Ja zum Frieden und ein Nein zum Krieg geben kann, spontan, ein Nein zur Armut und ein Ja zum Wohlstand, ein Ja zur Menschlichkeit und ein Nein zur Menschenfeindlichkeit. Da gibt es naturgemäß nichts nachzudenken, wohl aber wären die Begriffe zu schärfen. Hamlet grübelte ernsthaft über das Gegensatzpaar von Leben und Tod nach. Er wusste am Beginn seines Denkens nicht, wo es ihn hinführte. Darum wurde »Sein oder Nichtsein« nie zur Phrase.

Dass es um die einfachen Alternativen von Hetze und Haltung nicht gar so einfach bestellt ist, zeigte eine frühe Verwendung des stark nachgefragten Mottos. Im Jahr 1934, relativ kurz also nach der nationalsozialistischen Machtübernahme, veröffentlichte Dr. Friedrich Grünagel, Pfarrer aus Aachen, in der »Schriftenreihe von Theologen und Laien aus der Westmark« namens » Kirche in Bewegung und Entscheidung« einen, wie es im Untertitel hieß, »Ruf zur Besinnung im Kirchenstreit«. Und dieser Zwischenruf von gerade einmal 14 Seiten trug den fanfarengleichen Titel »Haltung statt Hetze!«

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Grünagel plädierte für eine protestantische Reichskirche statt der vielen Landeskirchen, lobte Reichsbischof Ludwig Müller und kritisierte die »Hetze« der Bekennenden Kirche gegen die Deutschen Christen: »Wenn in irgend einer Zielsetzung Hitler die Zustimmung aller Deutschen fand, dann in seinem Willen, endlich unseren unseligen Hang zum Partikularismus zu brechen. Auf allen Gebieten bricht dieser Wille zur Einheit mächtig hervor.« Die »innere Verbindung von Volkstum und Glaube« müsse nun vollzogen werden. Nur dann sei die »Möglichkeit einer evangelischen Kirche im Dritten Reich (…) gegeben, wenn wir zur echten Reichskirchenbildung fortschreiten.« Wer »die neue Staatsführung wie den Satan« hasse, versündige sich am Protestantismus; »darum Haltung statt fanatische Hetze!«

Keine Frage: Hier wurde die Haltung der neuen Herren gelobpreist und Kritik an diesen als Hetze diffamiert. Grünagel, fasst Michael Hofferberth vom Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland zusammen, »war strammer Deutscher Christ und hatte in Aachen öffentlichkeitswirksam die Bekennende Kirche bekämpft.« Auch in diese Richtung ließ sich das heute so beliebte Begriffspaar von der Haltung und ihrem Gegenteil verwenden. Der moralische Druck, den es aufbaut, ist hinreichend groß, um Einwände verschiedener Art zum Verstummen zu bringen.

Natürlich lässt sich dieser damalige Gebrauch nicht jenen vorwerfen, die heute in gegenteiliger Absicht auf die begriffliche Alternative zurückgreifen, um gegen Rassismus und Chauvinismus öffentlich aufzubegehren. Die theoretisch unbegrenzte Einsetzbarkeit sollte indes zur Vorsicht mahnen bei allzu großem Triumphgefühl nach allzu leicht errungenem Einverständnis. Acht Jahre nach Grünagels »Haltung statt Hetze!« erschien übrigens mit »Deutsche Haltung als Aufgabe der Erziehung« von Hans Wittig eine Einführung in nationalsozialistische Pädagogik, die ebenfalls das Haltungs- als das Kerngeschäft der Nazis ausmachte.

Die Quellorte der Haltung liegen anderswo: am Fluss, im Stall, der Wirbelsäule. Haltung meint im Wasserbau »die Strecke zwischen zwei Stauanlagen eines Kanals oder kanalisierten Flusses.« Wo die Haltung ist, da geht es nicht aufwärts oder abwärts, da regiert die flache Horizontale, da wird das Niveau gehalten. Insofern ist auch in freier, aber gestalteter Natur Haltung die Frage eines Verhältnisses zwischen zwei Punkten. So wie angesichts heutiger Haltungsgruppenappelle ein Verhalten gefordert wird, das die einzig richtige Reaktion sei auf einen vorgefundenen Standpunkt, eine Frage mithin der korrekten Distanz.

Anders geht es im Stall zu, wo Tiere gehalten werden, dem Menschen zur Freude oder zum Verzehr. Der Tierhalter ist Herr des Tieres und Herr über Leben und Tod. Hier beschreibt Haltung ein absolutes Machtgefälle, keine schnurgerade Verbindung zwischen zwei Punkten – weshalb denn auch im Namen menschlicher Haltung dagegen protestiert werden kann. »Haltung zeigen!« war eine Veranstaltung der schleswig-holsteinischen Grünen Ende August 2018 in Köln betitelt, die mit einer schmatzenden Kuh beworben wurde: »Wir brauchen einen Umbau der Tierhaltung für die Umwelt, für die Tiere und für die Menschen.«

Haltung ist im Kern, ja im Mark das menschliche Privileg. Der Mensch hat eine bestimmte Haltung, die ihn vor den meisten anderen Lebewesen auszeichnet, den aufrechten Gang. Die durchgedrückte Wirbelsäule, das gerade Rückgrat erhebt ihn über den Staub, aus dem er stammen soll. Kurt Bayertz schreibt in seiner »Geschichte des anthropologischen Denkens« mit Bezug auf Aristoteles und Cicero: »In der aufrechten Haltung des Menschen verrät sich seine Hinordnung auf den Kosmos, genauer: auf das Vollkommene und Göttliche in ihm, das ja nach oben hin zunimmt.« Eine Deutung Thomas Manns wiederum, aus dem »Zauberberg«, führt Bayertz zur Erkenntnis, »wie eine Person geht und steht, gibt Aufschluss über ihre Herkunft, ihren Status, ihre Lebenslage. Die ›Haltung‹ weist über das Individuum hinaus, das sie hat. Sie verweist auf das historische, kulturelle, soziale Umfeld dieses Individuums. Das menschliche Gehen oder Stehen ist also kein bloß natürliches Phänomen.« Man sieht Natur und erblickt Kultur: Das ist die conditio humana.

Der Schritt vom Skelett- zum Satzbau war leicht und führte ins Uferlose. Haltung, als gruppenbezogene, abgrenzende Selbstaussage betrachtet, sei’s 1934, sei’s 2019, ist dann nicht länger typisch menschlich, sondern sozial charakteristisch. Sie wird zum Clubabzeichen, zur Ehrenmedaille einer Teilmenge von Gesellschaft. Die einen haben sie, den anderen spricht man sie ab; Haltung kann zum Wanderstab und Prügelstock der Guten werden, derer also, die sind, wie man sich selbst gerne sieht. Die aus Haltungsgründen sich aussprechen »gegen rechts« (Rosa-Luxemburg-Stiftung), »gegen antifeministische Äußerungen« (Heinrich-Böll-Stiftung), »gegen die Politik der Angst« (Bündnis 90/Die Grünen), »gegen Hass« (SPD Brandenburg).

Sprachlos?
Die Kunst des Widerspruchs
Am Satz des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, »Demokratie braucht Haltung und Engagement«, gibt es zunächst nichts auszusetzen, doch er lässt Leerstellen. Demokratie braucht Demokraten: unbedingt und hoffentlich noch sehr lange. Welches Engagement aber braucht sie wirklich? Muss der überzeugte Demokrat seine tiefe Überzeugung durch praktisches Engagement bekunden? Ist die Demokratie so schwach, dass der engagierte Bürger sie permanent stützen muss? Darf der liberale Staat in Gestalt seines höchsten Repräsentanten solches Engagement fordern und dadurch das Risiko eingehen, staatsdienliche Aktionen zu belohnen und staatskritische zu missbilligen? Öffnet sich da schon sacht die Tür zu einem Staat, der wie weiland ein »Sag’ mir, wo du stehst!« einklagen darf, weil er über den Korridor gewünschten und unerwünschten staatsbürgerlichen Engagements entscheiden und entsprechend sanktionieren kann? Eine liberale Demokratie müsste auch Demokratiekritik, Staatskritik, Engagementverweigerung aushalten. Was sie hingegen nicht tolerieren darf, sind antidemokratische Umsturzversuche und Straftaten jeder Art.

Welche Haltung der Demokraten braucht eine Demokratie darüber hinaus? Nur jene, die auf den Podien und in den Sendungen dieser Republik sich manifestiert und oftmals die Regierungsdoktrin doppelt? Jene Haltung, welche die öffentlich-rechtliche Fernsehjournalistin Anja Reschke auf 96 Seiten unter dem Titel »Haltung zeigen!« (September 2018) darlegte und als »Grundhaltung unserer Gesellschaft« definiert, die auf erinnungskulturellen Tabus und »stillschweigenden Vereinbarungen« und dem Grundgesetz beruhe? Jene Haltung, welche die Printjournalistin Mely Kiyak, die einst den Volkswirt und Publizisten Thilo Sarrazin eine »lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur« genannt hatte, auf 64 Seiten unter der Überschrift »Haltung. Ein Essay gegen das Lautsein« (Oktober 2018) darlegt, wider »reaktionäre Denk- und Politikmuster«? Und wie ist es um die Haltung der Werbeprofis der »Deutschen Public Relations Gesellschaft e.V.« bestellt, die im Januar 2019 zur Tagung »Kommunikation braucht Haltung« nach Berlin luden?

Ausgrenzen
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Haltung besteht oft darin, Haltung zu fordern. Allgemeines wird behauptet, um persönlich Bedingtes vorzuführen. Die Haltungsforderung ist die Eintrittskarte in die jeweilige Haltungsgruppe, das VIP-Abzeichen am Revers derer, die dazugehören. Der Haltungsmensch ist der gute Mensch mit der richtigen Ansicht. Weltanschauliche Differenz wird zur Moralstraftat. Haltung freilich verfehlt ihr Maß, fungiert sie nur als Meinungsabwehr und Begriffszauber besserverdienender Gutbürger. Haltung ist immer auch der Einsatz, den es kostet, am richtig Erkannten selbst dann festzuhalten, wenn damit keine Ansehens- und Machtgewinne verbunden sind. Leicht fällt es Magnaten und Mäzenen, Stars und Politikern Haltung zu zeigen; sie ist gratis.

Haltung hat die Frau, die am Arbeitsplatz eine Kollegin verteidigt, obwohl sie nicht wissen kann, ob der Chef ihr Engagement billigt; hat der Mann, der im Kreis der Kumpels einem Freund beispringt, der allen auf die Nerven geht, aber einen klugen Gedanken geäußert hat. Sie halten sich aufrecht. Ein Max Stirner tat es, der seinen Überzeugungen treu blieb bis in die Armut hinein und nie geschmeidig wurde. Ein Leon Bloy, der ein elendes Leben führte, ohne sich von Geld korrumpieren zu lassen. Ein Ambrose Bierce, der sich vom vorübergehenden Ruhm als Starautor nicht bestechen ließ, seine Kanten und Krallen behielt und traurig endete. Sie alle haben nie die eigene Meinung als Haltung verkauft. Und niemanden als sich selbst auf diese ihre Meinung verpflichtet. Haltung, die nichts kostet, kann man sich schenken.


Dieser Beitrag stammt – mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag – aus:
Alexander Kissler, Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss. Gütersloher Verlagshaus, 208 Seiten, 18,00 €.


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