Tichys Einblick: Herr Mai, in Ihrem Buchtitel kommt gleich zweimal das Wort wir vor. Wer zur Hölle sind denn wir? Wer gestaltet die Zukunft und für wen?
Klaus-Rüdiger Mai: Davon handelt das Buch, daher kann ich das jetzt nicht ganz verraten – schließlich sollen die Leute es ja auch noch lesen. Ich möchte, dass der Leser genau das entdeckt, das hat viel mit ihm selbst zu tun, mit seinen Möglichkeiten. Das ist eben die entscheidende Frage: Wie ist eigentlich unsere Gesellschaft soziologisch begründet? Also ganz simpel: Wer herrscht in diesem Land? Wo ist die Mitte? Was ist Rechts? Was ist Links? Die Begriffe unserer Wirklichkeit sind völlig durcheinandergeraten. Wir gehen soziologisch mit dem Werkzeugkasten des 19. Jahrhunderts an das 21. heran. Die Begriffe haben ihre Schärfe verloren, ihre Deutlichkeit. Also: Wer sind „wir“? Es sind diejenigen – und das beschreibe ich im Buch –, die etwas zu verlieren hätten, wenn die große Transformation stattfindet.
Also alle Generationen? Oder nur die, die ihre Schäfchen noch nicht im Trockenen haben?
Es ist keine Generationenfrage. Es geht darum, wo ich im gesellschaftlichen Prozess stehe. Gehöre ich zur Mittelschicht? Zur Unterschicht? Oberschicht? Wohne ich auf dem Land, oder wohne ich in der Stadt? Habe ich ein wokes Start-up, in dem ich mir ausdenke, wie ich Pappkaffeebecher bemalen kann? Oder betreibe ich eine Handwerksfirma in einer kleinen Stadt? Was wir erleben, ist ein Auseinanderfallen der Gesellschaft in Gruppen und Grüppchen.
„Müssen wir uns gefallen lassen, „gewandelt“ zu werden,
oder dürfen wir den Wandel selbst gestalten?
Und können wir das?“
Und um da mal genauer hinzuschauen, habe ich angefangen, dieses Buch zu schreiben. Eine Bestandsaufnahme des Istzustands reicht längst nicht mehr, man muss jetzt weiterfragen: Wo kann es hingehen, wo muss es hingehen? Wenn wir in einem großen Wandel sind – müssen wir uns gefallen lassen, „gewandelt“ zu werden, oder dürfen wir den Wandel selbst gestalten? Können wir das überhaupt?
Ihr Titel klingt ja eigentlich ziemlich optimistisch, voller Tatendrang, so als wüssten Sie, wo es langgeht. Sind Sie wirklich so zuversichtlich? Oder möchten Sie nur nicht als Griesgram gelten?
Um die Frage zu beantworten: Ja, ich bin optimistisch. Weil ich weiß, dass es immer Abbrüche gab, Wirren und Verunsicherungen. Europa hat das aber immer wieder überwunden. Mir fällt immer öfter ein Satz ein, den ich einmal bei der DDR-Schriftstellerin Christa Wolf gelesen habe und der sinngemäß lautet: Wenn wir zu hoffen aufhören, kommt, was wir befürchten, bestimmt.
Wenn ich optimistische Artikel schreibe, kommentieren die Leute immer: „Ja, die Elisa, das kleine Mäuschen. Die glaubt bestimmt noch an das Gute im Menschen und bestimmt auch noch an die wahre Liebe.“ Missverstehe ich Ihre Generation, oder sind Sie einfach anders als die anderen?
Ich weiß nicht so ganz genau, was meine Generation ist, offen gestanden. Ich würde mich da eher in Ihrer Nähe verorten – ich glaube auch noch an das Gute im Menschen und auch noch an die wahre Liebe.
„Wenn der Wohlstand schwindet, obwohl die Leute arbeiten und Steuern zahlen, dann werden sie sich fragen:
Was funktioniert in diesem Lande nicht?“
Natürlich gibt es eine Form von Zynismus, sodass mandenkt, man hat alles schon erlebt – aber man hat nicht alles erlebt. Es geht immer wieder neu los, und das ist das Spannende.
Ich habe das Jahr 1989 in der DDR erlebt. Ich werde das nie vergessen. Als ich zu meiner ersten Demo gegangen bin, da hatte ich die Hosen voll. Ich hatte Angst, dass ich nicht mehr nach Hause zurückkehre. Das war keine Heldentat. Aber man wusste, man muss das jetzt tun. Man kann das einfach nicht mehr länger hinnehmen. Und dieses Bewusstsein: Da steht eine bis an die Zähne bewaffnete Staatsmacht, und man tut es trotzdem. Das ist eine wichtige Erfahrung. Das Wichtigste ist der Mensch und sein Empfinden für Gerechtigkeit und Freiheit. Es kommt darauf an, dass wir uns fragen: Wollen wir unser Leben in die Hand nehmen? Wollen wir selbstbestimmt leben? Wollen wir Verantwortung tragen? Oder wollen wir nur mitlaufen? Und das finde ich so wichtig. Nein. Hier stehe ich und kann nicht anders, Gott helfe mir, amen.
Dann müssen Sie ja große Hoffnungen auf meine Generation setzen …
Ich denke, was – für Ihre Generation wie für meine, wie für alle Generationen – wichtig ist, ist, dass wir Wirklichkeit wiederentdecken. Die Linken nannten es immer die „Macht des Faktischen“ – und die wird sich durchsetzen. Die Welt wird nicht in den Universitäten oder im Fernsehstudio verändert. Sie verändert sich dadurch, dass Leben stattfindet. Wenn die Leute nicht mehr in der Lage sind, ihren Wohlstand zu halten, wenn der schwindet, obwohl sie arbeiten und Steuern zahlen, dann müssen sie fragen: Was funktioniert eigentlich in diesem Lande nicht? Und das werden sie dann auch tun.
Warum schreiben Sie dieses Buch ausgerechnet jetzt? Wir leben ja mit den diversen Corona-Lockdowns in einer Zeit, in der wir nicht einmal die Gegenwart richtig bestimmen können. Und jetzt kommen Sie an und wollen mir erklären, wie ich die Zukunft gestalten kann und soll. Sind Sie etwa ein Zeichensetzer?
Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen. Und nur das will ich heute. Ich will, dass Sie den Mut haben, sich Ihres Verstandes zu bedienen und sich da nicht reinreden zu lassen. Denn wissen Sie, ein Handwerksmeister zum Beispiel, der hat seinen Betrieb, der hat Menschen, die für ihn arbeiten, die er versorgen muss, der hat es mit praktischen Problemen zu tun. Der besitzt eine immense Lebenserfahrung – warum soll der sich von einem Politikwissenschaftler oder einem Politikwissenschaftsstudenten reinreden lassen? Das ist doch komplett absurd.
Zukunft ist ja nun ein sehr dehnbarer Begriff. Machen wir es mal konkret: Ich habe vor ein paar Monaten angefangen, meinen Autoführerschein zu machen, der ist jetzt aber durch Corona erst mal auf Eis gelegt, und das könnte direkt in den Klima-Auto-Lockdown übergehen. Soll ich einfach auswandern?
Erstens finde ich, Sie sollten Ihren Führerschein machen. Zweitens bin ich kein Prophet und drittens: Auswandern kann man ja immer noch. Nur würde ich nicht auswandern und hier alles aufgeben, bevor ich es nicht wenigstens versucht habe. Niemand muss zum Märtyrer werden. Aber was wir alle tun sollten, ist doch, aktiv unsere Republik, unsere Gesellschaft mitzugestalten. Es wäre viel besser, die 200.000 Fachkräfte, die jährlich das Land verlassen, würden hierbleiben. Ich denke, der Mensch ist der Esel, der aufs Glatteis geht, wenn es ihm zu gut geht. Aber Sie müssen nicht aufs Glatteis gehen. Niemand zwingt Sie dazu. Also bleiben Sie mal schön am Ufer, und machen Sie möglichst bald Ihre Fahrprüfung.
Klaus-Rüdiger Mai, Die Zukunft gestalten wir. Wie wir den lähmenden Zeitgeist endlich überwinden. LMV, 232 Seiten, 20,00 €.