Seit einigen Jahren lassen sich in der westlichen Welt, die eigentlich die Heimat des institutionalisierten Prinzips der akademischen Freiheit ist, vermehrt bedenkliche Entwicklungen beobachten. Wer im Bereich der Wissenschaft Auffassungen vertritt, die sich mit modischen Thesen und politisch korrekten Meinungen nicht vertragen, muss mit oft sehr intoleranten Reaktionen rechnen. Es wird nicht mehr in der Sache diskutiert, sondern zu Diffamierungen gegriffen.
Auch prominente Wissenschaftler mussten dies erleben, ob sie Herfried Münkler, Jörg Baberowski oder Bernd Lucke heissen. Das Spektrum der Angriffe reicht von Vorlesungsstörungen bis zu Denunziationen beim Arbeitgeber. Als eine Biologie-Doktorandin an der Humboldt-Universität im Rahmen eines Tages der offenen Tür einen schlichten Vortrag über biologische Zweigeschlechtlichkeit halten wollte, wurde dies erst von der Universität selbst unterbunden! Dann wurde der Vortrag, aber im Modus des betreuten Denkens, nachgeholt – der Schaden war jedoch bereits angerichtet. Denn es ist gerade die innere Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit durch die Universitäten selbst, die mehr als bedenklich stimmen muss. Denn damit wird der Zweck staatlich alimentierter Hochschulen in Frage gestellt. Diese sollten gerade unabhängig von Zeitgeist-Moden und ideologischen Zielvorgaben sein und ihren Angehörigen entschlossen Rückendeckung geben.
Harald Schultze-Eisentraut und Alexander Ulfig haben nun in einem Sammelband gewichtige Stimmen versammelt, die sich mit den aktuellen Gefährdungen der Wissenschafts- und Lehrfreiheit an den Universitäten auseinandersetzen. Die Herausgeber, die bereits mit Gender Studies – Wissenschaft oder Ideologie? in die Debatte eingegriffen haben, kritisieren nicht nur die Verstärkung von Abhängigkeiten durch die Ökonomisierung des Wissenschaftsbetriebs.
Der Band bringt unterschiedliche Perspektiven zusammen, darunter auch strikt säkular-aufklärerische, die sich aber einig darin sind, die Freiheit der Wissenschaft auch und gerade da zu verteidigen, wo kontroverse Auffassungen aufeinanderstoßen.
Das gilt für die Gendersprache (Heinz-Dieter Pohl), die Corona-Pandemie (Michael Esfeld), die Klimapolitik (Fritz Vahrenholt), die Einwanderung (David Engels), den Islam (Hartmut Krauss), den sogenannten Eurozentrismus (Ronald Asch) oder die politikwissenschaftliche Beschäftigung mit Grenzen (Martin Wagener).
Die Mischung aus Interviews, Essays und Erfahrungsberichten kann kein umfassendes systematisches Bild der Lage zeichnen, lässt aber klar genug erkennen, dass die Einschränkung der akademischen Freiheit durch eine ideologiegetriebene Cancel Culture keineswegs ein Mythos ist.
Wenn es Freiheit bei der Wahrheitssuche geben soll, dann muss es auch eine freiheitliche Streitkultur in der Wissenschaft, aber eben auch in der Gesellschaft insgesamt geben. Diese kann es nur dort gedeihen, wo Fanatismus, Diffamierung Andersdenkender und Unduldsamkeit so weit wie möglich eingedämmt werden. Zudem wäre eine (Wieder-)Besinnung auf die Idee der Universität angezeigt, in die auch die längst nicht überholten Gedanken z.B. von John Henry Newman oder Josef Pieper eingehen sollten.
Dieser Beitrag von Till Kinzel erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe von Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politk, Gesellschaft und Kultur. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.
Harald Schulze-Eisentraut/Alexander Ulfig, Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit. Wie die Cancel Culture den Fortschritt bedroht und was wir alle für eine freie Debattenkultur tun können. FBV, Hardcover, 256 Seiten, 25,00 €.