Konservative Denker fanden immer Raum für ihre Ideen im britischen intellektuellen Leben. Philosophen wie Burke, Hume, Maitland und Oakeshott dachten regelmäßig über unser soziales und kulturelles Erbe nach, mit dem Ziel, die grundlegende Idee des Konservativismus zu verstehen: die Idee der Zugehörigkeit.
Sie pochten darauf, dass es nicht das Ziel unserer irdischen Existenz sei, die Welt neu zu erfinden, sondern zu ihr zu gehören; dass Geduld, Verständnis und Demut, und nicht Empörung und revolutionärer Furor die wahren politischen Tugenden seien.
Konservative Stimmen waren in Cambridge, wo ich in den sechziger Jahren studiert habe, noch klar zu vernehmen. Es war die Atmosphäre dieser Universität, die mich jene einzigartige Auffassung von der gesellschaftlichen Ordnung verinnerlichen ließ, in der das Rechtssystem des common law, die aristokratische Exzentrizität und der Argwohn gegenüber dem Regieren von oben ein unauflösbares Geflecht bildeten.
Diese Gesellschaftsordnung – so wurde ich gelehrt – sei im Besitz der einfachen Menschen und keine Domäne des Staates. Faschisten und Kommunisten wurden besiegt, als sie versucht hatten, die Gesellschaft zu ihrer Beute zu machen, und es war unsere Pflicht, unser kulturelles Erbe nicht nur wiederherzustellen, sondern es auch als unser Eigenes erneut in Besitz zu nehmen.
Mir wurden die Lehren von Cambridge vom griesgrämigen Historiker Maurice Cowling vermittelt, andere lernten sie vom Literaturkritiker F. R. Leavis, wieder andere (ebenso wie ich) von den jüngeren Dozenten (unter anderen von John Casey in Englisch, von Michael Tanner in Philosophie und von Norman Stone in Geschichte). Ihre Lehrpläne entsprachen dem kulturellen Vermächtnis, und wir akzeptierten dieses Vermächtnis, jedoch nicht als Dogma: Wir wurden ermutigt, es aufzunehmen aber auch in Frage zu stellen.
Einer der herausragendsten unter unseren Mentoren war der unlängst verstorbene, aus Glasgow stammende Historiker Norman Stone, dessen Begabung, das umfassende Bild zu vermitteln, seine Studenten dauerhaft geprägt hat. Norman war ein starker, zugleich auch ironischer Verteidiger unserer vererbten Identität, aber als Schotte hatte er verstanden, dass Identität viele Schichten hat. Ein Schotte muss nicht entscheiden, ob er Schotte oder Brite sein will, ebenso wenig, wie er gezwungen ist, sich zwischen Whisky und Wein entscheiden zu müssen – zumal Norman, was den Alkohol betraf, an die grenzenlose Gemeinschaft der Erleuchteten glaubte.
Er verfügte über eine tiefe Kenntnis der europäischen Großreiche, liebte Österreich-Ungarn und war bemerkenswert vertraut mit den mitteleuropäischen Sprachen. Er war ein Vorbild dafür, wie phantasievoll man sich auf andere Kulturen einlassen konnte, was umso beeindruckender war, als er unseren patriotischen Illusionen mit sarkastischem Witz zu begegnen wusste.
Während ich über die Hexenjagden der jüngsten Zeit nachdachte, wurde ich ganz besonders von der Menge denunziatorischer Briefe erschüttert, die heute zum Alltag der Universitäten gehören. Briefe, die sich mit vielen Unterschriften gegen den Psychologen Jordan Peterson und den Soziologen Noah Carl richteten und bewirkt hatten, dass zwei wichtige Dissidenten aus Cambridge vertrieben wurden, von jener Universität, an der ich einst die wahre Natur des intellektuellen Lebens zu begreifen gelernt hatte.
Das erinnerte mich an die Petitionen, die Wissenschaftler in den kommunistischen Ländern zu unterzeichnen gezwungen wurden, Petitionen, in denen sie die Bestrafung der Dissidenten unter ihren Kollegen forderten. Doch diese heutigen Denunziationen sind umso schändlicher, als dass keine Geheimpolizei hinter dem Rücken der Unterzeichner steht und ihre Stifte lenkt. Die Ankläger sind Schwärmer, inspiriert von einer Ideologie, die konservative Ideen und Haltungen für etwas Böses hält. Diese Ideen dürfen nicht diskutiert, sie müssen zum Schweigen gebracht werden – ganz so, wie seinerzeit die Sozialdemokratie durch die Nazis zum Schweigen gebracht wurde.
Seitdem ich gerade einen linken Schauprozess überlebt habe, ohne von der konservativen Regierung von Ms. May Unterstützung erfahren zu haben, bin ich über gewisse Veränderungen in der öffentlichen Kultur unseres Landes beunruhigt. Die Idee der Gedankenverbrechen existiert freilich schon seit längerer Zeit.
Wir blickten mit Entsetzen auf die Moskauer Schauprozesse, in denen die Opfer beschuldigt wurden, Abweichler zu sein, linken Infantilismus, bourgeoisen Idealismus, „Neo-Schellingismus“, zionistischen Imperialismus oder was auch immer vertreten zu haben. Sie bekamen nur kurz die Möglichkeit, ihre Schuld mit Begeisterung zuzugeben, bevor sie vor das Exekutionskommando gestellt wurden. Wo waren die Beweise, haben wir gefragt, und worin genau bestand das Verbrechen?
Die Strafen sind milde – gemessen an den Moskauer Prozessen. Aber sie sind schwerwiegend genug, wie Peterson und ich feststellen mussten. Und es gilt in jedem Fall, dass keine Verteidigung möglich ist. Denn jeder Versuch einer Verteidigung bestärkt nur die Anklage. Wenn man darauf hinweist, dass Gedankenverbrechen den Anklägern ermöglichen, unter diesem Begriff zu verstehen, was sie wollen, dann ist das der sichere Beweis dafür, dass der Angeklagte schuldig ist.
Ich glaube, wir treten in eine Epoche der kulturellen Finsternis ein, in der rationale Argumente und Respekt für Gegner aus der öffentlichen Debatte verschwinden, in der über jede wichtige Angelegenheit immer häufiger nur eine erlaubte Meinung existiert, und in der zulässig ist, all jene Häretiker, die mit dieser Meinung nicht einverstanden sind, zu verfolgen.
Für mich bedeutet das den Tod unserer politischen Kultur. An ihre Stelle tritt eine gottlose Religion.
Dieser Beitrag von Roger Scruton erschien am 20. Juli 2019 in The Daily Telegraph unter dem Titel „The failure to stand up for conservative thinking is leading us into a new cultural dark age” und wurde für TE von Krisztina Koenen ins Deutsche übersetzt.
Empfohlen von Tichys Einblick. Erhältlich im Tichys Einblick Shop >>>