Noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik scheint es in unserer Gesellschaft so schwergefallen zu sein wie heute, die andere Meinung auszuhalten und sachlich zu debattieren.
Statt: „Ich denke, Sie haben damit aus folgenden Gründen unrecht …“, scheint vor allem medial der Grundsatz zu gelten: „Wer nicht denkt wie wir, ist böse …“. Douglas Murray hat diese Haltung in einem Interview prägnant zusammengefasst mit den Worten: „Ich habe recht, und du bist Hitler.“ Raphael Bonelli hat die Spaltung in gute und böse Meinungen treffend als moralischen Narzissmus bezeichnet.
Narzissmus lässt sich in unserer Gesellschaft aber nicht nur im Bereich der Meinungsfreiheit und der Debattenräume feststellen. Solche Beobachtungen lassen sich in verschiedenen Bereichen machen. Einige davon sollen hier beispielhaft aufgelistet werden. Der weitere Artikel beschäftigt sich ausschließlich mit dem pathologischen Narzissmus. Was Narzissmus ist, kann hier nachgelesen werden.
Seit der massenhaften Verbreitung des Internets, von Smartphones, von Social Media und Co. spielt sich ein immenser Teil unseres Lebens in virtuellen Räumen ab. Influencer sagen uns, wie wir die Welt sehen sollen, und natürlich auch, welche Produkte wir zu kaufen haben. Nie waren unsere Geschlechtsidentität und unsere sexuellen Vorlieben einerseits wichtiger und andererseits so öffentlich wie heute.
Unser Körper ist schon lange nicht mehr der „Bruder Esel“ eines Franz von Assisi, sondern ein hoch aufgeladenes Objekt von geradezu magischer Bedeutung. Natürlich muss dieser Körper mit allen Mitteln den eigenen Wünschen entsprechend umgestaltet werden, zunehmend auch durch invasive medizinische Eingriffe.
YouTube: Das eigene Idealbild in die Welt tragen
Die Möglichkeiten, mit dem heutigen schnellen Internet und Social-Media-Plattformen die eigene Person in die Welt zu tragen, haben zu einer Ausweitung der sogenannten Celebrity Culture auf das Feld privater Personen geführt. Allein der Slogan „Broadcast Yourself“ von YouTube könnte als narzisstische Äußerung gedeutet werden. Statt Inhalte zu senden, soll die Person sich selbst oder besser: ein bestimmtes Bild von sich selbst in die Welt senden.
Die entsprechenden Social-Media-Plattformen stellen für die Erzeugung des künstlichen Selbstbildes daher auch etliche Tools zur Verfügung: die Möglichkeit der Nutzung falscher Identitäten oder zahlreiche Filter, die jeden vermeintlichen Makel überdecken.
Den Körper optimieren: Neue Brust, neues Kinn, neue Stimme, neue Identität
Damit einher geht schon länger eine Fokussierung auf das Jugendliche, die Sexualität und vor allem auf das Äußere, den Körper: Abgesehen von der virtuellen Verschönerung der Selfies durch Filter stellt die Medizin immer ausgefeiltere Techniken der körperlichen Modifizierung zur Verfügung: Fettabsaugung, größere Brüste, breiteres Kinn, neuerdings auch eine andere Stimme. Alles scheint möglich, wenn man die finanziellen Mittel dazu besitzt.
Neben der Veräußerlichung des Körpers lässt sich davon ausgehen, dass auch das Identitätsgefühl zunehmend nach außen dringt. Dies lässt sich bei der Geschlechtsidentität und der sexuellen Identität beobachten, wenn sich beispielsweise in den USA mittlerweile an die 20 Prozent der jungen Menschen aus der Generation Z als queer identifizieren.
Doch auch der deutliche Anstieg an Trans-Identitäten und den damit häufig verbundenen medizinischen Eingriffen lässt zumindest bei einem Teil der Betroffenen vermuten, dass hier auch psychische Symptome des pathologischen Narzissmus eine Rolle spielen könnten: Das Identitätsgefühl scheint nahezu ausschließlich auf den Körper und das Äußere verlagert zu werden.
Andere identitätsbildende Merkmale wie Kompetenzgefühl, Interessen, Kultur, Familie oder Religion scheinen immer weniger von identitätsstiftender Bedeutung zu sein. Hinzu kommt offenbar ein starkes Gefühl, Begrenzungen durch Gegebenheiten wie den biologischen Körper nicht mehr akzeptieren zu können.
Grenzenlosigkeit, Politik und der Verlust der Werte
In der Politik machen sich zunehmend Projekte breit, in denen zentralistische Prestigeprojekte zur Rettung der gesamten Welt durchgesetzt werden sollen. Dabei scheinen Zielkonflikte nicht mehr in Betracht gezogen zu werden. Als Beispiele sind hier zu nennen: Energiewende, Verkehrswende oder das umstrittene Heizgesetz.
Zudem scheint die deutsche Politik nicht mehr fähig zu sein, ihr Handeln bezüglich der Energiewende an den sie umgebenden Nationen auszurichten.
Die Grandiosität, mit der neuerdings wieder alle dem deutschen Sonderweg folgen sollen, erinnert psychologisch schon an narzisstische Grandiosität.
Wenn die andere Meinung böse ist
Der gesellschaftliche Diskurs spaltet sich immer mehr in Filterblasen auf. Es scheint zunehmend schwerer zu fallen, eine von der eigenen abweichende Meinung der Mitmenschen auszuhalten und sachlich zu beantworten. Menschen in einer pathologisch-narzisstischen Gesellschaft müssen zunehmend die Differenz zwischen sich und anderen auslöschen. Die Abweichung von den eigenen Interessen, der eigenen Meinung ist unerträglich und muss aggressiv bekämpft werden, weil er das zerbrechliche Selbstwertgefühl so enorm bedroht.
Die andere Meinung ist dann nicht mehr falsch und kann korrigiert werden, sondern böse. Damit einher geht, dass der eine andere Meinung äußernde Mitmensch nicht mehr trotz seiner Meinung geschätzt wird, sondern als böse aufgefasst werden muss. Man könnte es auf die Formel bringen: Wer eine falsche Meinung äußert, ist vielleicht im Unrecht. Doch wer eine böse Meinung äußert, ist böse.
So verwundert es kaum, dass unser gesellschaftlicher Diskurs zunehmend von Angriffen auf die Person geprägt ist. Der pathologische Narzissmus erträgt die Differenz nicht und muss seinerseits die Träger dieser Differenz „auslöschen“ – durch Diskreditierung und am Ende der Eskalation, so steht zu befürchten, auch durch Gewalt.
Was ist der Mensch? Ein Vakuum des Sinns
Da wir kollektiv mitten in der narzisstischen Entwicklung stecken, ist es schwierig, die Ursachen für diese Entwicklung genau auszumachen. Dennoch ist es möglich, einige davon zu benennen.
Wir haben mit der Entstehung unseres aktuellen wissenschaftlichen Weltbildes vor allem im Bereich der Technologie großartige Fortschritte gemacht. Die heutige reduktiv-materialistische und kritisch-rationalistische Ausrichtung an den Naturwissenschaften kann aber dem einzelnen Menschen keine ausreichend sinngebende Antwort geben auf die vier Kant’schen Grundfragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?
Die Wissenschaft kann uns nur unzulängliche Antworten auf diese Fragen geben. Die zunehmende Bedeutungslosigkeit der Religion für das Individuum in unserer Gesellschaft, ob zu Recht oder nicht, hat ein Vakuum des Sinns hinterlassen.
Ein Verlust der Rückbindung an das Transzendente führt zu einer existenziellen Todesangst, die durch narzisstische Größen- und Kontrollfantasien abzuwehren ist. Die Abwehr von Todesangst scheint eine wichtige Ursache für die Entwicklung der narzisstischen Gesellschaft zu sein.
Ideologien wollen dieses Vakuum füllen
Dieses Vakuum versuchen nun materialistische Ideologien zu füllen, sei es der Szientismus als Wissenschaftsreligion oder die postmodernen Neomarxismen, die auch unter dem Begriff „Wokeness“ bekannt geworden sind.
Die am offensten auftretende materialistische Ideologie mit transzendentem Anspruch ist aber sicherlich der Transhumanismus, der hierzulande kaum explizit auftritt, aber indirekt die aktuellen Themen der Gesellschaft mitbestimmt. Transhumanismus vertritt noch mehr als die postmodernen Ideologien, dass der Mensch alles sein kann – wenn er nur die richtigen technologischen Optimierungen in seinem Körper installiert, so er sich diese leisten kann.
Interessant ist, dass das Menschenbild des evolutionären Transhumanismus konträr zum christlichen und damit dem Menschenbild der Aufklärung steht. Während das christliche Menschenbild im Ursprung die unsterbliche Seele und die Gottesebenbildlichkeit vertritt, ist der Mensch im Transhumanismus grundsätzlich wertlos. Er ist ein „hackbares Tier“, wie Yuval Harari schreibt.
Er ist intrinsisch unwert, muss sich den Wert erst durch die technologischen Verbesserungen seines Körpers und seines Gehirns verdienen und kann schließlich sogar zum „Homo Deus“ werden, der sogar Unsterblichkeit erlangen kann, wenn er genug Geld hat, um sein Bewusstsein in die „Cloud“ hochzuladen.
Der intrinsische Unwert im Menschenbild des Transhumanismus zeigt die pathologisch narzisstische Prägung dieser Ersatzreligion, die versucht, den inneren Unwert durch äußere Grandiosität zu kompensieren.
Alle weiteren bislang genannten Merkmale und Felder der narzisstischen Gesellschaft sind vermutlich letztlich Konsequenz und Auswirkung der gesteigerten existenziellen Todesangst. Gleichzeitig verstärken sie zirkulär die narzisstische Entwicklung.
Gutes Zeichen: Spaltung führte bisher nur in kleinem Ausmaß zu Gewalt
Dass die Spaltung in unserer Gesellschaft bisher nicht in größerem Ausmaß zu Gewalt geführt hat, ist ein gutes Zeichen für eine an sich bestehende solide Basis unserer freiheitlichen Gesellschaft. Das Risiko einer weiteren narzisstischen Entwicklung ist aber durchaus gegeben und könnte – überträgt man die Reaktionsmuster im pathologischen Narzissmus auf die Gesellschaften – zweierlei Richtung nehmen. Im Folgenden der Versuch einer Prognose möglicher Zukunftsszenarien.
Die zweite Entwicklungsrichtung dürfte in weitere Spaltung führen, mit immer schärferer Bildung von Filterblasen und entsprechenden Gruppen, die nicht mehr miteinander diskutieren. Die Konsequenz könnte narzisstische Wut sein, mit dem Bedürfnis, eigene Aggressionen auf die andere Gruppe zu projizieren und schließlich auch mit Gewalt zu bekämpfen.
In jedem Fall besteht das Risiko einer immer weitergehenden Regression in zunehmend infantilere Verhaltensweisen in unserer Gesellschaft. Darin sind Grenzen wie diejenigen des Machbaren nicht mehr akzeptabel. Es kommt zu erheblichen Fehlanpassungen an die Umwelt. Dies gilt für viele Bereiche der Gesellschaft, von Ökonomie über Kultur bis zur Politik.
Hinwendung zu Mitmenschen, Tradition, Aufklärung
Der Ausweg aus der narzisstischen Entwicklung der Gesellschaft ist eine drängende, aber auch komplizierte Angelegenheit. Als ersten Schritt lässt sich sicher eine Ausbalancierung der Selbstbezogenheit durch die Hinwendung zum Mitmenschen nennen. Damit ist nicht Kollektivismus gemeint, der ja wie der Narzissmus alles Abweichende auslöschen muss.
Die andere Meinung wieder aushalten lernen, unsere Mitmenschen anhören und zu versuchen, sie zu verstehen, statt sie in der Spaltung für ihre Meinung zu verurteilen; bereit zu sein, sich auseinanderzusetzen und die Differenz anzuerkennen – das könnten wichtige erste Schritte sein.
Eine wieder gestärkte Verwurzelung in den Bereichen Kultur, Familie und Religion wäre eine auf individueller Ebene zu lösende Frage, um eine positive Vision der eigenen Identität, über die Fixierung auf Äußerliches wie Körperlichkeit oder Sexualität hinaus zu ermöglichen.
Auch eine Rückkehr zu den Werten der Aufklärung, die Wiederherstellung der Trennung von Öffentlichkeit und Privatleben, die Entpolitisierung von Lebensbereichen, die keine politische Relevanz haben, die Garantie der Freiheiten des Individuums und der Abwehrrechte gegenüber dem Staat scheinen wichtige Elemente zu sein, die Generationen vor uns bereits errungen hatten – und die uns zur Verfügung stehen, wenn wir uns dafür entscheiden, sie zu nutzen.
Johannes Heim ist Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut sowie Dozent und Supervisor für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und Co-Gründer des Hermes Instituts für private Bildung.
Dieser Beitrag von Johannes Heim erschien zuerst in The Epoch Times. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.