Aus „mehr“ Demokratie ist „weniger“ geworden. Debattiert wird nicht mehr die Einführung von Volksabstimmungen, sondern wie man die Demokratie vor ihren Wählern schützen sollte.
„Wir erleben eine schleichende Aushöhlung unserer Demokratie durch Demokraten; es ist eine Art Autoimmunkrankheit der Demokratie: Sie beginnt, sich selbst zu zerstören.“ Dieser Prozess ist in der Türkei dramatisch; in Russland hat die Entdemokratisierung autokratische Züge angenommen. Und Donald Trump regiert per Twitter-Dekret.
Die deutschen Ermahnungen an China sind verstummt, seit die Regierung die sozialen Medien ähnlich kontrollieren will, wie es China vormacht: Missliebige Meinungen werden erst moralisch denunziert und dann aus den Netzen getilgt. „Die Gipfelpolitiker der EU meiden zwar die Vokabel, schätzen aber das Prinzip autoritärer Missachtung des Volkswillens längst mit konspirativem Augenzwinkern.“ Und: „Die Demokratie liegt auf der Intensivstation: Darum reden seit Jahren alle, die die Wahrheit suchen, hier so leise.“ Getrud Höhler spricht laut, leidenschaftlich.
Die Verantwortlichen stehen fest
An der Schwelle zur ihrer möglichen vierten Kanzlerschaft seien viele dieser Fehlentwicklungen untrennbar mit der Person Angela Merkel verbunden. Das Verfahren wiederhole sich: Wesentliche Teile ihrer Politik bezeichne Angela Merkel gern als „alternativlos“ und entziehe sie damit dem Verfügungsraum des öffentlichen Diskurses. Die Medien ließen es mit sich geschehen; Ausblendung und Ausgrenzung statt Kritik werde zur Methode.
„Wer eine Story hat, obendrein eine wahre Story, der wird siegen, sagen die Amerikaner. Merkel hatte nie eine Story. Eher gab es Gründe, eine vorhandene zu unterdrücken. Die Kanzlerin reüssierte mit einer hidden story, die zu erzählen entweder zu langweilig oder zu gefährlich war. Wir wissen es nicht.“ Längst sieht sich Höhler mit dieser Kritik an den Rand gedrängt und greift gegen das Schweigen zur Feder.
Wenn man ihr neuestes Buch liest, das in diesen Tagen in der Edition Tichys Einblick vorgelegt wird, dann fällt auf, wie gut die uralte Methode funktioniert: Haltet den Dieb! Dabei hat Deutschlands Probleme nicht die AfD geschaffen. Die ungelösten und selbst gemachten deutschen Probleme erschufen die AfD. Frankreichs mindestens so tiefgreifende Probleme hat nicht der Front National verursacht und nicht die Familie Le Pen, sondern umgekehrt. Und Trump ist die Antwort auf eine Gegenkandidatin, über deren Qualität die Amerikaner mehr ahnten, als die Medien berichteten.
Im Bierzelt eine Wende verkünden
Seit Merkels Bierzeltrede geht Deutschland auf Anti-USA-Kurs und will vom treuesten Verbündeten zum Gegenspieler mutieren – Merkel setzt auch hier die Politik von Gerhard Schröder und seiner Abkehr von der transatlantischen Partnerschaft fort. Natürlich ist das bloß ein Spruch: Die EU kann ja nicht einmal ihre Außengrenzen sichern. Aber das Signal ist trotzdem eines. Macron spricht demonstrativ mit Putin über bessere Zusammenarbeit.
Es mehren sich die Anzeichen: Wir stehen am Beginn einer Zeitenwende. Diese Wende wird den Herrschenden über den Zeitgeist in keinem Land schwerer fallen als in Deutschland. Denn was Merkel als Politikwunder vorführt, ist ein „Politikwechsel ohne Chefwechsel. Die Christdemokraten gewinnen, und die Sozialisten regieren. Die Chefin liefert den Politikwechsel. Sie bringt die Opposition an die Macht.“
Und vernichtet sie gleichzeitig durch die Übernahme ihrer Positionen. Anders als Höhler glaube ich nicht, dass Merkel je wusste, was sie politisch wollte, außer die nächste Kanzlerschaft. Recht hat Höhler hingegen sicher, wenn sie konstatiert: „Die Merkel-CDU hat die Mitte freigegeben, um links die SPD zu entmachten. Die Mitte liegt jetzt rechts von der CDU …“.
SPD und Grüne genießen derzeit ihren höchsten politischen Durchsetzungsgrad in der Sache durch „ihre“ Kanzlerin. Zugleich bringt das die Grünen in die Gefahrenzone der Fünfprozenthürde und die SPD in jene unter 20. Aber was ist die Machtbasis, mit der Merkel weltweit zum Gegenspieler der USA werden will? Höhler findet die Antwort ausgerechnet in jenem Thema, das Deutschland spaltet wie kein anderes: „Als humanitäre Superpower hat Deutschland in der aktuellen Völkerwanderung ein Profil errungen, mit dem keine andere Supermacht wetteifern kann.“
Was war daran unvermeidlich, was Tagesopportunismus mit Langzeitwirkung, was diente dem Ziel, zur humanitären Großmacht zu werden, wie Höhler vermutet? Merkels Zuwanderungsfreigabe jedenfalls stellt den Zenit der Zeitgeistdurchsetzung dar, der Zeitgeist wurde deutsche „Leitkultur“. Vorübergehend. Jetzt beginnt Merkels nächstes Wendemanöver: „,Mitleid ist nicht mein Motiv‘, erklärt sie unvermittelt die jüngste Kehrtwende, jene vom Willkommens-Champion zum Abschiebe-Profi.“ Gefährlicher Antiamerikanismus sowie Uminterpretation der Flüchtlingspolitik sind atemberaubende Wendungen im Dienst der Stimmenmaximierung.
Was mich gleich zu besonders bemerkenswerten Höhler-Passagen bringt. Die russische Zarin Katharina sei die Gewährsfrau für zwei höchst unterschiedliche Politiker geworden – Putin und Merkel: „Katharina die Große hat eine Expansionspolitik betrieben, die denselben Territorien galt wie Putins Invasionspolitik im 21. Jahrhundert: die Halbinsel Krim, die Ukraine, der Zugang zum Schwarzen Meer.“
Mittlerweile verloren gegangen im öffentlichen Bewusstsein ist die Vorbildfunktion für Merkel. Höhler beschreibt die Folgen dieser Nichtbeachtung und die Neuinterpretation durch die Kanzlerin: „Die deutsche Kanzlerin ‚übersetzt‘ ihre russische Schirmherrin Katharina ins 21. Jahrhundert: Die Großmacht Europa startet mit der Entmachtung finanzschwacher Länder. Katharinas leibeigene Bauern sind in EU-Europa die im Sparghetto gefangenen Südeuropäer. Katharinas ‚Moder- nisierungspolitik‘ hat ihr aktuelles Pendant im Abbau der Kontrollfunktionen demokratischer Parteien.“
Ob nun Höhlers Analogie zu weit geht oder nicht, eines stimmt: Die „humanitäre Großmacht“ Deutschland schrumpft auf Normalmaß, noch bevor sie sich wirklich entfalten konnte. Denn das einzige Motiv und Maß internationaler Politik, das nie weg war, tritt wieder offen zutage: Interessen.
Keine Belehrung über Demokratie
Diktatoren wie Napoleon, Hitler und Stalin haben zwar auch Propaganda gemacht, die wir heute Public Relations nennen. Aber sie haben doch ihre Ziele recht offen benannt: die Herrschaft über Europa, wenn nicht die Welt. Oft kam anderes raus als angestrebt. Napoleon ging es nicht um die Verbreitung des Code Civil, obwohl er den hinterließ. Nicht ohne Grund heißt der Krieg in Amerika bis heute in einem Teil des Landes „Bürgerkrieg“ und im anderen „Krieg zwischen den Staaten“. Sklavenbefreiung war die wirksame PR der Nordstaaten.
Eine Begründung für Missionen, die universell zu sein schien, hat sich jedoch mit Barack Obama lautlos von der Weltbühne verabschiedet: die Demokratie. Was auf der internationalen Bühne gilt, wiederholt sich im Berliner Regierungsviertel. „Merkel-Deutschland zeigt eine gezielte, aber verschlüsselte Variante der Autokratie. Alle Großprojekte der Regierung Merkel starten als Alleingänge der Kanzlerin“, schreibt Höhler und setzt hinzu: „Als Flankenschutz für den autokratischen Trend entwickelte sich eine Tabukultur auf den Meinungsmärkten.“
Die EU-Führungsgremien hätten Merkels Spielart eines avantgardistischen Kurses in metademokratisches Neuland auch deshalb toleriert, weil die ökonomische EU-Leadership in Europa alternativlos erschien. Spürbar allerdings sind auch die Gegenkräfte: Der Brexit erwächst, trotz drohender Kosten, aus dem Wunsch nach Selbstbestimmung; in Osteuropa formiert sich zunehmender Widerstand gegen Deutschland. Er wird in Deutschland kaum wahrgenommen, der Trotz gegen Sparpolitik als mangelnde Dankbarkeit der Subventionsempfänger verstanden.
Flucht aus der Demokratie?
Gertrud Höhlers Befund ist eine Warnung oder ein Appell, je nachdem, wie man ihn liest: „Der ‚Konsens‘, den wir beim schleichenden Verlässlichkeitsverlust der Institutionen und der Parteien zur Tugend erklärt sehen, ist ein getarnter Fluchtversuch aus unserem Wertekonsens als Demokraten. Die Bundeskanzlerin darf sich als Avantgardistin dieses Wertewandels sehen: Aus der Demokratentugend der wertegeleiteten Debatte um schwierige Entscheidungen ist ein Placebo geworden: Konsens ohne Debatte im Stil von Einheitsparteien unter autokratischer Führung. Gelenkte Demokratien lernen den Generalkonsens als Machtmittel kennen und lieben. Sie praktizieren ihn selbst, wenn sie todernste Differenzen zwischen den beiden großen Volksparteien auf das Niveau von Schulhofrangeleien herunternivellieren. ‚Vertragt euch!‘, die von den Medien mitgetragene Kündigung des demokratischen Wettbewerbs bedeutet auch, dass wehrhafte Demokraten ihre Waffen resigniert bei einer politischen Führung abliefern, die genau diese Kapitulation auf ihrer Agenda hatte.“
Dies trifft zu auf ein Deutschland, das geradezu konsenssüchtig ist, Große Koalitionen liebt, weil sie sich dem Streit entziehen. Zusammenstehen und Konflikte vermeiden aber ist keine durchgängige Qualität von Demokratien, im Gegenteil. Längst ist ja der Befund, dass Deutschland in den vergangenen Jahren von einer Allparteienkoalition regiert wurde, in der die verbleibende Pseudoopposition nicht eine andere Politik, sondern nur mehr von derselben fordert – und damit das Grau fehlenden Streits über das Land legt.
Das Parlament hat sich dabei entmachten lassen: Längst kontrolliert die Bundesregierung das Parlament, nicht umgekehrt. Entscheidungen mit großer Tragweite werden von der Bundesregierung vorbereitet und im Bundestag nach kurzer Debatte verabschiedet. Es ist kein deutsches Phänomen allein: In den USA geht seit sehr langer Zeit unbeanstandet durch, dass über den Krieg im direkten Widerspruch zu Verfassung und Gewaltenteilung der Präsident allein entscheidet, wie früher die Fürsten, Könige und Kaiser.
In China unterhält die Kommunistische Partei eine gelenkte Gesellschaft, in der Politiker nicht alle paar Jahre wiedergewählt werden müssen und daher längere Horizonte in Angriff nehmen können. In vielen deutschen Gesprächen ist die „Attraktivität des Autoritären als Versuchung aus Fernasien“ zu spüren, die Ralf Dahrendorf schon 1995 beschrieben hat. Auf der Rechten gilt Putin als Option.
In Deutschland sind es die farblich nur changierenden Koalitionen, die gleichzeitig Beständigkeit organisieren und Veränderung blockieren, zur Überraschung der Wähler: „Wer 2013 Merkel wählte, bekam Nahles und Gabriel. Die beiden dürfen im Multimarkenshop der CDU ihre Produkte verkaufen. Bunter geht’s nicht. Jahrelang hat die Kanzlerin sich um die Markenkerne der anderen gekümmert. Heute ist das Chamäleon CDU die farbigste Kraft im politischen Markt.“
„So ging es bisher“, schreibt Höhler. „Wo keine Alternative sich auftat, wurden Löwenanteile der Wahrheit gestrichen. Immer wieder obsiegte die alternativlose Welt der Kanzlerin. Und die Deutschen von heute haben sich eingerichtet in dieser Welt, die immer nur eine Lösung kennt, nämlich die der Herrschenden.“ Trostlos.
Führt der beobachtbare „Sinkflug der Demokratie“ in Deutschland und anderen wichtigen Ländern zum unvermeidlichen Crash? Oder gibt es Gegenbewegungen? Selbstheilungskräfte? Falls ja, dann können sie nur aus der Mitte der Gesellschaft erwachsen, die sich wieder auf sich selbst besinnt und die Besetzung des politischen Raums durch immer radikalere und kleinere Minderheiten beenden muss.
Höhlers Buch ist eine glänzend geschriebene, streitbare und strittige Zeitdiagnose mit vielen Perlen und Gedankendiamanten.