Tichys Einblick
Mehr Marktwirtschaft wagen

Weißer Adler, flieg! Polen und sein wirtschaftlicher Aufstieg

Mit vielen überraschenden Details schildert ein neues Buch, wie Vietnam und Polen durch Wirtschaftsreformen den Kampf gegen die Armut gewannen, den Lebensstandard der Menschen sensationell verbesserten und was andere Volkswirtschaften daraus lernen können. Von Karsten Dahlmanns

Rainer Zitelmanns neues Buch „Der Aufstieg des Drachens und des weißen Adlers. Wie Nationen der Armut entkommen“ ist den wirtschaftlichen Erfolgen Polens und Vietnams gewidmet. Es handelt sich um ein Werk bejahenden Charakters – statt der üblichen, ermüdenden Kapitalismuskritik arbeitet es die Erfolge marktwirtschaftlicher Reformen heraus. Wo Unternehmer (einigermaßen) frei schalten und walten dürfen, brummt die Volkswirtschaft, und der Wohlstand aller Bürger steigt.

Es mag manchen deutschen Beobachter überraschen, daß Zitelmann neben Vietnam den östlichen Nachbarn Deutschlands heranzieht. Den Verfasser dieser Zeilen, der seit 2004 durchgängig in Polen lebt und arbeitet und sich darum auf die Polen gewidmeten Seiten in Zitelmanns Buch konzentrieren möchte, wundert es nicht. Den wirtschaftlichen Aufstieg des Landes miterlebt zu haben und weiter mitzuerleben, ist ein Privileg. Er resultiert in einer Atmosphäre, die von Zuversicht und Selbstbewußtsein geprägt wird. So läßt sich leben.

Zitelmanns Buch ist lesenswert. Viele Passagen über Polen sind im Stil einer Reportage gehalten, die Berichten und Reflexionen aus erster Hand – von Polinnen und Polen nämlich – weiten Raum gibt, um über die Zustände in der späten Volksrepublik, die ersten freien Jahre und die Gegenwart der Dritten Republik zu berichten.

Dies dient der Sache, da es einen Eindruck von Authentizität hervorruft und bemerkenswerte Vignetten einbindet, etwa den kommunistischen Steuerprüfer, der in den 50er Jahren die Besitzer kleiner Ladengeschäfte aus der Straße der Stalingrad-Verteidiger vertreiben will, „Schokoladenersatzprodukte“ als Ausdruck sozialistischer Mangelwirtschaft, deren polnische Bezeichnung „wyroby czekoladopodobne“ noch niederschmetternder klingt, da sie als „schokoladenähnliche Produkte“ rückübersetzt werden kann und zu allerlei Lästereien Anlaß gab und gibt, die Aufbruchstimmung nach Verabschiedung des Wilczek-Gesetzes 1988, welches weitgehende unternehmerische Freiheit schuf.

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Besonders sympathisch wirkt Zitelmanns Würdigung der Leistungen von Leszek Balcerowicz, des Vaters der polnischen Wirtschaftsreformen. „Ende August 1989 fragte ihn der neue polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki, ob er ‚sein Ludwig Erhard werden‘ wolle.“

Balcerowicz nahm die Herausforderung an und zeigte, „was für einen Ökonomen nicht selbstverständlich ist, auch ein gutes politisches Gespür, das ihm sagte: Es gibt in der aufgewühlten Situation nur ein sehr kurzes Zeitfenster für Reformen.“

Dieser Einsicht entstammt der, wie mir bei verschiedenen Gelegenheiten von Polen gesagt wurde, als zu radikal und plötzlich empfundene Charakter der Reformen. „Es bürgerte sich der Begriff ‚Schocktherapie‘ ein“, den auch Zitelmann verwendet, „wenngleich Balcerowicz darauf hinweist, dass mit dem Wort bereits ein negatives Framing verbunden ist: ‚Schon allein der Ausdruck Schocktherapie macht den Menschen Angst. Und tatsächlich ist er genau zu diesem Zweck oft verwendet worden.‘“

Zitelmann resümiert: „Die Reformen von Balcerowicz waren einer der größten Erfolge in den vergangenen 50 Jahren, vergleichbar nur mit den Reformen von Margaret Thatcher in Großbritannien, Ronald Reagan in den USA sowie den Reformen von Deng Xiaoping in China und den Doi-Moi-Reformen in Vietnam“.

Ökonomischer Populismus

Was bringt die Zukunft? Zitelmann warnt vor ökonomischem Populismus, den Ideen von Leuten, „die nichts von der Wirtschaft verstehen, aber viel davon, wie man Neid und Ängste der Menschen mobilisieren kann.“ Zurecht, denn es bestehen beunruhigende Zeichen wie erneute Verstaatlichungen und ein zunehmend aufgeblähter Sozialstaat.

Die PiS-Regierung sollte seltener mit dem irreführenden Attribut „nationalkonservativ“ bezeichnet werden. Weit realistischer wäre eine Bezeichnung als „christlich-sozial“, wobei die „sozialen“ Aspekte in fiskalpolitische Unverantwortlichkeit und, von Zitelmann nicht thematisiert, das Entstehen einer Schicht von Empfängern staatlicher Hilfen münden, wie sie der (übrigens ins Polnische übersetzte) berühmte Essayband „Life at the Bottom“ von Theodore Dalrymple beschreibt.

Wie Nationen der Armut entkommen
Vietnam: Doi Moi – der Aufstieg des Drachen
Es bleibt nichts einzuwenden, wo Zitelmann konstatiert, die PiS vertrete „in der Sozial- und Wirtschaftspolitik linke Ziele.“ Eher ließe sich der Einwand führen, daß die PiS, Zitelmanns Einschätzung entgegen, auch in Fragen der Familienpolitik keine konservative Politik führe, weil eine konservative Familienpolitik, die ihren Namen verdient, nicht auf Transferleistungen des Staats (in Polen „500+“, demnächst „800+“) aufbauen kann.

Glücklicherweise zeigen Umfragen, mit deren Ergebnissen Zitelmann seine Ausführungen über Polen beschließt, daß die Polen weit positiver der Markt- und Unternehmerwirtschaft gegenüber eingestellt sind und einen weit geringeren Sozialneidkoeffizienten zeigen als die Deutschen und andere europäische Völker. Am schlechtesten schneiden hier übrigens die PiS-Anhänger ab, was die zugegebenermaßen bloß anekdotischen Erfahrungen des Rezensenten bestätigen.

Zitelmanns Erhebungen nehmen seine empirische Neidforschung wieder auf, die seinen 2019 publizierten Band „Die Gesellschaft und ihre Reichen. Vorurteile über eine beneidete Minderheit“ bestimmt. Derartige Untersuchungen erweisen sich schon deshalb als wertvoll, weil sie sich um einen erfahrungswissenschaftlichen Charakter bemühen und der Empirie ihr Recht zukommen lassen. Zu oft werden solche Fragen in den Bereich unverbindlich-persönlicher Einschätzungen abgeschoben und auf Nimmerwiedersehen verabschiedet.

Natürlich ließe sich mit Wilhelm Röpke gegen Zitelmann anführen, daß sein Ansatz zu sehr im Wirtschaftlichen und Wirtschaftspolitischen verharre und kulturelle Faktoren allenfalls am Rande berücksichtige. Aber das macht nichts. Denn Zitelmanns Ausführungen sind informativ und ‚konkret‘ (empirisch) genug, um für sich selbst zu stehen – und später in eine breitere und tiefere Untersuchung à la Röpke integriert zu werden.

Karsten Dahlmanns ist promovierter Philosoph und habilitierter Literaturwissenschaftler. Er lebt und lehrt seit 2004 in Polen.

Rainer Zitelmann, Der Aufstieg des Drachens und des weißen Adlers. Wie Nationen der Armut entkommen. FBV, 208 Seiten, 25,00 €.


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