Tichys Einblick
Tichys Lieblingsbuch der Woche

Wehren wir uns im aktuellen Kulturkampf, der Freiheit und Leben bedroht

Wie ist es möglich, dass in den letzten Jahren Bewegungen so erfolgreich wurden, die unseren Lebensstil, unsere Kultur, Familie und Tradition zerstören wollen? Obwohl der Westen nicht nur den größten Massenwohlstand der Geschichte hervorgebracht hat, sondern auch den höchsten Grad an gesellschaftlicher Freiheit?

Viele Menschen fühlen sich überrollt – tagtäglich. Zuerst hat die „Political Correctness“ vielen den Mund verboten. Dann die „Cancel Culture“ Kritiker ausgegrenzt, als „Rechte“ diffamiert. Es folgte der Genderismus, der unsere Sprache verändern will, um Sachverhalte nicht mehr sagbar zu machen und jeden Sprecher zwingen will, seine Unterwerfung zu signalisieren, indem er nur noch Stotterdeutsch verwendet. Über „Kontaktschuld“ soll jeder, der anderer Meinung ist, ausgegrenzt werden.  „Rassismus“ und „Kolonialismus“ sind Schlagworte, die unser Denken begrenzen und unsere Tradition in Staat und Gesellschaft entwerten soll. Selbst am Berliner Dom soll das traditionelle Schriftband überschrieben werden, damit nichts mehr an das Christentum und unsere davon geprägte Kultur erinnern soll.

Es sind keine Einzelfälle mehr. Mit gezielten Kampfmaßnahmen sollen die Bürger umgepolt, zum Schweigen verdammt, ihr Denken kontrolliert, ihre Bekanntschaften überwacht, ihre Mails und App-Nachrichten zensiert werden. Wie sich dagegen wehren? Wie gegen die Übermacht aus Politik, grünen Parteien aller Schattierung und öffentlich-rechtliche Medien zur Wehr setzen?

Bericht aus der Hauptstadt:
Friedrich Wilhelm, Außerirdische – und dazwischen Ricarda Lang
Um es gleich vorwegzunehmen: Giuseppe Gracia ist es mit seinem knapp 96 Seiten kurzen Essay gelungen, eine knackige und luzide Analyse der aktuellen Debatten und Protestbewegungen vorzulegen, der Durchblick ebenso ermöglicht, wie er gute Argumente und Handlungsmaximen liefert. Den neuen Kulturkampf, dem sich keiner von uns auf Dauer entziehen kann, beschreibt er im Kern als gegen Freiheit und die Wurzeln des jüdisch-christlichen Erbes gerichtet. Manche Schilderung mag inhaltlich vertraut erscheinen, doch in ihrer komprimierten Darstellung gelingt es Gracia zuzuspitzen und auf den Punkt zu bringen, worum es geht. Ein Beispiel:

»Freiheit ist ein Wert, eine innere Haltung, das Ergebnis erfolgreicher Selbsterziehung. Eine Kultur der Mündigen und Eigenständigen setzt Arbeit und Disziplin voraus – einen beharrlichen Willen zur Förderung der persönlichen Mündigkeit. Das entspricht nicht dem menschlichen Instinkt. Anthropologisch gesprochen sucht der Mensch nicht die Risiken der Freiheit auf der Wildbahn, wenn er nicht muss. Stattdessen sucht der Mensch Nestwärme, das Sicherheitsgefühl in der Herde. Der Mensch will behütet sein. Er will, dass jemand sich um ihn kümmert. Das erklärt die anhaltende Anziehungskraft sozialistischer Modelle mit dem Versprechen, dass der Staat sich kümmert. Dass der Staat die Gefahren von Freiheit und menschlicher Willkür zu bannen vermag, kraft einer höheren Autorität. (…)

Nestwärme und Herdentrieb kommen aus der Angst des Menschen vor den Risiken des Lebens. Diese Angst macht sich der Sozialismus zunutze. Der Sozialismus in allen seinen Formen und ideologischen Ausprägungen – wie auch immer er heute auftreten mag – setzt am Ende immer auf Bevormundung, Zwang und Konformismus.«

Wie stark Bevormundung, Zwang und Konformismus unsere sich nach wie vor als freiheitlich verstehende Gesellschaft bereits durchdrungen haben, macht er an einer Reihe aktueller Beispiele anschaulich: im Namen des Fortschritts, der Gerechtigkeit und Freiheit sind Partikularinteressen ins gesellschaftliche Zentrum gerückt und stellen die Grundlagen und Prioritäten demokratischer Gemeinwesen auf den Kopf.

Das Eigene und das Fremde
Es geht um die eigenen Privilegien, nicht um eine gerechtere Gesellschaft
Das geht einher mit offensiven, moralisierenden Appellen, sich »zu unseren Werten« zu bekennen und unzähligen politischen »Bekenntnissen«, sich stets für »unsere Werte« einzusetzen. Dabei wird wohlweislich vermieden, diese Werte konkret zu definieren und auf die rechtlichen Grundlagen unserer Gesellschaft zu verweisen, in denen sie verankert sind, bzw. sein sollten.

»Was bedeutet der grassierende Moralismus überhaupt für unser Selbstverständnis als säkularisierte Gesellschaft?«, fragt Gracia, »Säkularismus meint ja nicht nur die Trennung von Staat und Religion, von Gesetzgebung und persönlicher Weltanschauung. Sondern damit ist auch die Erkenntnis verbunden, dass eine liberale Gesellschaft allen Mitgliedern eine gedanklich-moralische Sphäre der Freiheit garantieren muss. Das geht nicht ohne Trennung von Macht und Moral. (…) Was ist davon zu halten? Was bedeutet der Versuch, politische Programme mit Verweis auf höhere Werte verbindlich ans Gewissen der Bürger zu binden und Alternativen als ethisch minderwertig abzukanzeln?

Der Philosoph Robert Spaemann machte bereits 2001 in seinem Artikel ›Europa – Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung?‹ darauf aufmerksam, dass es gefährlich ist, vom Staat als ›Wertegemeinschaft zu sprechen, denn die Tendenz besteht, das säkulare Prinzip zu Gunsten einer Diktatur der politischen Überzeugungen zu untergraben. Das Dritte Reich war eine Wertegemeinschaft. Die Werte – Nation, Rasse, Gesundheit – hatten dem Gesetz gegenüber immer den Vorrang. Das Europa von heute sollte sich von diesem gefährlichen Weg fernhalten.›» 

Giuseppe Gracia, Die Utopia Methode. Der neue Kulturkampf gegen Freiheit und Christentum. Fontis Verlag, 96 Seiten, 9,90 €.

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