Warum „die“ Juden? Warum sind sie weltweit ein Dauerthema? Es sind heute doch nur rund 14,5 Millionen bzw. 0,2 Prozent der Menschheit. Ich sehe vor allem zwei Gründe. Der erste ist religiös, der zweite wegen Israel weltpolitisch sowie weltwirtschaftlich.
Solange und wenn Christen und Muslime religiös oder gar fundamentalistisch waren und sind, können sie Juden gegenüber zumindest nicht indifferent sein. Das war in ihren jeweiligen Anfängen besonders deutlich zu beobachten. Weil Frühchristen nicht mehr Juden sein (und die Juden sie nicht als Juden dulden) wollten, wählten die Frühchristen den verbalen Angriff als Abgrenzung zum Judentum. Und weil der Frühislam Judentum und Christentum überwinden und, so die Selbstdarstellung, „vollenden“ wollte, wählte der Frühislam den Angriff als Abgrenzung zum Judentum und Christentum.
Doch Christentum und Islam sind ohne theologische und geografische Bezüge zum Judentum undenkbar. Das wiederum bedeutet: Sie können Juden gegenüber nicht gleichgültig bleiben. Auch säkulare bzw. weltlich orientierte Christen und Muslime können es „danach“ nicht mehr. „Danach“? Ja, nach den Unsäglichkeiten der alles andere als – für die Juden – leidlosen Geschichte sowie, immer noch oder schon wieder in der Gegenwart; ohne realistische Aussicht auf eine bessere Zukunft.
Weshalb? Weil – außer der extremistischen Neurechten – die Lage in Nahost sowie der demografische Wandel Westeuropas, sprich: die aus welchen Gründen auch immer weiter wachsende Zahl nicht integrierter, extremistischer Muslime – nicht weniger, sondern eher mehr Antijüdisches erwarten, genauer: befürchten lässt. Knapp die Hälfte der Menschheit sind Christen oder Muslime, und Nahost bleibt ein globales Pulverfass. Ergo beschäftigt einen Großteil der nichtjüdischen Welt Jüdisches auf die eine oder andere Weise.
Zum Politischen: Auch Nichtgläubige haben nach der Aufklärung und der Fastentchristlichung Europas Juden attackiert oder gar liquidiert. Die Aufklärung begann verheißungsvoll: Lessings „Nathan der Weise“. Das Idealbild vom Juden. Unter pseudoaufgeklärten Vorzeichen kehrte bei Voltaire (besonders im „Candide“) das alte Zerrbild wieder. Auch heute findet man das Realbild von Juden, also diasporajüdischen und israelischen, selten. „Kontinuität im Wandel“ der jüdischen Geschichte von Diskriminierung oder Liquidierung. Unausweichlich sind die Folgen für Juden und Nichtjuden. Im Bild gesprochen: Wie bei Shakespeare ist der Geist der Ermordeten beim Mörder (Macbeth) und Opfernachfahren (Hamlet) präsent.
Anders als im weltweiten Diskurs üblich, übersehe man in diesem Zusammenhang außerdem nicht, dass es in der islamischen Welt eine enge, freiwillige Zusammenarbeit mit Hitler-Deutschland gab. Nicht nur politisch und militärisch im verständlichen Kampf gegen die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich, die Sowjetunion sowie, auf dem Balkan, gegen die serbische Dominanz – auch bei der Judenvernichtung.
Der nahöstliche Dauerkrieg ist seit jeher sowohl religiös als auch politisch. Er (be)trifft inzwischen die gesamte islamische, (nenn-)christliche und jüdische Welt. Stichwort internationaler Terror und globale Terrorbekämpfung.
Der zweite globale Schauplatz jenes Konflikts ist die Weltwirtschaft. Einstweilen sind Erdöl und -gas aus islamischen Staaten unverzichtbar. Somit ist allein Israels Existenz für Öl importierende Staaten ein weltwirtschaftlicher Störfaktor. „Die Juden sind schuld.“ Das Motto ist neu und sehr alt zugleich.
Diasporajuden sind davon aus zwei Gründen besonders betroffen. Erstens: Von der nichtjüdischen Welt, erst recht der muslimischen, werden sie als Israels Fünfte Kolonne betrachtet. Folglich geraten sie direkt in die terroristische oder zumindest politische Schusslinie der Israelthematik. Zweitens: Das Diaporajudentum war nie Israels Fünfte Kolonne, doch für jeden Juden, sogar den antizionistischen, ist der Jüdische Staat eine Art Lebensversicherung. Zwar nahm die Israelbindung bzw. -identifizierung der Diasporajuden seit den 1980er Jahren nachweislich deutlich ab, aber die Einwanderung nach Israel nahm zu.
Die zunehmende Entisraelisierung der Diasporajuden ist eine Folge der innerjüdischen Spaltung in Israel. Sie betrifft die Palästinenser- und Siedlungspolitik, die Theokratisierung, die „Orientalisierung“ sowie die „Russifizierung“ Israels. Sie bewirkte den Ruck nach rechts, zum Nationalismus und zur militanten Ausprägung der Religion in Israels Gesellschaft, und dieser Wandel entspricht dem Geist der jüdischen Diaspora eher nicht. Abgeschwächt und doch deutlich erkennbar spiegelt dieser Diasporageist den antiheroischen, areligiösen und eher supranationalen Zeitgeist der westlichen Staaten wider, in denen die freiwillige jüdische Diaspora am häufigsten zu finden ist.
Vor islamischem Terror sind die Juden auch in Israel nicht sicher, doch sie wissen: Wenn überhaupt ein Staat seine Bürger schützen kann und will, weil die Gesellschaft dessen Gewaltmonopol billigt und Polizei sowie Militär als Teil ihres Wir wahrnimmt, dann Israel. Im „World Happiness Report 2018“ rangiert Israel nach den Spitzenreitern Finnland, Norwegen und Dänemark auf Rang 11, Deutschland auf 15, USA auf 18, Großbritannien auf 19, Frankreich auf 23. Anders als früher bietet Israel also auch ideell und materiell eine echte Alternative.
Die Reisraelisierung der Juden hängt ebenfalls mit einem weltweit zunehmenden militanten Antizionismus zusammen. Dessen Träger sind wahrlich nicht nur Muslime. Antizionismus ist weit mehr als Israelkritik. Diese richtet sich gegen Maßnahmen der Jerusalemer Regierung, jener gegen das Existenzrecht Israels und gilt scheinbar „nur“ Israelis, tatsächlich schwappt er auf „die“ Juden über. Für diese These bedarf es leider keiner Einzelnachweise mehr. (…)
Zur jüdischen Situation gehört Israel als Staat der Juden. Rund 65 Prozent der Juden leben aber in der Diaspora. Wer sich als Diasporajude an Israel orientiert, versteht sich als „Zionist“ und praktiziert Israelismus. Doch Israelismus außerhalb Israels ist auf Dauer eine Lebenslüge und letztlich absurd.
Wer weder religiös und kulturell noch israelistisch lebt, erlebt als Diasporajude nur die jüdische Situation ohne genuin jüdische Inhalte. Sie ist negativ durch klassisch-religiöse, rechts- und linksideologische sowie islamische Judenfeindschaft geprägt – also nur negativ fremdbestimmt.
Das wiederum bedeutet: Diese jüdische Situation ist, jüdisch betrachtet, nicht ausreichend positiv selbstbestimmt. Die jüdische Situation in der Diaspora ist stark bestimmt von Leid, Verfolgung, Traumata, Ängsten.
Das Faktische hat für die meisten Diasporajuden das Substanzielle bzw. Wesensmäßige ersetzt. Das ist die eine Seite. Die andere: Da, wo das Dasein der Juden unjüdischen Charakter annimmt, ist es Teil der allgemeinen Verweltlichung moderner Gesellschaften. Wie jede moderne Gemeinschaft wurde auch die jüdische von ihr erfasst. Die meisten Diasporajuden haben sich von der Religion weitgehend entfernt. Für Deutsche, Engländer oder Franzosen ist die Verweltlichung keine echte Gefahr, wohl aber für Juden. Deutsche bleiben mit oder ohne Säkularisierung Deutsche. Was aber sind Juden ohne Judentum? Eine durch nostalgische Pietät oder pure Geselligkeit zusammengefügte inhaltslose Folkloregemeinschaft, die sich mangels Inhalten auflöst.
Erhaltenswerte jüdische Inhalte gibt es. Wahre Schätze. Wer lebt sie? Von innen betrachtet, jenseits aller Gefahren von außen, führt die nichtreligiöse, kulturell und historisch ajüdische Mehrheit der Diaspoajuden eine geradezu klassisch „absurde Existenz“. Sie ist jüdisch und zugleich nicht jüdisch.
Für das Diasporajudentum denkbar ist nur ein Überlebensweg: der religiöse und/oder kulturell-historische Versuch. Das „Alles“ der jüdischen Orthodoxie können und wollen die meisten nicht erfüllen. Sie können es nicht, weil sie nicht mehr ungebrochen an Gott glauben. Das ist die eine Seite. Die andere: Nur die Orthodoxen gewinnen auch bei Juden an Boden.
Reformjuden sind Juden, die nicht mehr wirklich traditionell sein können und (noch?) nicht ganz unjüdisch im religiösen, kulturellen und historischen Sinne werden möchten. Das Reformjudentum ist für die einen jüdischer Rettungsanker, für die anderen Sprungbrett vom Judentum ins jüdische Nichts. Gibt es für die jüdische Diaspora nur noch diese Alternative: Israel, die Orthodoxie oder das Nichts?
Es gibt Hoffnung: Alle Verfolgungen, sogar die „Endlösung“, hat dieses Ethik-, Kultur, Kreativitäts- und Leistungsvolk überlebt. Totgesagte leben länger. Wie?
Leicht gekürzter Auszug aus:
Michael Wolffsohn, Eine andere Jüdische Weltgeschichte. Herder Verlag, Klappenbroschur, 368 Seiten, 18,00 €.
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