Tichys Einblick
EU-Gründungsmythos Antipopulismus

Was ist eigentlich Populismus?

Wahrscheinlich wollten Sie das schon lange wissen. Populisten sind Leute, die der Mainstream nicht mag, sagte auf seine Weise schon Ralf Dahrendorf.

Wahrscheinlich wollten Sie das schon lange wissen. Populisten sind Leute, die der Mainstream nicht mag – so fasst die Bedeutung des neumodischen Schimpfwortes der Soziologe und Autor des Internet-Magazins Spiked, Frank Furedi, zusammen. Und weiß noch mehr Erhellendes über das ideologische Waffenarsenal der EU zu berichten.

Was ist Populismus? Wer fällt das Urteil und warum? Diese Fragen trieben den im klassischen Sinne liberalen britischen Soziologen ungarischer Abstammung, Frank Furedi, um und führten zu einem umfangreichen Essay, in dem es um Erklärungen für die tiefe Spaltung unter den Ländern der Europäischen Union und vor allem innerhalb aller westeuropäischen Gesellschaften zwischen der Mehrheitsbevölkerung und den globalistischen Eliten geht. Sein neues Buch, „Populism and the European Culture Wars“ (Populismus und der europäische Krieg der Kulturen), ist eine profunde Analyse der einander ausschließenden Wertesysteme von Antipopulisten und Populisten, der Entstehung des antipopulistischen Welt- und Geschichtsbildes, der offenkundigen Legitimationskrise der Europäischen Union und deren Rolle bei der Entwicklung des Phänomens Antipopulismus.

Was ist Populismus, dessen die ungarische und polnische Regierung sowie jede westeuropäische Partei, die sich außerhalb des Mainstreams befindet, von der EU beschuldigt werden? Wer definiert, was Populismus ist? Und woher kommt die offenkundige Unversöhnlichkeit der Standpunkte von „Populisten“ und „Antipopulisten“? Die eingehende Betrachtung dieses Konflikts führte den Soziologen Furedi zur Erkenntnis, dass es sich hierbei um einen europäischen Krieg der Kulturen und Werte handelt, dem mit dem Gegensatz von Links und Rechts nicht beizukommen ist.

„populistisch“ und „konservativ“
Medien und falsche Vergleiche
Populismus ist heute die Kurzfassung für die moralische Verurteilung eines Großteils der europäischen Bevölkerungen durch ihre Eliten, insbesondere der technokratischen EU-Eliten, „ein Begriff, mit dem Antipopulisten Leute beschreiben, die sie nicht mögen“. Sie bezeichnen damit Menschen, „die irrational, ungebildet, vermutlich EU-feindlich und nationalistisch“ eingestellt sind. Sie sollen voller Vorurteile, meistens rassistisch und fremdenfeindlich, möglicherweise sogar faschistisch sein. Sie sind oft religiös, traditionalistisch und sind Anhänger einer vermeintlich überholten Lebensweise. Die Krankheit des Populismus befällt nicht nur Individuen, sondern auch ganze Nationen. So richtet sich die Kritik der Antipopulisten nicht nur gegen die ungarische Fidesz-Regierung, sondern gegen das ganze ungarische Volk, das als nationalistisch, rassistisch und tendenziell nationalsozialistisch dargestellt wird. Was von den Antipopulisten als – zum Teil unzutreffende – politische Kritik daherkommt (in Ungarn gebe es keine freien Medien, die Demokratie und die Grundrechte seien abgeschafft), ist in Wirklichkeit eine Kritik der Kultur und der Werte, die von der Regierung und der Bevölkerungsmehrheit in Ungarn vertreten werden. In diesem Konflikt der Werte erfährt jede politische Maßnahme eine moralisch aufgeladene Beurteilung – wie beispielsweise die verschiedene Deutung von Zäunen, je nachdem, welches Land sie aufgestellt hat. In dem Kampf zwischen Gut und Böse – zwischen Populismus und Antipopulismus – kann es keine Kompromisse geben.

Furedi weist darauf hin, dass das Wort „Populismus“ erst durch den gegenwärtigen Antipopulismus zu einem negativen, verurteilenden Begriff geworden ist. Im 19. Jahrhundert war Populismus noch eine legitime politische Richtung, deren Vertreter die Interessen des einfachen Volkes vertraten. Zu einer „Krankheit und zu einem pathologischen Befund“ ist er erst im 21. Jahrhundert geworden. Und obwohl die Feindseligkeit gegen das Volk, den Demos, während der ganzen Geschichte der Demokratie präsent war, hat die elitäre Verachtung der Bevölkerungsmeinung noch nie ein ähnliches Ausmaß erreicht.

Umgekehrt verbindet die verschiedenen Bewegungen, die heute als populistisch bezeichnet werden, die Ablehnung der Kultur und der Werte der westlichen Elite. Dazu gehören Multikulturalismus, Globalismus und alle Unterarten der Identitätspolitik. „Aber das zentrale Thema, das den verschiedenen Kontroversen zu Grunde liegt, ist die Kontroverse über die Bedeutung der nationalen Souveränität und des Nationalstaates. Die transnationale Perspektive, die die Institutionen der EU durchdringt, sieht die nationale Souveränität als überholtes und potentiell zersetzendes Ideal an“. Gerungen wird dabei um das Recht und die Macht, Werte zu definieren. Jeder Versuch, der EU und ihren Institutionen dieses Recht abzusprechen, oder es auch nur in Frage zu stellen, kommt dem Abfall von der „europäischen Idee“ gleich. „Wer die Autorität der EU (und ihrer supranationalen Institutionen) in Frage stellt, ist ein Feind der liberalen Demokratie … Die Ablehnung der EU ist damit kein legitimer Standpunkt mehr und wird als die Ideologie des Feindes verurteilt“.

So gesehen könnte die größte Sünde des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán gewesen sein, schreibt Furedi, dass er als erster auf das bis dahin nicht offen deklarierte Ziel der EU hinwies, die Abschaffung der Nationalstaaten, der nationalen Idee schlechthin und von allem, was damit in Zusammenhang gebracht werden kann, zugunsten eines einheitlichen elitistisch-technokratisch regierten Kontinentalgebildes, eines „Empire ohne Nation“ anzustreben.

Kampfbegriff schadet der politischen Kultur
Abschied vom Populismus
Wie aber konnte es dazu kommen, dass die EU und die mit ihr verbundenen Eliten zur einzigen legitimen wertesetzenden Instanz in Westeuropa geworden sind? Von Anfang an hatten EWG, EG und schließlich EU zwei große Probleme: das Problem der Legitimität und das der Loyalität. Die Quelle beider Probleme war die gleiche: Sowohl demokratische Prozeduren als auch die europäischen Identitäten waren an die bestehenden Nationalstaaten gebunden. Es musste deshalb eine „Erzählung“ her, die die nationalen, traditionellen Bindungen ersetzen und den Bürgern der EU eine neue, transnationale Bindung anbieten – oder vielmehr aufzwingen sollte. Dazu musste vor allem die Geschichte umgeschrieben werden.

Das Geschichtsbild des europäischen Projekts, ob als EWG, EG und schließlich EU, ging von Anfang an davon aus, dass 1945 eine Art Stunde Null der Geschichte sei. Zunächst wurde die neue Epoche als Friedensepoche definiert, die in scharfem Gegensatz zur kriegerischen Geschichte Europas vor 1945 gesehen wurde. Europa als Friedensprojekt hatte jedoch zur Bedingung, dass die ganze vorhergehende Geschichte zur grauen, wenn nicht finsteren Vorzeit deklariert wurde, aus der nichts Gutes, keine Tradition, keine Bindung und keine Werte mitgenommen werden durften: weder die Nation, noch die Familie, noch der Glaube. Die Idee vom Neuanfang von Geschichte war eine Verneinung von allem, was europäische Identität bis dahin ausmachte. Die neue europäische Identität konnte erst geschaffen werden, wenn man alle Wesenszüge der historischen europäischen Identität – vor allem die Rolle des Christentums – ausgelöscht hatte.

Die Ächtung des Krieges und die Schaffung des ewigen Friedens als der Gründungsmythos des europäischen Projekts war immer schon eine schwache Legitimation und noch viel weniger als Quelle von Loyalität geeignet. Sie funktionierte aber mehr schlecht als recht, so lange der Kalte Krieg und die wirtschaftliche Prosperität ungebrochen anhielten. Doch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und nach mehreren Wirtschaftskrisen musste eine neue, stärkere Fundierung her. Diese fand man im Faschismus und Nationalsozialismus, sie wurden zur Ursünde, aus dessen Sühne die Identität des neuen Europäers und die neue europäische Gesellschaft entstehen sollten. Um echte Geschichte und echte Bestürzung über die Tragödie der beiden Weltkriege und des Holocaust ging es den EU-Eliten zu keinem Zeitpunkt. Sie brauchten vielmehr ein alles überragende Symbol, das die Neufassung von Geschichte und Identität als Fundament des europäischen Gesamtstaates einleiten sollte.

Geschichte wurde von nun an rückwärts geschrieben: Man entdeckte, dass alle Wege der dunklen, von Nationen geprägten Vorgeschichte zu Faschismus und Nationalsozialismus und in ihrer Folge zu Rassismus und Intoleranz führten. Der Glaube, dass „Nation und nationale Selbstbestimmung die entscheidenden Gründe für die Europa zerstörenden Kriege seien“, gehörten zu den „Gründungsmythen“ der europäischen Integration. Flankiert wurde dieser Mythos durch die – von Jürgen Habermas vehement vertretene – Theorie des Verfassungspatriotismus, der durch die Loyalität zu einem Verfahren ohne Inhalt die tradierte Loyalität zu Land und Menschen einer Nation ersetzen sollte. Der ortlose, ideelle, supranationale Patriotismus war – zumindest in der Theorie – geboren. Insofern ist die Bezeichnung „nazi“ für jede auch nur geringfügige Abweichung von den europäischen Doktrinen durchaus konsequent.

Vom Stillstand der Politik
Linkspopulismus gegen Rechtspopulismus?
Dass die Osteuropäer dieser Geschichtsklitterung nicht folgen konnten, hätte klar sein müssen. Für Osteuropäer war 1945 mitnichten die Stunde Null. Wenn es für sie je eine Stunde Null gegeben haben sollte, so war es 1989, als der Kommunismus zusammenbrach. Den meisten in Osteuropa sprangen die Gemeinsamkeiten der kommunistischen Sowjetpropaganda und der EU-Ideologie ins Auge: Auch die kommunistische Geschichtsschreibung legte großen Wert auf die Definition von 1945 als Stunde Null, als die kommunistische Umgestaltung der Ostblockländer begann. Und auch die Behauptung, alle Übel der Gegenwart hätten ihre Wurzeln in der nationalen Vergangenheit, weshalb diese mit Stumpf und Stiel ausgerottet gehören, ist den Osteuropäern bestens bekannt.

Wenn sie zeitweilig zumindest auf dem Papier dem EU-Weltbild folgten, hatte das einen Grund: „Für die osteuropäischen Gesellschaften war die Europäisierung der nationalen Identität keine Option, aber eine Voraussetzung für den Eintritt in die EU“, schreibt Furedi. Dieser Widerspruch blieb, so lange die postkommunistisch-europhilen Eliten in Osteuropa an der Macht waren, unter der Oberfläche, und man konnte so tun, als ginge es nur um kleine Unsicherheiten, die mit der Zeit verschwinden würden. Stattdessen brach der Kampf um die Bedeutung der Nation und der mit ihr verbundenen Werte mit der Massenmigration offen aus, und das nicht allein zwischen Ost und West, sondern auch wenig später innerhalb der westeuropäischen Gesellschaften.

Furedis Analyse enthält viele, sehr tiefgehende Betrachtungen über die Wege und Folgen der Verleugnung der europäischen Geschichte, die im Rahmen einer Rezension nicht einmal aufgezählt werden können. Man muss sich nicht für Ungarn interessieren, um diesen Essay mit großem Gewinn zu lesen. Die wichtigste Erkenntnis des Buches ist, dass es beim antipopulistischen Furor der westeuropäischen Eliten keineswegs um eine harmlose Entgleisung, sondern um den Versuch der Durchsetzung einer totalitären Ideologie handelt. Es endet mit der Schlussfolgerung: „Grenzen sind eine Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der nationalen Souveränität, und die ist die einzige Grundlage, die die Menschheit entwickelt hat, die demokratische Berechenbarkeit zu institutionalisieren. … Ohne Grenzen wird der Bürger zum Untertanen einer Macht, die keiner Rechenschaft pflichtig ist. Und das ist der Grund, warum – vom demokratischen Standpunkt aus – so wichtig ist, dem antipopulistischen Feldzug gegen die nationale Souveränität entgegenzutreten“.

Krisztina Koenen


Frank Furedi: Populism and the European Culture Wars – The Conflict of Values between Hungary and the EU, Routledge, London, 2017, 17,99 bei Amazon

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