Tichys Einblick
So wird ein Niemand zum Jemand

Warum fühlen sich Westeuropäer schuldig für ihre Geschichte?

Schuld ist zu einem moralischen Desinfektionsmittel in Westeuropa geworden, diagnostizierte der französische Philosoph Pascal Bruckner. Statt für sich selbst verantwortlich zu sein, versteht sich mancher als selbst ernannter Vertreter der Lebenden und der Toten. So wird ein Niemand zum Jemand.

Das Osmanische Reich war eines der größten und am längsten existierenden Reiche in der Geschichte. Über mehr als 600 Jahre herrschte es über ein riesiges Territorium, zwang seinen Untertanen islamischen Glauben und Kultur auf und bestrafte nach seinem eigenen Rechtssystem jene, die sich dagegenstellten. Es drang durch seine Militärmacht nach Südosteuropa, in den Nahen Osten und nach Nordafrika vor, und nur die Stärke einer Koalition europäischer Armeen konnte in der Schlacht bei Wien am Kahlenberg 1683 Europa vor der Osmanischen Herrschaft bewahren.

Im Laufe des Ersten Weltkrieges fiel das Reich auseinander. Doch währenddessen verübte es eine der schlimmsten Gräueltaten in der Geschichte und tatsächlich den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts. Die Vernichtung der armenischen Bevölkerung Anatoliens war ein Massaker an mehr als einer Million Menschen innerhalb weniger Jahre. 1973, fünf Jahrzehnte nach dem Zerfall des türkischen Reiches, fiel die Türkei über Zypern her. Ihre Armee besetzte die Hälfte der Insel, ermordete griechische Zyprioten und vertrieb andere aus ihrer Heimat. Die Besatzung hält bis zum heutigen Tag an, obwohl die Türkei Mitglied der Nato ist und der griechische Teil Zyperns Mitglied der EU. Man kann der Auffassung sein, dass die Türkei als eine historische Macht nicht schlimmer, aber bestimmt nicht besser war als irgendein anderes Land der Welt. Es ist bemerkenswert, dass dies alles kaum erwähnt wird, dass die Türken selten oder so gut wie nie veranlasst werden, sich für die historische Rolle der Türkei schuldig zu fühlen.

Das geschieht teilweise deshalb, weil die türkische Regierung sicherstellt, dass es so bleibt. Einer der Gründe, warum die moderne Türkei im Weltmaßstab führend bei der Einkerkerung von Journalisten ist, liegt an dem Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches, demnach es eine Straftat ist, »die türkische Nation zu beleidigen«. Es ist gegen das Gesetz, den armenischen Völkermord auch nur zu erwähnen, und wer es trotzdem tut, wandert ins Gefängnis. Und obwohl einige griechische Zyprioten die anhaltende Besetzung des Nordteils ihrer Insel beklagen, hat das die britische Regierung niemals davon abgehalten, den Wunsch der Türkei nach Vollmitgliedschaft in der EU zu unterstützen.

Wiedergutmachung für historische Übeltaten

Es ist auch nicht weiter verwunderlich, dass sich die türkische Regierung niemals für die Verbrechen des Osmanischen Reiches entschuldigt hat. Und es ist nicht überraschend, dass das Land bis heute die Erwähnung seiner jüngeren Geschichte der Besatzung und der ethnischen Säuberungen gesetzlich verbietet. Was eher schon überrascht, ist, dass nur wenige von außerhalb diese Tatsachen gegen die Türken als Volk wenden. Wenn die Art, wie Geschichte in Europa heute unterrichtet und internalisiert wird, zum Ziel hat, dass sich die schlimmsten Ereignisse dieser Geschichte nicht wiederholen, dann müssen wir uns doch fragen, wer sonst noch in der Welt so handeln sollte. Welche anderen Nationen sollten wir ermutigen, sich für ihre Vergangenheit zu schämen? Und wenn es sonst niemand tut, sondern sich stattdessen sowohl auf den nationalen Stolz als auch auf die Ächtung historischer Nachforschungen verlässt, sollten wir uns dann nicht fragen, ob sich Europa nicht in einer merkwürdigen Lage befindet, weil es sich zutiefst schuldig bekennt?

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Das Problem ist noch größer. Wenn historische Übeltaten heute gesühnt werden müssen, wo liegen dann die Grenzen, und wer alles ist davon betroffen? Mit der »Das Imperium schlägt zurück«-Theorie wurde oft behauptet oder angedeutet, Europa müsse alle Konsequenzen der Massenmigration erleiden und tragen, weil sie Wiedergutmachung für historische Übeltaten sei. Wenn aber die Massenmigration Wiedergutmachung für historische Übeltaten wie Imperialismus ist, warum gilt das für die moderne Türkei nicht? Hat es die Türkei nicht verdient, auch vollständig verändert zu werden? Wenn es so ist, welche Gegenden sollen wir zur Migration ermutigen? Sollten dann alle Türken, die unglücklich mit diesem Prozess sind, als »Rassisten« niedergeschrien werden? Wenn wir schon einmal dabei sind, die »Diversität« als Strafe für historische Übeltaten den Menschen aufzuerlegen, sollte die »Diversität« nicht auch über Saudi-Arabien verhängt werden? Sollte der Iran nicht gezwungen werden, als Buße für seine Geschichte Minderheiten aus der ganzen Welt aufzunehmen? Da alle Länder, Völker und Religionen irgendwann Schreckliches getan haben und da nicht alle Rassen und Kulturen in der gleichen Weise gestraft werden, sollte uns da nicht der Gedanke kommen, dass hinter diesen letzten Ereignissen in Europa ein spezifisches, gegen den Westen und Europa gerichtetes Motiv steckt? Es ist eine merkwürdige, beunruhigende Feststellung.
Gibt es eine erbliche Schande der Mittäterschaft?

Wenn der Begriff der historischen Schuld irgendetwas bedeuten soll, dann muss er beinhalten, dass eine erbliche Schande der Mittäterschaft von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. Es trifft zu, dass manche Christen wegen eines einzigen Absatzes im Evangelium (Matthäus 27,25) die Juden in genau dieser Weise verantwortlich gemacht haben. Und es dauerte bis 1965, dass ein Papst diese Last auch formal aufhob. Aber dieser Fall und ähnliche Fälle von Beschuldigungen der Nachfahren gelten in der modernen Zeit als moralisch widerwärtig. Der Fall der Juden ist besonders beunruhigend, denn er zeigt, wie lange sich eine solche Vendetta halten kann. Die Empfindung der Schuld, mit der moderne Europäer glauben beladen zu sein, begann allerdings erst in den letzten paar Jahrzehnten. Es ist eine Krankheit, die mit dem späten 20. Jahrhundert begann. Sie könnte – wie die christliche Idee von der vererbten Schuld der Juden – noch ein paar tausend Jahre anhalten. Und man ahnt es nicht einmal, wie sie dann beendet werden könnte.

In erster Linie deshalb, weil so viele Europäer wünschen, sie würde ewig halten. Schuld ist zu einem moralischen Desinfektionsmittel in Westeuropa geworden, diagnostizierte der französische Philosoph Pascal Bruckner in seinem Buch La Tyrannie de la pénitence (Titel der deutschen Übersetzung: Der Schuldkomplex). Die Menschen saugen sie auf, weil sie sie mögen: Sie berauschen sich daran. Es hebt ihre Laune, sie fühlen sich erhöht. Statt einfach Menschen zu sein, die für sich selbst verantwortlich und denen gegenüber Rechenschaft schuldig sind, die sie kennen, werden sie zu selbst ernannten Vertretern der Lebenden und der Toten, Träger einer furchtbaren Geschichte und potenzielle Erlöser der Menschheit. So wird ein Niemand zum Jemand. 2006 tauchte in Großbritannien ein besonders merkwürdiges Exemplar dieses Typs auf, Andrew Hawkins.

„Entschuldigungsreise“ nach Gambia

Mr. Hawkins ist ein Theaterregisseur, der in der Mitte seines Lebens entdeckte, dass er von einem Sklavenhändler aus dem 16. Jahrhundert, von John Hawkins, abstammt. 2006 wurde Andrew Hawkins von einer Hilfsorganisation mit dem Namen »Lifeline Expedition« eingeladen, mit ihr auf eine »Entschuldigungreise« (sorry trip) nach Gambia zu gehen. Im Ergebnis schloss sich Hawkins 26 anderen Abkömmlingen von Sklavenhaltern an, um im Juni des gleichen Jahres durch die Straßen der Hauptstadt Banjul mit Ketten an den Händen und mit einem Joch um den Hals zu paradieren. Die Teilnehmer trugen auch T-Shirts mit der Schrift »So Sorry« und marschierten so in das 25.000 Menschen fassende Stadion der Hauptstadt ein. Weinend und auf den Knien entschuldigten sie sich auf Englisch, Französisch und Deutsch vor den etwa 18.000 Zuschauern, bevor die gambische Vizepräsidentin Isatou Njie Saidy sie in einer Zeremonie von ihren Ketten befreite.

Der neue Klassenkampf
Wie der Wahnsinn der Massen unsere Gesellschaft zerstört
Man kann ohne Weiteres behaupten, dass, wer an einer solchen Zeremonie teilnimmt, sowohl psychisch als auch moralisch in großer Not sein muss. Mr. Hawkins und seine Freunde hatten Glück, dass sie auf ihrer Entschuldigungstour durch überwiegend irritierte Gambier so gutmütig aufgenommen wurden. Nicht jeder reagiert so gutartig auf die westliche Angewohnheit der Selbstflagellation. Vor vielen Jahren, während wieder einmal ein Friedensgespräch zwischen Israel und den Palästinensern scheiterte, interviewte ein Journalist Jassir Arafat in seinem Büro in Ramallah. Gegen Ende des Interviews kam ein männlicher Assistent Arafats in das Büro des Präsidenten, um anzukündigen, dass die amerikanische Delegation eingetroffen sei. Der Journalist witterte eine Sensation und fragte den Präsidenten, wer die Amerikaner im Nachbarzimmer seien. »Es sind Amerikaner, die durch die Region reisen, um sich für die Kreuzzüge zu entschuldigen«, sagte Arafat. Dann brachen er und sein Gast in Gelächter aus. Beide wussten sehr wohl, dass die Amerikaner nichts mit den Kriegen vom 11. bis 13. Jahrhundert zu tun hatten. Aber Arafat war auf jeden Fall gerne bereit, jedem Nachsicht zu zeigen, der glaubte, eine solche Geste für eigene politische Vorteile nutzen zu können.

Der Wunsch, sich sündig zu fühlen, hat die europäischen liberalen Gesellschaften fest im Griff: Sie sind die Ersten in der Geschichte, die, wenn sie einen Schlag abbekommen, erst einmal fragen, womit sie das verdient haben. Die nicht zu lindernde historische Schuld setzt sich bis in die Gegenwart fort. Deshalb sind die Europäer auch dann die Schuldigen, wenn sie diejenigen sind, die misshandelt oder von noch Schlimmerem getroffen werden. Mehrere Jahre vor der gegenwärtigen Migrationskrise wurde ein linker norwegischer Politiker, Karsten Nordal Hauken (nach eigener Bekundung Feminist, Antirassist und Heterosexueller), zu Hause von einem somalischen Flüchtling brutal vergewaltigt. Sein Angreifer wurde durch einen DNA-Test überführt und verurteilt. Nachdem er seine Strafe von viereinhalb Jahren abgebüßt hatte, sollte er in seine somalische Heimat abgeschoben werden.

Masochismus ist keine Demonstration von Tugend

Später beschrieb Hauken in den norwegischen Medien, welche Schuldgefühle ihn deshalb gequält haben. Er fühle sich tatsächlich verantwortlich dafür, dass der Vergewaltiger nach Somalia zurückgeschickt wurde. »Ich hatte ein starkes Gefühl von Schuld und Verantwortung«, schrieb er. »Ich war der Grund dafür, dass er nicht mehr in Norwegen war und stattdessen in eine dunkle und unsichere Zukunft nach Somalia geschickt wurde.«

Es ist eine Sache zu versuchen, seinen Feinden zu vergeben. Aber es ist noch einmal etwas ganz anderes, brutal vergewaltigt zu werden und sich dann Sorgen zu machen über die zukünftigen Lebensumstände des Vergewaltigers. Vielleicht gibt es zu einer gegebenen Zeit immer eine bestimmte Zahl von Menschen, die vom Masochismus befallen sind. Vielleicht werden die Masochisten – genauso wie die Armen – immer mit uns sein. Aber eine Gesellschaft, die Menschen mit diesen Neigungen belohnt und ihnen sagt, dass ihre Neigung nicht nur natürlich, sondern auch eine Demonstration von Tugend sei, wird eine höhere Konzentration an Masochisten produzieren.

Allerdings haben Masochisten – egal, wie viele sie auch sein sollen – ein besonderes Problem, mit dem sie fertigwerden müssen, nämlich: Was passiert, wenn sie auf einen Sadisten treffen, der sagt: »Du glaubst, du bist grauenvoll und schrecklich, mit Eigenschaften, die nicht zu sühnen sind? Stimmt, so bist du.« Es mangelt heute nicht an Masochisten, nicht in Europa und nicht in den Ländern, für die sich Europäer teilweise verantwortlich fühlen. Aber es gibt auch keinen Mangel an Sadisten, die gerne bereit sind, jeden Selbstvorwurf zu bestätigen und jede unserer Ideen über unser ganzes Elend aufzugreifen. Und das ist der andere Grund, warum – zurzeit – die Idee von der elementaren Sünde unumkehrbar ist. Die meisten Menschen möchten keine Schuldgefühle haben und wollen von anderen auch nicht wegen ihrer Sünden angeklagt werden und schon gar nicht, wenn dies in böser Absicht geschieht. Nur die modernen Europäer sind glücklich in ihrem Selbsthass und bieten einen internationalen Tummelplatz für Sadisten.

Schwärzeste Momente mit Sternstunden vergleichen

DIE WELTWOCHE über Douglas Murray
Europas seltsamer Selbstmord
Während die westlichen und europäischen Nationen sich selbst zerfleischen und von der Welt erwarten, sie für das Verhalten ihrer Ahnen zu zerfleischen, hat bisher keine ernst zu nehmende Behörde oder Regierung jemals anderen Völkern empfohlen, für die vererbten Verbrechen ihres Volkes Verantwortung zu übernehmen. Nicht einmal für Verbrechen, die zu unseren Lebzeiten begangen wurden. Vielleicht gibt es im Westen nur wenige Sadisten. Eher trifft es zu, dass es in den anderen Ländern zu wenige Masochisten gibt, um eine derartige Mission erfolgversprechend erscheinen zu lassen. Die mongolische Invasion des Mittleren Ostens im 13. Jahrhundert war eine der brutalsten in der aufgezeichneten Geschichte. Im Laufe der Massaker in Nishapur 1221, in Aleppo und Harem sowie der Brandschatzung Bagdads 1258 wurden nicht nur Hunderttausende Männer, Frauen und Kinder abgeschlachtet, sondern auch unglaubliche Mengen an Wissen und Gelehrsamkeit vernichtet. Wenn wir heute dauernd Erzählungen über die Kreuzzüge hören, aber kaum etwas über diese Brutalitäten, dann hat das nicht nur damit zu tun, dass es schwerfallen würde, die Nachfahren der Mongolen zu finden und zu beschuldigen, sondern auch damit, dass es zweifelhaft ist, ob die Abkömmlinge für die Idee empfänglich wären, Schuld zu haben an den Verbrechen ihrer Ahnen.

Nur die europäischen Nationen lassen es zu, aufgrund ihrer schwärzesten Momente beurteilt zu werden. Diese Selbstzerfleischung ist besonders unheimlich, weil man von den Europäern gleichzeitig erwartet, jeden anderen nur aufgrund von dessen Sternstunden zu beurteilen. Während in Diskussionen über religiösen Extremismus die spanische Inquisition und die Kreuzzüge regelmäßig zum Thema werden, werden dem Andalusien und die islamischen Neo-Platonisten gegenübergestellt. Es kann kein Zufall sein, dass diese zwei Dinge – uns selbst nach unseren schwärzesten, andere jedoch nach deren hellsten Momenten zu beurteilen – Hand in Hand gehen. Es scheint so, als handle es sich bei den Vorgängen im Westen sowohl um ein politisches als auch um ein psychologisches Leiden.

Nichtsdestotrotz, auch wenn gegenwärtig die moderne europäische Schuld in seinem Endstadium angekommen zu sein scheint, ist es nicht sicher, dass es dabei bleibt. Werden junge Deutsche, die Enkel, Urenkel und Ururenkel der Generation, die in den 40er-Jahren lebte, für immer ihren vererbten Makel spüren? Oder besteht die Möglichkeit, dass irgendwann der Augenblick gekommen sein wird, in dem junge Menschen, die selbst nichts Böses getan haben, »genug mit dieser Schuld« sagen? Genug mit der Unterwürfigkeit, die ihnen das Schuldbewusstsein aufzwingt, genug mit der Idee, dass etwas einmalig Schreckliches in der Vergangenheit passiert ist, genug damit, dass die Geschichte, von der sie niemals Teil waren, vorschreibt, was sie in der Gegenwart und der Zukunft tun oder lassen sollen. Möglich ist es schon. Vielleicht ist die Schuld-Industrie auch nur das Phänomen einer einzigen Generation und wird einst durch was auch immer ersetzt?


Auszug aus:
Douglas Murray, Der Selbstmord Europas. Immigration, Identität, Islam.
Edition Tichys Einblick im FBV, 384 Seiten, 24,99 €.


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