Ihrem äußeren Erscheinungsbild nach erweckte Sahra Wagenknecht schon immer einen bürgerlich-konservativen Eindruck. Der wollte nie so recht zum Bild des linken Bürgerschrecks passen, das die frühere Wortführerin der Kommunistischen Plattform und spätere Vorsitzende und Fraktionsführerin der SED-Nachfolgepartei Die Linke mit ihren Angriffen auf die aus ihrer Sicht geld- und raffgierigen Kapitalisten lange Zeit, gewollt oder ungewollt, bediente. Mit ihrer jüngst unter dem Titel „Die Selbstgerechten“ als Buch veröffentlichten, radikalen Abrechnung mit dem heutigen Linksliberalismus ihrer eigenen Partei, der SPD und, beiden voran, den Grünen, bestätigt sie diesen Eindruck. Sie präsentiert sich darin inzwischen als jemand, der nicht nur bei seinem Outfit, sondern auch in seinen politischen Ansichten althergebrachte bürgerlich-konservative Werte und Normen all jenen Werten und Normen vorzieht, die in der westlichen Welt das kosmopolitisch geprägte Weltbild und Selbstverständnis des linksliberalen Milieus von heute ausmachen.
Diesem Milieu fühlt sich Wagenknecht offenkundig nicht (mehr) zugehörig, obwohl sie in der deutschen Öffentlichkeit bislang wohl als die prominenteste Vertreterin und Wortführerin eines linksliberalen Zeitgeistes wahrgenommen worden ist, der sich seit dem Jahr 2005 daran abarbeitet, erneut eine Koalition aus SPD und Grünen, möglichst unter zusätzlicher Beteiligung der Linkspartei, an die Regierung zu bringen. Dieses Vorhaben hält Wagenknecht rechnerisch inzwischen für aussichtslos, da viele der früheren (Stamm-)Wähler der SPD und der Linkspartei, die überwiegend der Unterschicht und der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen, industriell geprägten alten Mittelschicht entstammten, sich von diesen beiden Parteien abgewendet hätten. Beides täten sie, weil die SPD wie die Linkspartei ihre politischen Ideologien und Agenden vorwiegend an der Weltsicht und den Interessen einer neuen Mittelschicht ausrichten würden. Diese sei im Zuge der allmählichen Herausbildung einer postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft entstanden und bestehe aus meist akademisch qualifizierten Fachkräften, deren Eltern noch vielfach Arbeiter oder kleine Angestellte ohne Hochschulausbildung waren.
Dieses Desaster äußere sich nicht nur im wirtschaftlichen und sozialen Abstieg dieser Bevölkerungsschichten, sondern auch in der Abwertung ihrer an Gemeinschaftssinn, Sesshaftigkeit, Leistung, wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit ausgerichteten konservativen Werte und Normen durch die neue, kulturell inzwischen dominierende Mittelschicht. Diese verbreite, unter tatkräftiger Mithilfe der herrschenden Medien, eine sich progressiv gebende Erzählung (Narrativ) der Weltoffenheit, der Diversität, der Selbstverwirklichung und individuellen Ungebundenheit, die mittlerweile den nicht nur von den Grünen, sondern auch von der SPD und der Linken repräsentierten heutigen Linksliberalismus auszeichne. Er bilde in den Ländern des Westens die inzwischen vorherrschende (hegemoniale) Ideologie, nachdem die Vorherrschaft der neoliberalen Ideologie aufgrund der Finanzkrise der späten 2000er Jahre ins Trudeln geraten sei.
Wagenknecht betont, dass der heutige Linksliberalismus sich maßgeblich von jenem unterscheide, den das Regierungsbündnis aus SPD und FDP der 1970er Jahre auszeichnete, in dessen Focus noch die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Arbeiter und des unteren Mittelstandes gestanden habe. Davon könne heute bei den Grünen, der SPD und der Linken, die sich in Deutschland als die politischen Vertreter eines neuen Linksliberalismus präsentieren, keine Rede mehr sein. Im Zentrum ihrer Politik stünden vielmehr überwiegend die Interessen von wirtschaftlich saturierten (Hochschul-)Lehrern, Sozialarbeitern, Marketing- und Werbefachleuten, Unternehmensberatern, Personalvermittlern, IT-Experten und anderen Vertretern der vor allem in den (Groß-)Städten wachsenden neuen Mittelschicht, aus deren Reihen sich auch zunehmend die Mitglieder und Funktionäre der drei linksliberalen Parteien rekrutierten.
Ihren Niederschlag finde diese Entfremdung vor allem in der Übernahme der kulturellen Werte und Normen der neuen Mittelschicht durch SPD und Linke, verbunden mit dem Ziel, diese Werte und Normen mittels Vorschriften und Verboten (Political Correctness und Cancel Culture) zu allgemeingültigen Denk- und Verhaltensstandards zu erheben, gegen die nur noch um den Preis gesellschaftlicher Ächtung und Ausgrenzung verstoßen werden könne. Wagenknecht bezeichnet den heutigen Linksliberalismus daher als einen Linksilliberalismus, der darauf aus sei, jeglichen Widerstand gegen eine Ideologie im Keim zu ersticken, die auf allen Kanälen immer lauter und aggressiver das hohe Lied der Weltoffenheit, der kulturellen Diversität, des Weltbürgertums, der Transnationalität, der Bindungslosigkeit und individuellen Selbstverwirklichung intoniere.
Wer in dieses Lied nicht miteinstimme, sondern, wie die meisten Angehörigen der alten Mittelschicht und der neuen Unterschicht, an konservativen Werten und Normen des Zusammenhalts und Schutzes festhalte, die zum Beispiel Familien und Nationalstaaten den Bürgern böten, sei gemäß der Vertreter der linksliberalen Ideologie nicht mehr nur hoffnungslos altmodisch und rückständig, sondern eine Gefahr für den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Fortschritt. Sie stimmten laut Wagenknecht in dieser Hinsicht mit den Vordenkern und Vertretern des Neoliberalismus überein, die für ihre globalisierte, deregulierte und flexibilisierte Wirtschaftsweise auch auf die rigorose Durchsetzung eines von allen traditionellen gemeinschaftlichen Bindungen befreites Wirtschaftsnomadentum setzten. Besonders sichtbar werde dies an der Migrationspolitik, bei der Neoliberale und Linksliberale an einem Strang zögen, um so in den entwickelten Wirtschaftsnationen unter anderem die Zuwanderung von Arbeitskräften aus den Armuts- und Kriegsregionen dieser Welt in die Märkte für einfache Dienstleistungen zu forcieren.
Um dies zu kaschieren, hätten die Linksliberalen von heute der tatsächlichen oder auch nur erfundenen Diskriminierung der Frauen, der Homosexuellen, der Lesben, der Transsexuellen, der Migranten und neuerdings der People of Colour (PoC) den Kampf angesagt. Sie hätten sich so gleichsam ersatzweise eine eigene, jederzeit erweiterbare Klientel an verschiedenen Opfergruppen gesellschaftlicher Diskriminierung geschaffen, für deren Interessen sie mittlerweile im Namen einer linken Identitätspolitik immer lautstarker eintreten. Ihren Schützlingen solle durch Fördermaßnahmen bis hin zu Quotenregelungen der Zugang zu Bildung und Beruf erleichtert werden und sie so vor den Hürden und Zumutungen eines wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs durch Leistung zu bewahren. Den Linksliberalen gehe es laut Wagenknecht deswegen gar nicht um die rechtliche Gleichstellung von Minderheiten im Sinne von mehr Chancengleichheit, sondern um deren gezielte Privilegierung im Wettbewerb mit anderen.
Die Unternehmen störe diese Art von Kampf gegen Diskriminierung nicht, da er sich nicht gegen Lohndumping und verschlechterte Arbeitsbedingungen richte, sondern sich für mehr Frauen und PoC in Führungspositionen oder für die Anwendung einer gegenderten Sprache in der Unternehmenskommunikation einsetze. Ganz im Gegenteil könnten die Unternehmen laut Wagenknecht in aller Ruhe durch Deregulierung, Standortverlagerung oder Outsourcing sogar den wirtschaftlichen Druck auf die Beschäftigten erhöhen und sich gleichzeitig nach innen wie außen als weltoffen, divers und gendergerecht und somit als identitätspolitisch fortschrittlich (progressiv) präsentieren. Sie gelangt deswegen zu dem für ihre Genossen wenig schmeichelhaften Ergebnis, den Linksliberalen gehe es trotz aller Anti-Diskriminierungsrhetorik gar nicht um das „Ringen um Gleichheit“, sondern um die „Heiligsprechung von Ungleichheit.“
Das müsse und könne sich laut Wagenknecht nur ändern, wenn die politische Linke mit dem Linksliberalismus breche und sich stattdessen einem erst noch zu schaffenden links-nationalen Konservativismus verschreibe, der nicht mehr die die Interessen und Wertvorstellungen gesellschaftlicher Minderheiten, sondern der gesellschaftlichen Mehrheit ins Zentrum seiner Politik rücke. Gebildet werde diese Mehrheit, so Wagenknecht, nach wie vor von der alten Mittelschicht und der neuen Unterschicht, deren Mitglieder, wie Umfragen zeigten, den politischen Forderungen der linksliberalen Parteien überwiegend skeptisch bis ablehnend gegenüberstünden. Tatsächlich bestehe unter den deutschen Wählern eine Mehrheit für eine linke Politik, die ungenutzt bleibe, solange die SPD und die Linke ihren linksliberalen Irrweg weitergingen.
Neben der Übernahme solcher konservativer Werte und Tugenden schlägt Wagenknecht ihren Genossen aus der der Linken und der SPD die Übernahme noch weiterer politischer Ideen und Forderungen vor, die im linksliberalen Milieu als „rechts“ und somit als absolutes No Go gelten. So plädiert sie unter anderem anstelle einer weiteren Vertiefung der Integration der EU für deren Umbau „zu einer Konföderation souveräner Demokratien“, für eine restriktivere Asyl- und Migrationspolitik sowie für eine Assimilation von Migranten an die Werte und Normen ihrer jeweiligen Aufnahmeländer. Diese müssten in der Pflege und Verbreitung ihrer „kulturellen Überlieferung, Geschichte und nationalen Erzählungen“ auch unter Migranten stärker ihren leitkulturellen Ausdruck und Niederschlag finden. Ein Affront für die linksliberale Rede von der ständigen Aushandlung gemeinsamer Werte zwischen Migranten und Mehrheitsbevölkerung.
Einzig dort, wo es laut Wagenknecht um die Beendigung der „Herrschaft des großen Geldes“ geht, dürfte sie mit Forderungen wie etwa einem Schuldenerlaß überschuldeter EU-Staaten durch die Europäische Zentralbank (EZB), einer Vermögensabgabe für Reiche zur zusätzlichen Begleichung überbordender Staatsschulden sowie ihrem Konzept eines „Leistungseigentums“, das den Einfluß fauler Erben und fremder Kapitalgeber auf unternehmerische Entscheidungsprozesse beenden soll, im linksliberalen Milieu weitgehend offene Türen einrennen. Trotz solcher Forderungen läßt ihr gesamtes „Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt“ die linksliberalen Herzen ihrer Genossen aber gewiß nicht aus Freude, sondern aus Entsetzen deutlich höherschlagen.
Dies dürfte unter anderem den Erfahrungen geschuldet sein, die Wagenknecht vor ihrem Ausscheiden als Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Jahr 2019 mit ihrer Initiative „Aufstehen“ gemacht hat. Mit ihr sollte aus Anhängern ihrer eigenen Partei, der SPD und der Grünen zusammen mit Globalisierungsgegnern zum Beispiel von Attac eine linke Protestbewegung entstehen, die den vernachlässigten Interessen der Opfer der Globalisierung wieder eine mehrheitsfähige Stimme verleiht. Diese Initiative ist seitens des linksliberalen Establishments der drei Parteien auf erbitterten Widerstand gestoßen, da Wagenknecht und ihre Mitstreiter sich schon damals unter anderem für eine restriktivere Asyl- und Migrationspolitik stark machten, wie sie heute beispielsweise die dänischen Sozialdemokraten schon betreiben und die schwedischen Sozialdemokraten inzwischen ankündigen.
Offenkundig hat sie aus diesen Erfahrungen gelernt und erkannt, dass, anders als in Dänemark und Schweden, der linksliberale Zug nicht nur bei den Grünen, sondern auch bei der SPD und der Linkspartei schon längst abgefahren ist und sich nicht mehr stoppen lässt, zumal, wenn es, entgegen Wagenknechts Erwartungen, nach der kommenden Bundestagswahl doch für eine linksliberale Regierungskoalition unter Führung der Grünen reichen sollte. Mitstreiter für ihren links-nationalen Konservativismus wird sie daher wohl eher außerhalb des linksliberalen Milieus suchen und finden müssen. Nicht auszuschließen ist freilich, dass ihr demnächst, sollte sie sich für ihre „Rechtsabweichung“ nicht öffentlich entschuldigen, sondern, wie vor ihr schon Thilo Sarrazin und Boris Palmer, stur weiterverbreiten, ohnehin ein Parteiausschlußverfahren drohen könnte, das in diesem Milieu in letzter Zeit, wie einst in der Sowjetunion und der DDR, gegen Dissidenten vermehrt in Mode kommt.
Sahra Wagenknecht, Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Campus, Taschenbuch, 416 Seiten, 15,00 €.
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