In diesem Buch, 143 Seiten kurz, gibt es mehrere Stellen, an denen die Geschichte des Journalisten Birk Meinhardt in die eine oder andere Richtung kippen könnte, so wie ein Seiltänzer, der einen Fuß frei schweben lässt. Dann zählt die nächste kleine Bewegung. Den ersten dieser Momente erlebt der Leser von Meinhardts Buch „Wie ich meine Zeitung verlor“ auf Seite 7. Bis dahin erzählt Meinhardt, Jahrgang 1959, wie er als ehemaliger Sportjournalist des DDR-Blatts „Junge Welt“ 1992 bei der „Süddeutschen Zeitung“ ankommt. Die Kollegen begrüßen ihn mit Applaus im Konferenzraum, beäugen ihn, den Exoten, und heißen ihn willkommen. Auf dieser Seite sieben schildert er ein Bewerbungsgespräch bei der FAZ, das er in diesen frühen Neunzigern hatte. „Ich saß vor einem der Herausgeber, und er fragte mich gleich zu Beginn, ob ich in der Partei gewesen sei. Ja. Aber nur weil sie mussten, oder? Es war eine Brücke, die er mir baute, doch ich antwortete wahrheitsgemäß, ich musste nicht.“ Der Ostler hätte einfach in die Rolle des Opportunisten schlüpfen können, die ihm gewissermaßen hingehalten wurde wie ein Mantel. Es kam ja nicht mehr darauf an. Meinhardt lehnte die Hülle ab, wie man so sagt, ohne Not. „Von jener Sekunde war das Wohlwollen des Herausgebers fort.“
Und das des Rezensenten da.
Die „Junge Welt“ übertraf in der DDR das Parteiorgan „Neues Deutschland“ noch an Haltung, die Sportredaktion bildete eine kleine Enklave, aber auch jeder, der einmal in diesem nicht ganz so ideologisch durchtränkten Einsprengsel arbeitete und sich später als innerer Emigrant beschreiben würde, könnte das nur als Heuchler tun.
Was, dürfte sich Meinhardt danach gefragt haben, soll mir in diesem Blatt eigentlich passieren?
Sein Buch trägt auch zur Geschichtsschreibung bei, es zeigt Medien, die sich, egal, wo sie sich politisch aufhielten, als Institutionen aus eigenem Recht sahen – damals noch mit beeindruckenden Verkaufszahlen und vollen Anzeigenteilen. Der erste Riss tut sich auf, als Meinhardt 2004 über die Deutsche Bank schreibt, über deren Investment-Stars in London, die meinen, dass eine Bank nicht mehr vom alten konventionellen Kreditgeschäft leben kann, sondern das ganz große Rad der neuartigen Finanzprodukte drehen muss. Den Text verhinderte der Wirtschaftsressortleiter, er ist der erste von Meinhardt, der nicht erscheint (und wie alle ungedruckten Reportagen in dem Buch nachgelesen werden kann). Der Blick des Reporters ist der eines thematischen Fremdlings, der laienhaft von außen auf Deutschlands größte Bank schaut, dabei aber alle wesentlichen Probleme erkennt, die vier Jahre später zur weltweiten Banken- und Kreditkrise führen. Bis zum nächsten nichtveröffentlichten Text dauert es vier Jahre, und dieses Mal geht es nicht nur um eine gekränkte Ressortleitereitelkeit. Birk Meinhardt schreibt über zwei Fälle, in denen jeweils Leute mit rechtsradikaler Vergangenheit für Taten angeklagt werden – einer auch mit Urteil und Haft – die sie nicht begangen hatten. Beide Male gab es eine entsprechende mediale Stimmung, politische Erwartungen, also Druck, dem Staatsanwälte und Richter eigentlich standhalten müssten, aber nicht standgehalten hatten. Gleich in seiner Einleitung nennt Meinhardt damals die Zahl rechtsextremer Straftaten, er will also an der Gefährlichkeit von Extremisten nichts retuschieren. Er fragt nur: könnte es sein, dass maßgebliche Figuren – Politiker, Journalisten, Richter – in dem so genannten Kampf gegen Rechts die notwendige Distanz verlieren?
Natürlich weiß er auch, dass Justizirrtümer auch in den gerechtesten Land vorkommen. „Aber wenn man sich durch die Akten wühlt und mit den Beteiligten redet, wird klar, dass Irrtum hier nicht das richtige Wort ist“, schreibt er. „Wie lautet es dann, jenes Wort. Schwer zu sagen. Beflissenheit. Beeinflussbarkeit. Zweifelsverdrängung.“ Bei dem zweiten Vorgang in seinem Text handelt es sich um den Fall Ermyas Mulugeta, der im April 2006 an einer Straßenbahnhaltestelle in Potsdam niedergeschlagen wurde. Die Fußball-WM steht unmittelbar bevor, Angela Merkel äußerte sich nicht nur zu dem Fall, sie setzte auch, gewissermaßen als oberste Ermittlerin, den Rahmen: „Mir liegt daran, dass dieser Fall schnell aufgeklärt wird und daß wir deutlich machen, daß wir Fremdenfeindlichkeit, Gewalt, rechtsradikale Gewalt aufs Äußerste verurteilen.“ Die schnelle Klärung besteht 2006 darin, einen Mann mit rechtsradikaler Vergangenheit zu verhaften und mit einem spektakulären Aufwand zur Bundesanwaltschaft nach Karlsruhe zu fliegen. Später stellte sich heraus: Der Mann hatte mit der Tat nichts zu tun, er verfügte über ein Alibi. Es gab auch keinen rechtsradikalen Hintergrund. Bei der nächtlichen Auseinandersetzung zwischen dem stark alkoholisierten Ermyas Mulugeta und einem anderen nicht mehr nüchternen Mann handelte es sich um einen banalen Streit, bei dem Mulugeta stürzte und mit Hinterkopf aufschlug.
Meinhardt redet in seiner Recherche auch mit Uwe-Karsten Heye, dem ehemaligen Regierungssprecher Gerhard Schröders, Vorsitzender des Vereins „Gesicht zeigen“, der die vermeintlich rechtsradikale Tat von Potsdam dazu benutzt, von No-Go-Zonen im Osten zu sprechen. Der Reporter zitiert Heye am Schluss seines Textes: „Hoffentlich kriegt ihre Story keinen falschen Zungenschlag.“
Genau das werfen die Kollegen Meinhardt vor. An seiner Recherche, erklärt ihm ein Kollege, sei zwar nichts falsch. Aber er bestärke eben die Falschen. Genau die Begründung hatte er noch aus seiner Zeit bei der „Jungen Welt“ im Ohr, wo es über seine Geschichten mehr als einmal hieß, das werde man nicht drucken, denn das würde nur dem Gegner nützen. An dieser Stelle vollzieht sich der Bruch, den Meinhardt noch heilen könnte, aber nicht mehr heilen will.
Es folgen Texte, die erscheinen, dann wieder ein Beitrag, der es nicht ins Blatt schafft. Schließlich kündigt er, schreibt weiter Literatur, liest ab und zu noch sein altes Blatt, und nimmt jetzt mit geschärften Blick von außen wahr, wie sich die Verwandlung der Medien, die ihn nicht mehr direkt betreffen, spätestens ab 2015 schneller und immer stärker in eine Richtung verlaufen. „Das ist ja ein Dauerzustand geworden: einer Haltung Ausdruck verleihen und nicht mehr der Wirklichkeit.“ Wobei: Haltung, das klingt ihm zu sehr nach Eigenständigkeit: Sie richten sich, schreibt er, aus wie „Späne nach einem Magneten“, aber aus freien Stücken, sogar mit Begeisterung.
Ein großer Gewinn sind die in der Zeitung nicht und in dem Buch nachträglich abgedruckten Reportagen, kitschfreie Texte und schon deshalb durchweg besser als alle preisgekrönten Beiträge von Claas Relotius. Wie sähen Zeitungen heute aus, wenn sie heute noch solche Texte wie die von Meinhardt bringen würden? Wie wäre das Debattenklima im Land?
„Ein neuer Konsens zeigt sich in der Presse und vielleicht ganz besonders in diesem Blatt“, schrieb Weiss in ihrer Abschiedserklärung, „dass die Wahrheit nicht mehr ein Prozess der kollektiven Entdeckung ist, sondern eine Orthodoxie, in die einige wenige Erleuchtete schon eingeweiht sind, die es als Aufgabe betrachten, alle anderen darüber zu informieren.“
Interessant ist, wie mehrere Medien Meinhardts Buch aufnahmen. Der Topos des Ostdeutschen, der im Westen nicht angekommen sei, taucht in Rezensionen öfters auf. Eine Redakteurin der „Berliner Zeitung“, die so ziemlich alles verkörpert, wovon Meinhardt und Weiss sich abgestoßen fühlen, schreibt von der „Heimatlosigkeit der Ostdeutschen in den Medien“ – es ist also nicht das Problem der Medien, sondern das der Ostdeutschen. Zweitens kommt in ihrer Rezension auch das Sing Along aller wohlmeinenden Medienschaffenden vor, da eine einzelne identitätspolitische Einordnung noch nicht genügt: „Alles dreht sich um die Kränkung eines älteren weißen Mannes.“ Der Punkt, dass diejenigen, die Meinhardt Texte in München ablehnen, zur gleichen Kategorie gehören, entgeht ihr offenbar.
Es gibt noch einen zweiten Satz in der Berliner Zeitung über Meinhardt, der es verdient, für später ins Archiv zu kommen:
„Er ist ein Einzelkämpfer, ringt um jedes Wort. Das hält heute nur den Betrieb auf.“
Tatsächlich könnte seine Geschichte mit seiner ostdeutschen Herkunft und seiner Vergangenheit bei der politisch strammen Zeitung bis 1990 zu tun haben. Es ist ja nicht so, dass Meinhardt nicht verstanden hätte, was von ihm erwartet wurde. Genau so, wie er damals sehr genau begriffen hatte, welche Antwort der FAZ-Herausgeber ihm schon zurechtlegte, damit er nur noch hätte hineinschlüpfen müssen. Er wollte diese Anpassungsleistung eben nicht mehr liefern, die er an sich selbst aus der Zeit vor 1990 kannte. Er wollte nicht, um sein Wort zu benutzen, beflissen sein. Und es wirkt auch nicht so, dass er dem Medienbetrieb fremd geblieben wäre. Sondern, dass die Medien zusammen mit Politikern und Verbänden sich mehr und mehr von ihren alten bundesrepublikanischen Standards lösten, also sich eher von ihm entfremdeten als umgekehrt. Und ihm höchstens deshalb wieder vertraut vorkamen, weil er diese kollektiven Selbstausrichtungstechniken schon kannte.
Vermutlich gibt es immer noch etliche Redakteure wie Meinhardt in verschiedenen Medien, die sich mit ganz ähnlichen Zweifeln herumschlagen, sich dann aber in Zweifelsunterdrückung üben, manche Formulierungen und bestimmte Themen von vorn herein meiden. Sie bestimmen zusammen mit den Haltungsstolzen das Klima.
Birk Meinhardts Buch ist über viele dutzend Seiten atemlos geschrieben. Über lange Strecken fühlt sich der Leser so, als würde ihn ein Gesprächspartner immer wieder an der Schulter rütteln und sagen: „Das musst du dir anhören.“ Aber genau darin liegt die Qualität des schmalen Buchs: Er versucht gar nicht, seinen Auszug aus dem Mediengeschäft kühl und aus der Entfernung zu schreiben. Denn beides hätte er simulieren müssen.
„Wann hat das angefangen?“, fragt sich an einer Stelle ein guter Freund, mit dem er über seinen Blick auf die Medien spricht. Das Buch hilft, eine Antwort darauf zu finden. In zehn Jahren könnte es noch wichtiger sein als heute.
Den Betrieb aufhalten: das wäre das Beste, was jemand innerhalb des konventionellen Medienapparats noch tun könnte. Es gibt dort allerdings nur wenige, die es für eine Aufgabe halten, die Selbstzerstörung der eigenen Institution wenigstens zu bremsen.
Birk Meinhardt „Wie ich meine Zeitung verlor. Ein Jahrebuch“
Das Neue Berlin, 143 Seiten, gebundenes Buch 15 Euro, E-Book 13 Euro