Tichys Einblick
Sarrazin-Debatte

Von der Wirklichkeit des Islam in Deutschland und Europa

Johannes R. Kandel hat sich mit Sarrazins "Feindliche Übernahme" auseinandergesetzt und findet, es habe sich gelohnt. Das Buch tot zu schweigen hält er für ebenso inakzeptabel wie seine einseitige Verurteilung. Es sei ein mutiger Schritt von Sarrazin gewesen, es zu schreiben. Solcher Mut sei unserer Gesellschaft weithin abhanden gekommen

John MacDougall/AFP/Getty Images

Das von Freunden Sarrazins lange erwartete und von seinen Feinden gefürchtete Buch ist endlich erschienen. Schon nach den ersten fünfzig Seiten fehlt mir jedes Verständnis dafür, warum Random-House das Buch nicht verlegen wollte und die SPD Sarrazin wieder ausschließen will. Der Titel Feindliche Übernahme ist provokativ und soll es auch sein. Diese ›feindliche Übernahme‹ Deutschlands und Europas geschehe, weil die Muslime in nächster Zukunft aufgrund der demografischen Entwicklungen (siehe seine Prognosen in Tabelle 1, S. 488 f.) eine Mehrheit in Deutschland und Europa bilden könnten (frühes Heiratsalter, Verwandtenehen, Kinderreichtum). Dies würde das Ende der westlichen Zivilisation und Kultur bedeuten, weil der Islam der in Europa über Jahrhunderte erkämpften Moderne in Glaubenslehren und religiöser Praxis diametral entgegengesetzt sei.

Denn der Islam

Das sind durchaus bekannte Tatsachen, mit denen sich Heerscharen von Wissenschaftlern (seit Beginn einer ›Islamwissenschaft‹ in Deutschland, also ca. Mitte des 19. Jahrhunderts), Politiker, Medienvertreter und Repräsentanten aller nicht-islamischen Religionen seit sehr langer Zeit intensiv beschäftigt haben. Sarrazin präsentiert durchaus Bekanntes, aber in zugespitzten, plakativen Zusammenfassungen und mit gewaltigem Zahlenmaterial (Statistiken, Studien, Meinungsäußerungen, muslimische biographische Aussagen und teilnehmende Beobachtungen).

Um es gleich am Anfang zu sagen: das ist informativ und regt zum produktiven Streit an. Es ist ein wichtiger Beitrag zum Islamdiskurs aus Sicht eines ehemaligen Politikers und Amtsinhabers. Sarrazin erhebt nicht den Anspruch, Islamwissenschaft zu betreiben, er nähert sich seinem Forschungsobjekt ganz persönlich.

Nach ausführlicher Koran-Lektüre in der bekannten deutschen Übersetzung von Rudi Paret (1901-1983), einem renommierten Islamwissenschaftler, präsentiert Sarrazin eingangs die grundlegenden Inhalte der »koranischen Offenbarung« (S. 23 – 46) mit zahlreichen Koran- Zitaten. Allein für die Anstrengung, diesen sperrigen, langatmigen, von ständigen Wiederholungen geprägten Text, »von der ersten bis zur letzten Zeile gelesen« zu haben (S. 23), gebührt dem Autor, der sich als »Agnostiker« (S. 7) outet, Respekt. Es ist sicher gut, einen solchen schwierigen Text direkt auf sich wirken zu lassen, gleichwohl können durch diese Art der Lektüre auch unnötige Irritationen entstehen, die sich mit Hilfe einer parallel zu Rate gezogenen Einführung (z.B. Tilman Nagel, Der Koran. München, 2002) vermeiden ließen.

Allerdings ist der bereits von Kritikern erhobene Einwand, den Koran könne man nur im arabischen Urtext lesen und verstehen völlig unsinnig. Nähme man das ernst, so schlösse man Millionen nicht-arabisch sprechender Muslime vom Verständnis des Koran aus. Und auch wenn der Koran auf Arabisch ›bekannt‹ ist, beschränkt sich das ›Arabisch-Können‹ bei zahlreichen Muslimen auf die mühsam auswendig gelernte Rezitation, ohne jedes Verstehen der Inhalte. Eine textkritische Lesart und ein offener, pluralistischer Diskurs über den Koran sind nicht erwünscht, ja werden, wie zahlreiche ›liberale Muslime‹ bezeugen, entweder sanktioniert oder ganz unterbunden. Noch widersinniger ist der Vorwurf, der Autor könne nicht Arabisch. Diese arrogante und elitäre Einlassung, nähme man sie ernst, würde im Klartext bedeuten, den Islamdiskurs auf die vermeintlich ›Wissenden‹ zu beschränken und allen anderen das Recht auf Stellungnahme und Beurteilung abzusprechen. Man stelle sich diese Forderungen einmal im Blick auf andere Sprachen vor, Chinesisch, Russisch, Hebräisch etc. Es gäbe weltweite Kommunikationsabbrüche mit unabsehbaren Folgen für das Zusammenleben von Nationen.

Die koranische Offenbarung und die islamische Weltsicht

Sarrazins surenfundierter Schnelldurchgang durch den Islam mit Erläuterungen zu Gott, Mohammed, Gläubigen, Ungläubigen, Christen, Juden, Dschihad, Frauen, Sexualität, Auferstehung, Hölle, Paradies und Scharia, ist für den Kenner nicht unbedingt neu, für den uninformierten Leser aber eine ganz gute Einführung, wobei natürlich klar ist, dass die Auswahl der Suren auch ein interessegeleiteter Akt ist. Wenn die Sarrazin-Kritiker und seine Feinde aus Politik, Wissenschaft, Medien und Kirchen, die Beschwichtiger und Verharmloser, das Buch überhaupt lesen (!), werden sie schon hier ihre ersten Verdammungsurteile formulieren: zu pauschal, verzerrend, negativistisch, nicht ›wissenschaftlich‹ usw. Einen Anspruch auf neue Koranforschung erhebt Sarrazin auch nicht, aber er kennt durchaus konträre Forschungsansätze zum Korantext (z.B. Neuwirth, Ohlig, Nagel). Er erläutert das Verhältnis von koranischem Text und ›Hadithen‹ (Mitteilungen über Mohammeds Aussprüche und Verhalten = ›Sunna‹).

Der Autor wendet sich gegen die gebetsmühlenartig vorgetragene These, ›das habe alles mit dem Islam nichts zu tun‹ und zeigt den Zusammenhang von Islam, Islamismus und Terrorismus auf. »Nimmt man den Koran auch nur einigermaßen beim Wort, so ist der Islam beim besten Willen keine Religion des Friedens und der Toleranz, sondern eher eine ›Gewaltideologie, die im Gewand einer Religion daherkommt.‹« (S. 63 f.)

Allein das wird seine Kritiker empören, umso mehr als dass er – bei Anerkenntnis aller ethnischen und kulturellen Ausprägungen des Islam – ein gemeinsames ›Muster‹ , eine bestimmte ›Weltsicht‹ des Islam behauptet: Der Islam sei »dem selbständigen Denken grundsätzlich abhold«, er begünstige »Autoritätshörigkeit und Gewaltbereitschaft«, befördere »eine Tendenz zum Beleidigtsein und zur Intoleranz«, behindere »Wissbegier und Veränderungsbereitschaft«, er belaste das »Verhältnis der Geschlechter« und behindere die »Emanzipation der Frau«. Der Islam stütze »Unbildung, frühe Heirat und Kinderreichtum«. Er fördere »Rückständigkeit«, behindere »Meinungsfreiheit und Demokratie«. Die »dem Islam innewohnende demografische Sprengkraft« sei »eine Bedrohung für die Zukunft und die Stabilität der westlichen Welt.« (S.71)

Es ist demnach nicht der ›böse‹ Islamismus, der das alles verkörpert, sondern es ist der Islam selbst, wobei Sarrazin dies alles nicht umstandslos dem ›Wesen‹ des Islam zuordnet. »Die Frage nach dem ›Wesen‹ des Islam ist zwar sinnvoll. Ihr Erkenntniswert wird aber dadurch begrenzt, dass die Frage nach dem ›Wesen‹ einer Religion nicht getrennt werden kann von der Praxis der Gläubigen« (S.20). Es kann dem Autor nicht der Vorwurf gemacht werden, er argumentiere ›essentialistisch‹, d.h. leite aus einem konstruierten ›Wesen‹ des Islam seine Bewertungen und Urteile ab. Er beginnt mit scharfen Ansagen, die er in den Kapiteln 2 bis 4 (S. 73 – 369) zu belegen sucht.

Die islamische Staatenwelt, demografisches Gewicht und Rückständigkeit

Sarrazin beleuchtet die »islamische Staatenwelt von Arabien bis Indonesien«, arbeitet »Problemzonen islamischer Gesellschaften« heraus und befasst sich eingehend mit »Muslimen in den Gesellschaften des Abendlandes«. Ganz nüchtern präsentiert er zunächst Zahlen über Muslime im Weltmaßstab: Lebten 1950 470 Millionen Muslime auf der Welt (19 Prozent der Weltbevölkerung), so sind es jetzt 2,3 Milliarden (31 Prozent der Weltbevölkerung), eine Steigerung um das Fünffache. Wichtig ist dabei zu wissen, dass die Bevölkerungen in den islamischen Staaten im Vergleich zu Europa sehr jung sind: »2015 betrug das sogenannte Medianalter der Bevölkerung (50 Prozent sind jünger, 50 Prozent sind älter als der Median) in Europa 41,7 Jahre, in Deutschland sogar 46,2 Jahre, in den islamischen Ländern dagegen nur 25,2 Jahre.« Teile der Öffentlichkeit schauen ja besorgt auf Staaten mit großem Einwanderungsdruck nach Europa (»muslimisches Subsahara-Afrika, Syrien, der Irak und Afghanistan«). Hier liegt »das Medianalter noch niedriger, nämlich bei 18 bis 20 Jahren« (S. 87).

Sarrazin belegt die bekannte Tatsache des kontinuierlichen Wachstums der Bevölkerungen in der islamischen Welt mit Verweis auf die »Nettoproduktionsrate« (»ein statistisches Maß für die Fruchtbarkeit einer Bevölkerung«, S. 88), diese ist am stärksten in Afrika, dessen muslimische Bevölkerung sich in jeder Generation verdoppelt (!). Nach einer aktuellen UNO-Bevölkerungsprognose sollen 2050 in den islamischen Ländern »gut viermal und 2100 gut sechsmal so viele Menschen leben wie in Europa« (S. 90).

Mit dem emeritierten Pädagogik-Professor und Soziologen Gunnar Heinsohn ist Sarrazin der Auffassung, dass junge Männer zwischen 15 und 20 deutlich gewaltbereiter und aggressiver seien als die Gruppe der Älteren zwischen 55 und 60. Die Relation zwischen den Jungen und Älteren nennt Heinsohn den ›Kriegsindex‹ und der liege für Europa bei 0,8 (für Deutschland bei 0,7). Für die gesamte islamische Welt betrage er 3,1. Den größten Kriegsindex hätten Mali (6,5) und Afghanistan (6,0) (S. 89). Darüber ist im wissenschaftlichen und politischen Diskurs gestritten worden mit dem Zwischenergebnis, dass der demografische Faktor und der ›Kriegsindex‹ auf jeden Fall eine wichtige Rolle zur Erklärung jungen Aggressionspotentials spiele. Sarrazin schlussfolgert: Je rückständiger, bildungsferner und wirtschaftlich erfolgloser eine Gesellschaft ist, desto größer ist das Bevölkerungswachstum. Die Bedeutung der Religion in diesem Faktoren-Setting lässt sich nicht eindeutig kausal klären. Den relativen Rückstand der islamischen zur westlichen Welt will der Autor unter Verweis auf den geringen wirtschaftlichen Erfolg (Vergleiche zum Bruttoinlandsprodukt als Messgröße), Innovation, Wissenserwerb und Wissensproduktion (Nobelpreise, Patentanmeldungen, Hochschulranking) sowie die politische Stabilität (Demokratie, Krieg und Frieden) empirisch belegen.

Das sind alles plausible Gesichtspunkte, wobei die Defizite im Blick auf Frieden (Konfliktzonen!), Demokratie (z.B. Pressefreiheit) und die fortwirkende Korruption (Belege bei »Transparency International«) schon dramatisch sind. Wie sich »Bevölkerungsexplosion, wirtschaftliche Unterentwicklung, niedrige Bildung, schlechte Regierungspraxis, diktatorische Herrschaftsformen und das nahezu vollständige Fehlen von Demokratie und Meinungsfreiheit« (S. 99) in den einzelnen islamischen Ländern darstellen, untersucht Sarrazin differenziert für die arabischen Länder, Subsahara-Afrika, Türkei, Iran, Indien, Zentralasien und Südasien. Diese tour d’horizon bietet hilfreiche Basisinformationen, wobei das Gesamtbild – bei aller länderspezifischen Differenzierung – düster ausfällt. Überall sind Fundamentalismus und Islamismus auf dem Vormarsch, ein moderater und liberaler Islam hat hier keine Chance.

Fazit: Auch wenn der Islam »nicht die einzige Einflussgröße ist« (bessere Bedingungen im Iran und Malaysia!) ist »in allen Ländern (…) die hemmende Wirkung des Islam für Modernisierung, Wissen, Wohlstand und Freiheit übermächtig spürbar, auch macht sich eine wachsende Radikalisierung negativ bemerkbar« (S. 127). Die Frage der ›Rückständigkeit‹ des Islam ist ja im Islam-Diskurs häufig diskutiert worden und Befürworter und Gegner prallten stets konfrontativ aufeinander. Nach dem 11. September 2001 sind geradezu Legionen von Schriften erschienen, die dieses Thema aufgriffen. Ich nenne hier nur beispielhaft den amerikanischen Islamwissenschaftler Bernard Lewis (What went wrong, 2002 und The Crisis of Islam, 2003). Ausführlich und eindrücklich wurde das auch 2007 von dem Historiker Dan Diner in Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt beschrieben. Wer sich selbst ein differenziertes Bild machen will, könnte auch zu den bisher sechs veröffentlichten Arab Human Development Reports greifen. Dort ist seit 2002 gewaltiges Zahlenmaterial, zusammengestellt von überwiegend arabischen Autoren, einsehbar.

Problemzonen islamischer Gesellschaften

Sarrazin sieht seine grundsätzlichen Überlegungen zum Islam durch die Beschreibungen der sozialen und politischen Wirklichkeit in der islamischen Welt bestätigt. Nun spitzt er seine Beobachtungen zu einer Grundthese zu. Es sei die »innere Logik der Religion des Islam« (S.130), den Anschluss an die Moderne verloren zu haben, in erster Linie durch Ignoranz und Intoleranz gegenüber dem westlichen Fortschritt in Kultur (Bildung!), Wirtschaft und Politik (Demokratie!). Statt »Individualismus« regiere das »Prinzip der Unterwerfung« (S. 132 ff.). Sein Kronzeuge ist der Basler Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818 -1897), der in seinen, 1905 aus dem Nachlass erschienenen, Weltgeschichtlichen Betrachtungen den dominanten Kollektivismus in der Religion des Islam herausstellte. Ob diese vor 150 Jahren formulierten Wahrnehmungen des Islam auch die Gegenwart des Islam treffend beschreiben, wird sicherlich von Sarrazins Gegnern angezweifelt. Es ist ja nur eine Momentaufnahme und unklar ist, auf welche Quellen sich Burckhardt bezieht und ob er die Schriften der zu seiner Zeit sich gerade entwickelnden Islamwissenschaft zur Kenntnis genommen hat (z.B. Theodor Nöldekes epochemachendes Werk, »Geschichte des Qorans«,1860). Ein Verweis auf zahlreiche kritische Stimmen gegenwärtiger islamischer Intellektueller wäre hier hilfreich gewesen. Denn an der Tatsache des Vorrangs des Kollektivs vor dem Individuum lässt sich nichts deuteln, selbst wenn man das Sufitum mit seiner betonten persönlichen Mensch-Gott- Beziehung als Gegenbeleg anführte.

Kunst und Kultur

Harsch fallen Sarrazins Urteile zu Kultur und Kunst des Islam aus, auch angelehnt an Burckhardt. Dass »Kunstfeindlichkeit und Bilderstürmerei (..) in gewissem Sinne zum islamischen Glaubenskern« zählen (S.140), ist dann doch überzogen, denn die islamistischen Barbareien der Taliban (›Bamiyan‹!) und des IS sind Ausdruck einer ultra-islamistischen, terroristischen Sichtweise und nicht Allgemeingut von Muslimen. Es gibt zudem sehr alte Traditionen im Islam in puncto Malerei (z.B. Wand-, Miniatur-, Keramik-, Glasmalerei), Kalligrafie, Ornamentkunst (Stichwort: ›Arabeske‹), Dichtkunst (Hafiz aus Persien!), Buchillustrationen, Architektur (obgleich der Moscheebau oströmischen Vorbildern folgt), Weberei und auch teilweise Musik (z.B. Musiktheorien von al-Kindi und al-Farabi, türkische Volks- u. Kunstmusik, auch Popmusik), die zumindest erwähnt werden sollten. Ganz richtig sieht der Autor aber die Defizite in der bildenden Kunst durch das (koranisch nicht belegte) ›Bilderverbot‹.

Wissenschaft und Technik

Das Zurückbleiben des Islam in Wissenschaft und Technik ist eine gut belegte Tatsache und Sarrazin sieht die Ursachen in der »islamischen Umgebungskultur« (S.143). So wird die Neuauflage einer Debatte über Genetik vermieden. Fazit an dieser Stelle: »Solange man diese Ursachen nicht im Genetischen sucht und eine ›Erbdummheit der Muslime‹ ausschließt, bleibt nur der kulturelle Einfluss des Islam« (S.144). Immer wieder wurde in den letzten Jahren heiß über den Beitrag des Islam zur europäischen und zur Weltkultur diskutiert, häufig auch in apologetischer Absicht, bis zu so absurden Behauptungen, der Koran enthalte das gesamte Weltwissen. Über diesen islamischen Einfluss muss weiter gestritten werden (das Paradebeispiel ›Al-Andalus‹ als ›Glorie‹ des islamischen Einflusses auf Europa fehlt im Buch). Sarrazin gesteht dem Islam immerhin in einzelnen Bereichen (z.B. ›indische Mathematik‹) eine Vermittlungsfunktion zu, die allerdings mit der Eroberung Bagdads durch die Mongolen 1258 (nicht wie im Buch falsch geschrieben 1253, S.147) endete. Doch die genuinen Leistungen des Islam z.B. im Blick auf Astronomie, Geometrie und Medizin sowie die Übersetzungen von griechischen Autoren durch arabische Wissenschaftler (allerdings unter substantieller Mithilfe christlicher Übersetzer!) sollten auch nicht geringgeschätzt werden.

Mangel an kognitiver Kompetenz

Unter Hinzuziehung international anerkannter Testverfahren (TIMMS, PISA) konstatiert Sarrazin einen Mangel an »kognitiver Kompetenz« in der islamischen Welt, denn das »islamische Bildungsideal« ziele vor allem auf die Herausbildung des gläubigen Muslims. Er gibt aber seiner Hoffnung Ausdruck, dass in der islamischen Welt »möglichst viele Talente blühen« mögen und dass es ihr gelinge, »die Beschränktheit und die Vorprägungen abzuschütteln, die sich historisch aus der Religion des Islam ergeben haben« (S. 164).

Frauen und Kopftuch

Der Autor ist der Auffassung, dass alles was am Islam »problematisch ist und die Rückständigkeit der islamischen Länder bewirkt« mit dem Geschlechterverhältnis und der Stellung der Frau zu tun habe (S.165). Damit spricht Sarrazin eine in der Tat zentrale Problemzone an. Schon der Koran sei von einer großen »Gleichgültigkeit gegenüber den Frauen« geprägt (Suren 4,34; 2,32 und 2,33; Bekleidungsvorschriften: Suren 24,30; 24,31; 24,60; 33,32; 33,51; 33,59) Diese Gleichgültigkeit drücke sich in strikten Normen und Praxen der Unterordnung aus, die bis heute anhielten, ja sich durch das Vordringen des konservativen und fundamentalistischen Islam befestigt und vertieft hätten (S.164 -188 und 351 – 368). »Die Stellung der Frau im Islam fördert Bildungsferne, Arbeitsmarktdistanz, frühe Heirat und hohe Kinderzahlen. Wo immer Muslime sind, sind sie stets die kinderreichste Gruppe. Das Beharren auf traditionellen Bekleidungsvorschriften und die umfassende gesellschaftliche und familiäre Aufsicht über den Umgang und das sexuelle Verhalten der Frauen liefern einen entscheidenden Beitrag zur anhaltenden demografischen Expansion der islamischen Welt, darunter auch der muslimischen Minderheiten in den Ländern des Westens« (S. 351). Die Unterordnung der Frau unter den Mann und das islamische Kollektiv, die strikte Kontrolle ihrer Sexualität (›Jungfrauenwahn‹) durch Verhüllungszwang und frühe Heirat ist durch zahlreiche wissenschaftliche Studien, Reports, TV-Dokumentationen, erschütternde Berichte von Frauen aus dem islamischen Alltag und teilnehmende Beobachtungen hinreichend belegt worden. Hinzu kommt: Gewalt gegen Frauen ist in der Welt des Islam endemisch, die Männerdominanz allgegenwärtig. 70 Prozent befragter Männer in Ägypten befürworten die weibliche Beschneidung (Genitalverstümmelung) und mehr als 50 Prozent der Frauen. Sarrazin fasst zusammen, was bekannt ist. Die verzweifelten Versuche, selbsternannter ›Feministinnen‹, dies zu bestreiten oder – noch absurder – etwa den realislamischen Kopftuchzwang gar als ›Emanzipation‹ zu verkaufen, zerschellen an der traurigen Realität.

Sarrazin hält somit fest: »Die Verbreitung des Kopftuchs und weitergehender Verhüllungen der Frauen in der islamischen Welt korreliert eng mit einer konservativen Auslegung des Islam und einer eher wörtlichen Interpretation des Korans sowie der überkommenen muslimischen Verhaltensnormen. Sie korreliert eng mit einer Ablehnung der Werte der abendländischen Aufklärung, mit einer Distanz zur abendländischen Demokratie, mit niedrigen Bildungsleistungen und mit Rückständigkeit in Wirtschaft, Wissenschaft und Technik« (S.167). Die für die Frauen gesetzten religiösen und kulturellen Verhaltensnormen widersprechen eklatant nicht nur den Menschenrechten, sondern den Erfordernissen einer modernen Gesellschaft. Dabei ist gerade die Bildung der Frauen unverzichtbar, wird aber aus Furcht vor einer Einschränkung der Männerdominanz und der Gefährdung der traditionell-konservativen Geschlechterordnung abgewehrt (S.183).

Eben nicht typisch Deutsch
Alain Finkielkraut: Ein Kulturpessimist auf der Anklagebank
Intensiv wird die ›Kopftuchfrage‹ erörtert, die hierzulande immer wieder neu aufbricht, weil sie unser politisches und gesellschaftliches Leben unmittelbar betrifft. Insofern ist der »Kampf um das Kopftuch« ein »Kampf um die künftige Rolle und die demografische Vorherrschaft des Islam. Beim beharrlichen Kampf der islamischen Verbände in Europa um die Bedeckung der muslimischen Frauen geht es also nicht nur um eine traditionelle Religionsauffassung. Hier findet vielmehr ein gesellschaftlicher Machtkampf statt. Die muslimischen Frauen sollen früh heiraten und viele Kinder bekommen, um den künftigen Einfluss des Islam zu mehren. Und sie sollen natürlich nur Muslime heiraten« (S. 352).

Das Kopftuch ist zum militanten Symbol des Islamismus geworden und seine männlichen ›Kämpfer‹ versuchen die Verhüllung Mädchen schon vor Erreichen der Pubertät aufzuzwingen und die Vermummung zur selbstverständlichen Praxis des muslimischen Frauenalltags zu machen. Sarrazin gibt dafür eine Reihe von treffenden Beispielen und zitiert die Rechtsanwältin Seyran Ates, eine langjährige Kämpferin gegen das Kopftuch aus praktischen Erfahrungen. Aufschlussreich sind auch die Angaben des Autors zu Heiratsverhalten und Geburtenhäufigkeit. Laut Koran (Sure 5,5; 2,221) dürfen Frauen keine »ungläubigen« Männer heiraten und es ist nicht verwunderlich, dass intrareligiöse Ehen kaum vorkommen (S. 356). Die von Sarrazin bemühten Statistiken zur Geburtenhäufigkeit sind eindeutig. Frauen mit Migrationshintergrund (die Religion wird nicht erfasst!) haben deutlich mehr Kinder als solche ohne – bei fortwirkendem Trend. Die ethnische Aufschlüsselung zeigt, dass die Anzahl der Kinder in islamischen Ländern signifikant hoch ist (z.B. Pakistan, Afghanistan, Syrien, Irak, Marokko etc. – S. 356 ff.) Die überall in Europa zunehmende Verschleierung signalisiert u.a. eine »schleichende Islamisierung durch Einwanderung und Geburtenzahl« (S. 361). Dafür gibt es eine Reihe krasser Beispiele aus Frankreich (Badinter, Finkielkraut) und ein Gefahrenszenario, das der französische Autor Michel Houellebecq in seinem bedrückenden Roman Unterwerfung literarisch aufbereitet.

Mentale Aspekte und Parallelgesellschaften

Schon seit Jahren haben sich in »mentaler, religiöser und ethnischer Hinsicht Inseln« gebildet, »die der Kultur, dem Lebensstil und den Werten des Abendlandes feindselig bis gleichgültig gegenüberstehen« (S.365). Diese, auch »Parallelgesellschaften« genannten, Inseln sind geprägt von dem Glauben an »die Überlegenheit des Islam, das Desinteresse an der westlichen Kultur, die sichtbare Abgrenzung durch Zeichen des Glaubens, die Bildungsferne« den »Familienzusammenhalt, die Unterdrückung der Frau«, den »Kinderreichtum und die von der Kultur der Aufnahmeländer abgeschiedene Lebensweise« (S. 366). Sarrazin bezieht sich bei der Analyse von Parallelgesellschaften u.a. auf den ehemaligen Bürgermeister von Neukölln, Heinz Buschkowsky (Die andere Gesellschaft, 2014 und Neukölln ist überall, 2012) und den Islamwissenschaftler Ralph Ghadban (Die Libanon-Flüchtlinge in Berlin, 2000 und Islam und Islamkritik. Vorträge zur Integrationsfrage, 2011), die Entwicklungen aus eigener Anschauung beeindruckend beschrieben haben.

Wie es in Europa, von Malmö, Molenbeek bis Berlin-Neukölln zur fortschreitenden Ausbildung von Parallelgesellschaften kommt, beschreibt Sarrazin mit einer Fülle von Fakten zur neueren Geschichte der Zuwanderung und erläutert, dass die im Diskurs über Zuwanderung immer wieder vorgebrachten historischen Analogien (Nordamerika, Hugenotten, osteuropäische Juden etc.), im Blick auf die muslimischen Migrationsbewegungen in die Irre führen (S. 242 ff.).

Die muslimische Zuwanderung findet statt, »obwohl Religion und Kultur der Aufnahmeländer abgelehnt werden« (S. 245). Hier tickt eine Zeitbombe aus demografischen Faktoren (die Minderheit wird zur Mehrheit), der sozioökonomischen Situation (Bildungsstände, Berufsabschlüsse, Arbeitsmarktbeteiligung, Transferabhängigkeit, Arbeitslosigkeit u.a.) und der seit 2015 ungebremsten Zuwanderung vor allem muslimischer Migranten. Sarrazin bietet eine Fülle von Daten aus amtlichen Statistiken und zahlreichen Studien zu Migranten in Europa und Deutschland. Dieses Material muss im Islamdiskurs gebührend zur Kenntnis genommen werden und sollte auch unsere Beamten im Innenministerium beschäftigen, die gerade die Neuauflage der – aus Sicht des Rezensenten gescheiterten – Islamkonferenzen vorbereiten.

Trotz der Problematik der unterschiedlichen statistischen Methoden und Verfahren und den verschiedenen methodologischen Ansätzen der Studien, die der Autor in Rechnung stellt, ergibt sich ein düsteres Bild. Die Tendenzen in ganz Europa zur Herausbildung von religiös-kulturell bestimmten Parallelgesellschaften mit klaren Abgrenzungen zur Mehrheitsgesellschaft, Kommunikationsabbrüchen, autoritären und teilweise menschenrechtsfeindlichen Binnenstrukturen (die insbesondere Frauen massiv betreffen!) und auch höherer Kriminalitätsbelastung, sind vor dem Hintergrund des präsentierten Materials offensichtlich (S. 246 – 338). Es sind muslimische Kleinwelten entstanden, die nicht mehr integrierbar sind, weil schon ihre mentalen Dispositionen, z.B. männliche Dominanz, Verteidigung der »Ehre, die zwischen den Beinen der Schwestern und Ehefrauen angesiedelt wird und mit der Unterdrückung der Frau eng verbunden ist«, Behauptung von der »Überlegenheit der Religion des Islam und der Stärke der Muslime in der Welt«, dem entgegenstehen (S. 322). Radikalisierung und Ausbreitung fundamentalistischer Lesarten des Islam verstärken sich. An den Rändern formiert sich ein gefährlicher Extremismus, der sich u.a. in der Zunahme des Salafismus (zurzeit rund 10.000 Mitglieder in Deutschland) zeigt. Es drohe, wie es der algerische Schriftsteller Boualem Sansal (Allahs Narren. Wie der Islamismus die Welt erobert), Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2011, gesagt hat im Falle der Mehrheit der Muslime eine »Glaubensdiktatur« (S. 368).

Institutionalisierter Islam

Der institutionalisierte Islam (Moscheevereine, Verbände) scheint weder willens noch in der Lage zu sein, als Integrationshelfer zu dienen, im Gegenteil. Die großen Muslimverbände verstärken eher fundamentalistische Tendenzen, verteidigen mit Zähnen und Klauen das Kopftuch und weisen die Frauen in ihre untergeordnete Stellung ein: »Die islamischen Verbände in Deutschland vertreten durchweg einen konservativen Kopftuch-Islam. Sehr konservativ, häufig offen islamistisch und radikal ist auch der Islam, der von vielen Imamen in den Moscheen gepredigt wird. Gleitend sind hier die Übergänge zum politischen Islam, zum Salafismus und zur Rechtfertigung von Gewalt und Terror« (S. 338 ff.) Der »Zentralrat der Muslime in Deutschland« (ZMD) brachte das Kunststück fertig, sich in seiner »Islamischen Charta« von 2002 um eine ganz klare Stellungnahme zu Menschenrechten und Demokratie zu drücken. Wer die verschwurbelten Formulierungen der Charta genau liest, dem wird bald klar, dass auch hier der Scharia der Vorrang vor den Menschenrechten eingeräumt wird (S. 343).

Liberaler Islam

Auch auf den sogenannten ›liberalen Islam‹ setzt Sarrazin wenig Hoffnung: »Weltweit sind die liberalen Muslime, wie immer ihre konkrete Position ist, in einer winzigen hoffnungslosen Minderheit. Und entsprechend ratlos sind sie, wie sie den gelebten Islam und die Mehrheit der Muslime in ihrem Sinne ändern können« (S. 377). Islamkritische Musliminnen und Muslime wie z.B. Necla Kelek, Seyran Ates, Güner Balci, Elham Manea, Hamed Abdel- Samad, Mouhanad Khorchide, Ahmad Mansour u.a. werden im Diskurs häufig gemieden, politisch und medial fast geächtet. Lädt man sie einmal in eine der Talkshows ein, werden sie von ihren Gegnern gut eingerahmt. Trotz dieser traurigen Lage halte ich es für wichtig, die religiös-kulturellen Wertvorstellungen, politischen Ideen und Konzeptionen dieser Minderheit im Diskurs am Leben zu halten und die Versuche der Einwirkung auf die muslimischen Gemeinschaften nicht aufzugeben.

Was ist zu tun?

Nach der Präsentation der geballten Macht schlechter Botschaften sollten nun Antworten auf die vielen Fragen und Problemfelder gegeben werden. Das unternimmt Sarrazin im letzten Kapitel.

Eine erste Schlussfolgerung ist die Zulassung von Kritik an Religionen. »Ehrfurcht« darf sie nicht schützen (S. 369). Hier tritt nun – m.E. ohne Not! – Sarrazin aus seinem eingangs erwähnten Agnostizismus heraus und betritt den Weg des radikalen Atheisten: »Wissenschaftlich gesehen, ist jede Religion nichts als ein Aberglaube, der von vielen geteilt wird, und eine Weltreligion ist ein Aberglaube, der von besonders vielen Menschen über besonders lange Zeit geteilt wird« (S. 370). Eine solche apodiktische Behauptung wird die ›Freidenker‹ und ›Humanisten‹ erfreuen, die Ähnliches verkünden, sie ist aber religionswissenschaftlich abwegig. Die Religionswissenschaft ist längst über die ›Aberglaube-Theorie‹, die Ähnlichkeiten mit der ›Priesterbetrugsthese‹ hat, hinaus. Sie untersucht rational die vielfältigen Manifestationen religiöser Lehren und Praxen und versucht sich immer wieder neu an der Formulierung eines Begriffs von Religion.

Es ist nicht ihre Aufgabe, über ›Wahrheit‹ oder ›Unwahrheit‹ einer Religion zu rechten. Sarrazin möchte auch ›Religion‹ von ›Moral‹ scharf trennen. Er hält die Verbindung von Religion und Moral für »unsinnig und gefährlich« (S. 370). Das ist nicht schlüssig. Es ist m.E. müßig, darüber zu streiten, ob man (mit Darwin) Gefühl und Moral als Ergebnis natürlicher Selektion betrachtet oder Religion und Moral als anthropologische Konstanten des Menschseins sieht. Das ist ein – zwar interessanter – ›Nebenkriegsschauplatz‹ der eigentlichen Intention von Sarrazins Buch: die Bedrohlichkeit des Islam für die aufgeklärte westliche Zivilisation und Kultur darzustellen. Was sollen wir denn angesichts von (geschätzt) 4,3 – 4,7 Millionen Muslimen in Deutschland tun?

Rolle des Staates

Der säkular-neutrale Staat, so verstehe ich den Autor, setzt Normen, auch und gerade für Religionen. Er ist neutral, aber nicht religiös-theologisch »inkompetent« wie der Sachverständigenrat für Integration behauptete (S. 372). Der Staat muss Religionen bewerten und unter Umständen der Religionsfreiheit Grenzen setzen. »Deshalb ist in Deutschland Polygamie verboten, neunjährige Mädchen dürfen nicht verheiratet werden, und Männer und Frauen werden im Erbrecht gleichbehandelt. All das widerspricht der Religion des Islam. Es ist eine Frage pragmatischer Funktionalität, nicht mehr und nicht weniger, wo der Staat Religionen Grenzen setzt und wie er das tut. Würde er darauf prinzipiell verzichten, könnte er eine zentrale staatliche Aufgabe nicht erfüllen, nämlich die Spielregeln der Gesellschaft festzulegen und dem Verhalten des Einzelnen Grenzen aufzuzeigen« (S. 374).

Sarrazin moniert zu Recht, dass weder Kritik noch Grenzsetzung ausreichend geschehen und im Falle des Islam häufig aus Furcht, in die rechte Ecke gestellt zu werden, entweder nur ›weichgespült‹ geübt werden oder ganz unterbleiben (S. 377 ff.). Tabuisierungen und politische Korrektheit sind Hindernisse einer offen streitenden Debatte.

Ein demokratiekompatibler Islam?

Sarrazin möchte nicht, dass »geistige Engführungen (…) unser Denken behindern« (S. 382) und fragt danach, ob der Islam sich nicht ändern könnte. Für einen liberalen und demokratiekompatiblen Islam sieht er zurzeit keine Chance, auch werde sich am frühen Heiratsverhalten und Kinderkriegen muslimischer Frauen nichts ändern. Die Hoffnung auf eine verstärkte Zuwendung von Muslimen zur säkularisierten Variante von Islam erscheint ihm ebenso unwahrscheinlich wie die Möglichkeit, dass aufgrund der dargelegten Rückständigkeiten des Islam Muslime den Weg in die Spitzenpositionen der Gesellschaft finden.

Identität

Sarrazin empfiehlt die »Selbstvergewisserung der deutschen und europäischen Identität« und die klare Definition »eigener Interessen« (S. 388): »Die Bedrohung der europäischen oder westlichen Identität setzt dort ein, wo eine allmähliche demografische Überwältigung durch den Islam stattfindet. Deshalb haben wir in Deutschland und Europa das Recht, ja sogar die Pflicht, dieser Bedrohung durch demografische Überwältigung vorausschauend entgegenzutreten« (S. 387 f.) Das bedeute konkret, dass die muslimische Einwanderung wirksam beschränkt werden müsse.

Einwanderungspolitik

Feindliche Übernahme
Sarrazin: Befreiung der Einwanderungspolitik von Ideologie und Wunschdenken
Weiterhin schlägt er eine »Befreiung der Einwanderungspolitik von Ideologie und Wunschdenken« vor. Das hieße vor allem die Fluchtursachen zu bekämpfen, aber nicht mit vielem Geld: »Fluchtursachen bekämpfen heißt: die kulturellen Einstellungen in den Krisenländern ändern, Unwissenheit, Korruption und schlechte Regierungspraxis bekämpfen. Dabei kann und muss der Westen helfen. Aber er darf dabei nicht als Vormund auftreten und muss den Stolz der Völker in den Krisenländern respektieren. Der Erfolg ist ungewiss und wird viele Jahrzehnte in Anspruch nehmen« (S. 390). Sarrazin verneint, dass wir aus wirtschaftlichen Gründen Einwanderung brauchen, hält es aber für eine moralische Pflicht, armen Ländern zu helfen. Hart geht er mit der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung seit 2015 ins Gericht und listet die gröbsten Fehler auf (S. 392 ff.). Das ist für die Kritiker der Bundesregierung eine gute Zusammenfassung, für ihre Unterstützer wahrscheinlich unbegründete Miesmacherei. Eine Auseinandersetzung mit den Kritikpunkten ist jedoch dringend erforderlich.
Asyl- und Flüchtlingspolitik

Vor dem Hintergrund der Fehlentwicklungen sei eine »Reform der Flüchtlings- und Asylpolitik« überfällig (S. 396 ff.). Die wichtigsten Änderungen: Erstens sollte die Genfer Flüchtlingskonvention von 1950 dahingehend geändert werden, dass für »Flüchtlinge möglichst nah an ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten gesorgt wird« (S. 396). Zweitens dürften staatliche Leistungen an Flüchtlinge erst fließen und Klageberechtigungen entstehen, wenn der Betreffende einen Aufenthaltsstatus bekommen hat, der ihm nach einer Prüfung von 30 Tagen entweder zugesprochen oder verweigert wird. In der Wartezeit befindet er sich in einer Art ›Transitzone‹ in der das Ausländerrecht nicht gilt. Alle Zuständigkeiten sollen auf eine Stelle konzentriert werden bis das Verfahren abgeschlossen ist. »Ein weiterer Rechtsweg über die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist ausgeschlossen« (S. 397). Alle abgelehnten Asylbewerber und alle illegalen Einwanderer, für die eine Zentraldatei angelegt werden soll, müssen abgeschoben werden. Wenn Boote mit Flüchtlingen und illegalen Einwanderern aufgebracht werden, sollen diese, nach ggf. notwendiger medizinischer Versorgung, unverzüglich an ihre Ausgangspunkte zurückgebracht werden.

Außen- und Entwicklungspolitik

Sodann plädiert Sarrazin für »eine der islamischen Welt zugewandte und ernsthafte Außen- und Entwicklungspolitik« (S. 399). Diese Politik sollte vor allem darauf gerichtet sein, »die Wanderung der Menschen nach Deutschland und Europa vorbeugend zu verhindern. Jene Staaten, die ungeregelte Auswanderung konsequent unterbinden und illegale Einwanderer freiwillig zurücknehmen, sollten mit Zahlungen aus Europa an ihre Staatshaushalte belohnt werden. Jene Länder dagegen, die nicht kooperieren, sollten von allen Zahlungen abgeschnitten werden« (S. 401).

Islampolitik

Was Sarrazin unter der Forderung nach einer »robuste(n) und realistische(n) nationale(n) Islampolitik« (S. 402) vorträgt, ist eine Zusammenfassung nicht neuer, gleichwohl höchst kontroverser Forderungen nach einer neuen Verhältnisbestimmung von Staat und Religion. Er möchte den »Rest von Staatskirchentum« (S. 402) beseitigen, den es noch in Deutschland gebe. Da das staatskirchenrechtliche System »immer nur historisch erklärbar war«, hat es auch den »fortschreitende(n) Bedeutungsverlust« der christlichen Kirchen nicht aufhalten können (S. 403).

Ganz falsch sei es, mit dem Anspruch auf Gleichbehandlung, den Islam an den staatskirchenrechtlichen Privilegien (»Körperschaften des Öffentlichen Rechtes«) zu beteiligen. Er schlägt vor, dass sich Religionsgemeinschaften nach dem Vereinsrecht organisieren sollten: »Das deutsche Vereinsrecht bietet alle Möglichkeiten, um christliche Kirchen und andere Religionsgemeinschaften staatsfern zu organisieren und in diesem Rahmen freie Religionsausübung zu praktizieren« (S. 405). Sarrazin kennt als staats- und rechtswissenschaftlich ausgewiesener (Dr. rer. pol.) Volkswirt die staatskirchenrechtliche Lage genau und weiß, dass er hier in ein Wespennest sticht.

Sarrazin steht mit dieser Forderung in der Tradition des bis zum Gothaer Programm der SPD 1875 zurückreichenden Programmsatzes von der »Erklärung der Religion zur Privatsache«. Die Mehrheits-SPD (MSPD) gab diesen Grundsatz 1919 faktisch auf, indem sie auch den Kirchenartikeln der Weimarer Reichsverfassung zustimmte, die bis heute Bestandteil des Grundgesetzes sind (Art. 140). Die SPD revidierte ihre Stellung zu den Kirchen im Godesberger Programm 1959 und versteht sich seitdem als ›Partner‹ der Kirchen. Sarrazins Forderung nach Eliminierung des geltenden Staatskirchenrechts wird zwar von linken SPD-Kreisen, sowie Humanisten und Freidenkern unterstützt, würde aber zurzeit keine politische Mehrheit im Bundestag finden. Es müsste dann auch der Art. 7, Absatz 3 des GG fallen, der den konfessionellen Religionsunterricht als »ordentliches Lehrfach« ausweist, der in »Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften« erteilt wird. Sarrazin hält den konfessionsgebundenen Religionsunterricht für obsolet und will ihn zugunsten von mehr Geschichte und Gemeinschaftskunde abschaffen. Denn: »Konfessionsgebundener Religionsunterricht ist immer eine einseitige Indoktrinierung unter Umgehung des kritischen, fragenden Verstandes« (S. 408).

Das ist m.E. eine – ganz unnötige – Polemik, die nur der Unkenntnis der geltenden und praktizierten religionspädagogischen Standards geschuldet ist. Religionspädagogik geht von der Lebenswirklichkeit der Schüler aus und will sie in ihrer Religion beheimaten. Dabei wird stets auf interreligiöse Orientierung und auch Kooperation mit (in Berlin z.B.) den Fächern Ethik und Lebenskunde (erteilt vom Humanistischen Verband) geachtet. Die Zukunft des islamischen Religionsunterrichts ist offen und ich teile die Kritik und Bedenken Sarrazins.

Richtig erscheint mir seine Forderung, islamische Theologie an den Hochschulen bei den philosophischen Fakultäten anzusiedeln und islamischen Beiräten nur eine beratende Funktion zuzusprechen. Das Beispiel der Institutionalisierung islamischer Theologie an der Humboldt-Universität in Berlin mit Vertretern der konservativen und fundamentalistischen Islamverbände sollte ein warnendes Beispiel sein.

Erwartungen an Muslime

Sarrazin schreibt: »Das Verhältnis der Muslime zu Staat und Gesellschaft bedarf einer klaren Erwartungshaltung« (S. 409) und meint konkret, dass Muslime

Entschieden plädiert Sarrazin für eine neue Konstruktion der Islamkonferenz. Für die teilnehmenden Verbände sollte es »ein Quorum über die nachgewiesene Mindestzahl der von ihnen vertretenen Mitglieder geben. Auch sollten nur solche Verbände teilnehmen dürfen, bei denen eine direkte oder indirekte Finanzierung aus ausländischen Quellen nachweislich ausgeschlossen ist« (S. 412). Damit wären zurzeit fast alle Verbände ausgeschlossen, was allerdings schwer umzusetzen sein wird. Aber der Autor möchte auch grundsätzlich keinen ›Sonderstatus‹ für muslimische Verbände, der über die Gewährung individueller Bürgerrechte hinausgehe.

Integrationspolitik und Bildung

Ein Protokoll des Scheiterns
Hamed Abdel-Samad: Das Märchen von der gelungenen Integration
Sarrazin nimmt Bezug auf die Integrationspolitik und fordert ihre Entmystifizierung (S. 413). Es müsse zugegeben werden, dass sie gescheitert sei (Hamed Abdel-Samad!). In der Bildungspolitik müsse es darum gehen »kulturelle Assimilation« zu unterstützen und auf »Integration durch Leistung setzen« (S. 413). Dazu seien qualifizierte Testverfahren zur Leistungsmessung notwendig. Auch fordert er, wie schon angesprochen, ein neues staatsbürgerkundliches Schulfach – anstelle des Religionsunterrichts: »Statt des Religionsunterrichts sollte es ein für alle verpflichtendes Schulfach geben, das Fragen der Ethik, der Staatsbürgerkunde und der Gemeinschaftskunde umfasst. Auch die Ideengebäude von politischen Theorien und Religionen zählen dazu« (S. 417). Das setzte einen großen Konsens von Bildungspolitikern und Pädagogen voraus, den ich zurzeit nicht erkennen kann.
Kopftuch

In deutlichem Dissens zu den Urteilen des BVerfG zum Kopftuch (2003, 2015) möchte Sarrazin das Kopftuch gänzlich aus der Schule verbannen (S. 419).

Falsche Anreize

Sozialpolitisch hält Sarrazin eine Reduktion »falscher Anreize« für notwendig. Das beträfe vor allem die kinderreichen muslimischen Familien: »Es wäre richtiger, wenn man die Geldleistungen für Kinder generell stark reduzieren würde. Dieses Geld ist in Kitas und Ganztagsschulen besser angelegt« (S. 420). Dies wird schon seit langem diskutiert und wäre in der Tat ein besserer Beitrag zur Integration.

Daten über den Islam

Ganz zum Schluss seines Buches fordert der Autor, dass »über den Islam und die Muslime in Deutschland und Europa (…) transparent, offen und vollständig berichtet werden« müsse (S. 421). Hier sind vor allem die amtlichen Stellen gefordert, die offizielle Statistiken zur Religionsangehörigkeit und dem sozioökonomischen Status von Religionsangehörigen liefern müssen. Das wäre tatsächlich eine wichtige Grundlage für Politik und Zivilgesellschaft und hilfreich für Messungen zum Stand der Integration.

Abschließende Bemerkung

Im Gegensatz zu der versammelten Macht der politischen Eliten und ihrer medialen Claqueure, die das Buch schon im Vorfeld verdammten und dann in einer Mischung aus Dummheit, Ignoranz und Schmähkritik (Süddeutsche Zeitung!) verurteilten, halte ich das Buch für hilfreich. Es ist informativ und erörtert die wesentlichen kontroversen Fragen, die im Islamdiskurs ja schon länger diskutiert werden. Es regt aber an, neu nachzudenken und kann insofern auch als kritisches Nachschlagewerk zur Wirklichkeit des Islam in Deutschland und Europa dienen. Der oft zugespitzte und provokative Stil mag manchen stören, doch ist das auch ein Mittel die Dinge auf den Punkt zu bringen.

Ich hoffe, dass sich viele Menschen mit Sarrazins Buch auseinandersetzen, weil es sich lohnt. Es bleibt abzuwarten, wie sich die feindselige Front aus Wissenschaft, Politik, Medien und Kirchen verhalten wird. Totschweigen und auf den Index setzen wäre genauso inakzeptabel wie die – bislang zu beobachtende – oberflächliche, vorurteilsbehaftete und einseitige Verurteilung, die sich auch wieder auf die Person Thilo Sarrazins kapriziert. Der Autor wusste, was er tat als er dieses Buch schrieb. Es war ein mutiger Schritt. Und solcher Mut ist unserer Gesellschaft weithin abhandengekommen.

Johannes R. Kandel, geb. 1950, Politikwissenschaftler und Historiker, war bis zu seinem Ausscheiden 2014 Dozent und Akademiedirektor im Bereich Politische Erwachsenenbildung bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, ab 1999 als Referatsleiter für den Bereich »Interkultureller Dialog« in Berlin mit Schwerpunkt Islam. 
Darüber hinaus war er Mitglied im Gesprächskreis »Sicherheit und Islamismus« der Ersten Deutschen Islamkonferenz und Gründer des »Berlin Forum für Progressive Muslims«. Für die EKD beteiligte er sich an der Erarbeitung einer »Handreichung zum christlich-muslimischen Dialog« (erschienen 2006).
Zum Thema Islam erschienen von ihm zahlreiche Publikationen.

Dieser Beitrag erschien mit freundlicher Genehmigung des Autors und GlobKult Magazin, das ihn zuerst veröffentlicht hat.

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