Tichys Einblick
Was war nochmal an Pfingsten?

Vom wahren und falschen Charisma – und dem Geburtstag der Kirche

Gehen wir zurück zu dieser Urszene, die sich am Pfingsttag vor knapp 2000 Jahren in Jerusalem zugetragen hat, am pentekoste hemera, dem fünfzigsten Tag nach Ostern. Das müssen wir schon deshalb tun, weil 76 Prozent der Deutschen nicht mehr wissen, was Pfingsten bedeutet.

IMAGO / agefotostock

So kündigte sich das Pfingstwunder damals, dem Evangelisten Lukas zu Folge, an: mit einem Brausen in der Luft, mit Wind, mit Sturm – dem Geist; ist es vielleicht derselbe, der bereits am Beginn der Schöpfung über den Wassern wehte, wie es manche Theologen vermuten? Die Jünger haben sich versammelt, sie beten und denken an ihren charismatischen Herrn, an den Auferstandenen, der ihnen mehrmals erschienen war nach Ostern, und der sie einige Tage zuvor in Bethanien versammelt hatte, wo er sie segnete und dann, vor ihren Augen (!), in den Himmel auffuhr: was für ein Abschied, was für ein Versprechen, auf baldige Wiederkehr.

Bei dieser Wiederkehr, der Parusie, so glaubten es die Jünger, wird Gericht gehalten über die Lebenden und die Toten. Es gab damals eine Naherwartung des Weltendes und plötzlich kommt dieser Sturm auf, sie fürchten sich, ihr Beten schwillt an. Noch vor wenigen Monaten waren sie einfache Fischer, bis der Herr sie – ausgerechnet diese einfachen Netzeflicker – zu Menschenfischern machte.

Plötzlich tanzen Feuerzungen im Raum über den Köpfen der Zwölf! Was für eine großartige Halluzination, um mal kurz von der Sprache der Offenbarung in die der Psychologie zu wechseln, und gleichzeitig schwindet die Angst und macht einer Verwunderung Platz, fast wie ein antikes Woodstock, ein Fest der Entgrenzungen und des Glücks, ja der Ekstase, einige fallen um wie in Trance und die anderen sprechen in Zungen, sie lallen in allen bekannten Sprachen, sie wirken auf die Umstehenden wie betrunken. Und dann kommt der große Auftritt von Petrus, seine Predigt ist beseelt, nein, sagt er, wir sind nicht betrunken, der Heilige Geist spricht aus uns: kehrt um!

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Der Heilige Geist ergießt sich über alle Jünger, sie werden ausgestattet mit Gnadengaben sie können plötzlich prophezeien und heilen und alle Sprachen sprechen und den Geist durch Handauflegen weiterreichen. Sie wachsen über sich hinaus. Tausende lassen sich taufen in den folgenden Tagen, das ist Pfingsten: das Gründungsfest der Kirche.

120 sollen sich versammelt haben und an jenem Tag haben sie alle Charisma, das „Gnadengeschenk“, und sie erhalten es, um es weiterzugeben, denn es soll, wie der Apostel Paulus in seinem Korintherbrief sagt, „den Menschen nützen“. Erfüllt von diesem Charisma sind diese frühen Christen, die alles teilen, sich um die Alten und die Schwachen kümmern, die bereit sind, sich steinigen und töten zu lassen für die Wahrheit. Knapp 2000 Jahre später ist die Welt immer noch nicht untergegangen, aber das pfingstliche Charisma hat dafür gesorgt, dass sich die frohe Botschaft über den ganzen Erdball verbreitet hat.

Lukas berichtet von den pfingstlichen Feuerzungen, als sei er dabei gewesen. War er? Das ist nicht wichtig, weil jeder dabei war, der glaubt, und damals jeder glaubte, er sei dabei gewesen, auch Paulus, der sich in seinem Korintherbrief vom heiligen Geist ergriffen fühlt.

Er war so nah dran wie jener unerhört fiebernde Modernist des Hochbarock, dieser El Greco, 1600 Jahre später, als er die Pfingst-Szene nicht wie zuvor üblich als sittsamen hochmittelalterlichen Stuhlkreis, sondern als Moment der Anarchie, als bildberstenden Tanz aus Leibern imaginiert hat, mit glühendem Pinselstrich und pop-bunten Farben auf die Leinwand deliriert, unter gleißendem Licht von oben, ein  magischer Realist, empfänglich für Inspiration und Erleuchtung wie die Apostel, ein Charismatiker auch er.

Ein leuchtender Zug von charismatischen Einzelnen paradiert durch die Geschichte des Abendlandes, von Abenteurern des Glaubens wie Franziskus, von Weltentdeckern wie Columbus, von Weltumstürzlern wie Luther, von Poeten und Musikern wie Shakespeare und Mozart, von Künstlern wie Michelangelo, von spirituellen Weltveränderern wie Gandhi oder Martin Luther King, von Mandela oder dem Dalai Lama. Von solchen, die unsere Weltbilder verändert haben wie Einstein oder Steve Jobs, von all denen, die Geschichte gemacht haben und unser Leben veränderten bis heute.

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Ja, dass Geschichte keine der Klassenkämpfe ist, wie Marx in seiner Theorie vom historischen Materialismus behauptete, sondern durchaus von charismatischen Einzelnen gemacht wird, von diesem Vertrauen ist auch die Time-Magazin-Redaktion erfüllt, wenn sie jedes Jahr den Mann oder die Frau des Jahres wählt. Dann spricht das Blatt in seinen Leitartikeln von Eingebung oder Talent oder dem richtigen Moment der Geschichte, der ergriffen wird.

Den Begriff Charisma hat erst der deutsche Soziologe Max Weber (1864 – 1920) im 19. Jahrhundert wiederbelebt, jenem Jahrhundert, das im Genie-Kult den göttlich inspirierten Künstler feierte, Tonpriester wie Wagner oder Ludwig II., den somnambulen Herrscher im Hermelin, lauter Widerständler gegen die Welt der Zwecke. Weber hat den Charisma-Begriff für den politischen Raum brauchbar gemacht. Er hat drei Typen von Herrschaft unterschieden: die traditionale, auf Sitte und Brauch gegründete Herrschaft, die legale, auf Bürokratie und Wahl beruhende, und die charismatische Herrschaft. Das ist die, die sich selbst legitimiert und durch Akklamation durchs Volk.

Charisma ist, nach Weber von „magischer Macht“ und „verwandt mit religiösen Gewalten“. Weber, der die Entzauberung der Welt durch Moderne wie kaum einer analysiert hat, hat mit dem „Charisma“ die Gnadenlehre in die Moderne geholt. Er, der sich als „religiös unmusikalisch“ bezeichnete, träumte gleichzeitig zurück und nach vorne, ohne zu erkennen, welche Gestalten ihm dort, im Frühnebel des mörderischen 20.Jahrhundert, entgegenkamen. Aber ein Gespür, eine Ahnung für die Ungeheuerliche muss er gehabt haben. Denn Weber hoffte, wie Nietzsche in einem Tagebuch-Seufzer, auf einen „römischen Cäsar mit Christi Seele“.

Allerdings betrat dann statt eines Cäsars die Bühne des zwanzigsten Jahrhunderts nur ein mörderischer charismatischer Clown, der tatsächlich römischen Liktorenbündel-Quatsch und Leib-Standarten imitieren ließ, ebenjener österreichische Gefreite mit dem ulkigen Bärtchen, Adolf Hitler, Gespött seiner Zimmergenossen im Arbeiterwohnheim, aber bereits auf dem Weg, Schauspielunterricht zu nehmen und die Augen zu rollen und den hohen Ton zu proben.

Nein, wer da aus dem Nebel trat, hatte gewiß nicht, wie Nietzsche es wollte, „Christi Seele“, Hitler hasste das Gewissen als „jüdische Erfindung“, aber er wusste die jesuanische Rhetorik ohne Skrupel zu nutzen. Der dunkel-charismatische Hitler wollte die Kirche zerstören, aber hat sie zuvor für seine Zwecke ausgeräumt. Er nannte sich „gottgesandt“, und seine hingerissene Zuhörerschaft hatte „Erweckungserlebnisse“. Nicht von ungefähr war Hitlers Wahlspruch „Deutschland erwache“.

Der Charismatiker, so Weber, verfügt über außeralltägliche Qualitäten, wobei es völlig unwichtig ist, ob er sie tatsächlich hat, oder ob sie nur vorgetäuscht sind – wichtig ist, daß seine Anhängerschaft daran glaubt. Charismatiker leben von und in der beseelten Menge.

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Da haben es die Grünen Propheten derzeit schwerer. Sie greifen zwar in eine aus ihrer Sicht bessere Zukunft voraus, aber nicht in ein Paradies, sondern eher in die grausame Realität einer sozialistischen Mangelwirtschaft, oder, wie es die grüne und fett abgesicherte Katrin Göring zynisch nennt: „Einen Wohlstand des Weniger“. Nun, Katrin Göring sagt vieles, jüngst nannte sie Luisa Neubauer, „eine der Klügsten, die wir bei den Grünen haben“, was sehr präzise die Misere der Grünen beschreibt.

Die Utopie der Grünen verspricht nicht mehr Frieden und Gerechtigkeit, sondern sie ist heruntergekommen auf den Versuch, das Klima zu regulieren. Ihr Erlösungsziel heißt 1,5 Grad Celsius, weiter kann man sich vom Pfingstwunder nicht entfernen. Und diejenigen, die es uns verordnen, sind keine mitreißenden Charismatiker, sondern graue bürokratischen Kader im Hintergrund, wie Patrick Graichen samt seines Familienclans. An der Front stehen eine dyslexische bildungsarme junge Frau samt Schminkteam und ein ratloser Dreitagebart, der einen Hoffotografen beschäftigt, um ihn ins rechte Bild zu setzen. Sie sind Vorbeter einer millenarischen Sekte, den Untergang vor Augen und damit eine grausame Parodie auf die frühen Christen, die damals vom Heiligen Geist ergriffen waren, doch paradoxerweise in der Form völliger Geistlosigkeit.

Eine Insa-Umfrage im Auftrag von Kontrafunk hat gerade ergeben, dass sich nur noch jedes zweite Kirchenmitglied als religiös empfindet. Über 30 Prozent wollen die Kirchen verlassen. Warum? Nicht wegen der Missbrauchsskandale, wie vielfach behauptet wird, sondern weil sich die Kirche zu sehr den Modethemen des Tages widmet, also der Klimareligion und der Genderei, mit anderen Worten dem Rummel um die Sexualität mit all ihren Nischenproblemen. Kontrafunk hatte all das in einer seriösen Umfrage ermitteln lassen und – jetzt bitte festhalten – war prompt dafür bestraft worden. Der von der dpa und anderen Nachrichtenagenturen kostenpflichtig betriebene Dienst OTS sperrte Kontrafunk kurzerhand aus. Ohne jede Begründung, die allerdings auf der Hand liegt – die Befunde entsprechen so gar nicht dem Narrativ, das sonst über die Probleme der Kirche ventiliert wird, denn da wird immer von Rückständigkeit und mangelnder Offenheit für die bizarren Probleme des Tages geschrieben.

Herde ohne Hirten
Katholische Kirche in Deutschland: sollte man gehen, um zu bleiben?
Offenbar ist das Gegenteil der Fall. Die Gläubigen wenden einer Kirche mit Grausen den Rücken zu, die nur noch politisiert, nur noch in Flüchtlingsfragen predigt, nur noch gegen rechts marschieren will, wie Kardinal Marx mit seiner Ungeheuerlichkeit, als er in einem Hirtenbrief mahnte, dass Christen nicht AfD wählen dürfen. Oder wie der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz Bätzing, einer jener Kirchenbürokraten, der die deutsche Kirche derzeit auf einen Sonderweg führen will, den er „Synodaler Weg“ nennt, trotz aller Mahnungen aus Rom oder solcher aus anderen Ländern wie etwa Schweden.

Kardinal Arborelius, Bischof von Stockholm, hat erst kürzlich vor der Hybris der deutschen Brüder gewarnt, die sich mit der Weltkirche verwechseln. „Das Problem ist“, sagte er der Tagespost, „dass die Kirche in Deutschland dort ein Teil der Gesellschaft ist. Man hat dort irgendwie nicht verstanden, dass die Welt sich so radikal verändert hat, dass Christen sich etwas abseits stellen und bedenken müssen, dass wir etwas anderes zu bieten haben: Evangelium, Barmherzigkeit, Heiligkeit. Für die Welt ist das nicht unbedingt zu verstehen, und wir müssen es der Welt erklären“. Kurz gesagt. Kardinal Arborelius wiederholt die Forderung von Papst Benedikt XVI aus seiner berühmten Freiburger Rede während seines Deutschlandbesuchs, in der er von der Gegenweltlichkeit der Kirche sprach und die deutschen Kirchenbonzen in ihrer bürokratischen reichen Überheblichkeit abwatschte.

Sie sind isoliert mit ihrer grünen Staatshörigkeit, entfernt auch von den eigenen Kirchenmitgliedern, sie werden bald alleine vor ihren Regenbogenaltären stehen mit ihrer Reformraserei, diese – pfingstlich gesprochen – völlig erloschenen deutschen Kirchenbonzen mit ihrer Fummelei an der christlichen Anthropologie von Mann und Frau und diesem ganzen Regenbogenquatsch – auch in die katholische Kirche in Deutschland scheint eingedrungen zu sein, was Papst Paul VI. bereits nach dem Zweiten Vatikanum entsetzt wahrzunehmen glaubte: „der Rauch Satans“.

Auch das romtreue deutsche Vatican-Magazin widmete jüngst eine Titelgeschichte der katholischen Kirche in Deutschland: „Kranke Mutter“. Lasst uns für sie beten, liebe Freunde, jetzt zu Pfingsten, dem Geburtstag der Kirche, als der Heilige Geist die Jünger Jesu vielsprachig in die Welt hinaussandte mit seinen Gnadengaben, lasst uns für sie beten, für sie und ihre Priester, die Nachfolger der Jünger. Letzten Sonntag sprach Father Bernhard, ein Luo aus Kenia, in unserer Gemeinde über die Krankheit der Mutter Kirche und er bat dringlich um unsere Gebete… Ich finde es prima, dass diejenigen, die wir einst missionierten, nun zurückkehren, um uns zu missionieren und die bei uns bitter nötige Neuevangelisisierung vorantreiben. Denn genau so bleibt sie lebendig, die Una Sancta, die Weltkirche, die vor knapp 2000 Jahren ihren Anfang nahm!

Stark gekürzte Fassung der Sendung „Matussek! No. 34: Charisma“. Erstaustrahlung am Freitag, 26.5.2023 auf Kontrafunk. In vollständiger Länge nachzuhören über diesen Link.


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