Tichys Einblick
Über das Ende einer Volkspartei

Vielleicht will die SPD gar nicht, dass es sie gibt?

Die SPD steckt in der schwersten Krise ihrer mehr als 150-jährigen Geschichte. Die Mutterpartei des sozialdemokratischen Deutschlands, erlebt bei Wahlen immer verheerendere Niederlagen. Die ehemals stolze linke Volkspartei ist zu einer Splitterpartei geschrumpft.

© Patrik Stollaz/AFP/Getty Images

Wie durch einen Feldstecher lässt uns der Journalist Holger Fuß der rasanten Fahrt der deutschen Sozialdemokratie in die Bedeutungslosigkeit zuschauen. Im schwindelerregenden Niedergang beider großer Volksparteien der letzten Jahre sind die Sozis momentan Temposieger, aber auch die Schwarzen rutschen mit wachsender Geschwindigkeit in den Abgrund. Die SPD gibt den Vorreiter, große Teile der CDU folgen wie hypnotisiert. Vom Standpunkt der Stabilität unserer Republik aus betrachtet, ist das eine ernste Sache.

Heutzutage ist ja alles Mögliche eine „Katastrophe“ – vom schlechten Wetter bis zu den mangelhaften Orthographiekenntnissen unserer Abiturienten. Da erstaunt es kaum, dass die Öffentlich-Rechtlichen an Wahlabenden von „blankem Entsetzen in den Gesichtern“ aus den Parteizentralen berichten, wenn die jeweils letzten Wahlergebnisse gesendet werden.

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Motto-Show der SPD mit digitalen Löchern
Aus der Warte der bisherigen Funktionsträger drohen ja tatsächlich böse Existenzsorgen. Vor allem, wenn man keinen vernünftigen Beruf gelernt, sondern sich im Parteimilieu irgendwie durchgeschlängelt hat. In den letzten 20 Jahren stürzte die SPD bei Europawahlen von 30,7 auf 15,8 Prozent, bei Bundestagswahlen von Schröders 40,9-Ergebnis 1998 auf Schulzes 20,5 Prozent. Da verloren viele Abgeordnete ihre standesgemäß salarierten Sitze. Bei den diesjährigen Landtagswahlen ging es gerade so weiter. In Sachsen landete die SPD mit 7,7 Prozent nahe an der Fünf-Prozent-Hürde. In Brandenburg wurde das Absinken um 5,7 Prozent auf 26,2 Prozent (1994 gab’s mal 56,3) gleich zum Sieg umgedeutet. Dafür stürzte die koalitionswillige CDU von 23 auf 15,6 Prozent ab, während die AfD 23,5 Prozent in die Scheune fuhr. Und im vergangenen Jahr war das SPD-Ergebnis sogar in Bayern nur noch einstellig, da schaffte man grade noch 9,7 Prozent. Die Umfragen für die bevorstehende Landtagswahl in Thüringen zeigen ein ähnliches Bild.

Neben der fraglos betrüblichen Seite für die verbliebene Anhängerschaft, hat diese Entwicklung für unbefangene Beobachter auch unfreiwillig komische Aspekte.  Wer zwischen Gutmenschenutopien und hochintriganter Pöstchenschacherei hin- und herwackelt, der wirkt nicht selten grotesk. Wenn hohe Funktionsträger öffentlich Privatschulen befehden, gleichzeitig aber unter fadenscheinigen Gründen die eigenen Sprösslinge eben dort unterrichten lassen, dann ist der öffentliche Spott vorprogrammiert. Mit Esprit und einer Prise Galgenhumor (denn aus biographischen Gründen ist er der SPD verbunden) schildert Holger Fuß zahllose fatale Geschehnisse, die sich zur absurden Selbstdemontage summieren.

Er konfrontiert das auf Parteitagen gerne beschworene Erbe der Arbeiterpartei mit dem Kulturkampf der rosa Hauptstadteliten um gegenderte Sprache, klimaneutrale Fernreisen, Notdurftkabinen für Transsexuelle, vegan produziertes Kinderspielzeug und dem Antrag auf staatliche Förderung „feministischer“ Pornofilme (beim Berliner Parteitag 2019).

Dem närrischen Slogan „Kinder an die Macht“ schien sich schon zu Beginn ihrer kurzen Amtszeit die bald entsorgte Vorsitzende Andrea Nahles verschrieben zu haben. Bei ihren „Bätschi“- und „Widiwidiwitt“-Auftritten im Parlament und vor der Medienöffentlichkeit wurden selbst die lockersten Genossen von Fremdschäm-Anfällen heimgesucht. Mit der breiten Akklamation des Greta-Thunberg-Schulschwänz-Hypes vollendet sich schließlich ein infantiler Rollentausch. Eine heranwachsende, von einer vorwiegend links-grün geprägten Lehrerschaft erzogene Jugend, die üblicherweise gegen das Regelwerk der Erwachsenenwelt aufzubegehren pflegt, will ihren Eltern ein Vielfaches an Vorschriften und Verboten abringen. So sieht das Ergebnis jahrzehntelanger (sozialdemokratisch initiierter) Bildungsreformen aus.

SPD
Zwei Bad Finger kandidieren für den Vorsitz
Im Willkommensherbst 2015 überließ man Kanzlerin Merkel virtuell auch gleich den SPD-Vorsitz. Wie 1914, als Kaiser Wilhelm „keine Parteien, sondern nur noch Deutsche“ kannte, schwelgte man in seliger Einheitsekstase. Man diente sich einer Gutmenschenideologie an und agierte mit Anfeindungen und Ausgrenzungen gerade gegenüber den Stammwählerschichten der SPD.  Die sozialdemokratische Glaubwürdigkeit bei „den Werktätigen“ wurde verspielt, wovon die AfD profitierte, die prompt bei den Bundestagswahlen 500.000 Stimmen von den Sozialdemokraten holte (und noch einmal 430.000 von der Linken). Noch drastischer war es bei der Europawahl, bei der 24 Prozent der Arbeiter CDU, 23 Prozent AfD und nur noch 15 Prozent SPD wählten.

Das hat natürlich mit der Migrationskrise zu tun. Im Nachhinein weiß das auch der schlaue, aber glücklose Ex-Vorsitzende Sigmar Gabriel. „Warum fürchten wir uns eigentlich davor, offen zu sagen, dass es schon lange ein weitverbreitetes Gefühl gibt, dass ‘zu viele in zu kurzer Zeit‘ gekommen seien und deshalb die Integration in die deutsche Gesellschaft nicht ausreichend gelungen ist? Und das stimmt doch! Dass dadurch Reibungen, Auseinandersetzungen, Unsicherheiten und das Gefühl des Kontrollverlustes entstanden sind, ist doch Realität.“ Und er konstatiert: „Es ist unfassbar dumm, wenn man jemanden in die Nähe von Ausländerfeinden rückt, nur weil er meint, dass Recht und Ordnung auch im Asylrecht gelten müssen und zu viele abgelehnte Asylbewerber im Land bleiben.“

Holger Fuß führte zahlreiche Interviews mit Akteuren, Wissenschaftlern und Publizisten. Er kann an einer Vielzahl von Belegen zeigen, wie sich das Führungspersonal der SPD Schritt für Schritt von der angestammten Basis entfremdet hat. Vieles an diesen Diagnosen ist auch den Parteioberen bekannt. Sie wollen es nicht zur Kenntnis nehmen, solange sie noch im innerparteilichen Intrigenstadel agieren. Holger Fuß kann sich auf zahlreiche politische Analysen berufen, in denen die Misere prognostiziert und bilanziert wurde. Die Reihe seiner Gesprächspartner reicht von  Peer Steinbrück über Franz Walter, Klaus von Dohnanyi, Robert Pfaller, Heinz Buschkowsky, Didier Eribon, Nils Heisterhagen, Ulrich Greiner, Hannes Hofbauer, Chantal Mouffe, bis zum Wiener „Gemeinwohl-Ökonomen“ Christian Felber.

Glosse
Nach-Wahl-Wehen: Handeln und nichts tun, reden und nichts sagen
Das Nachbarland Österreich sieht Fuß als aufschlussreiches Versuchslabor. „Während in Deutschland eine Koalition zwischen SPD und AfD einer Aufhebung der Gravitationskraft gleichkäme, regieren im Burgenland seit 2015 die Genossen mit den Freiheitlichen in einer rot-blauen Koalition.“ Und sogar der wendige Sigmar Gabriel räumt ein, dass dieses Bündnis „im Burgenland durchaus als erfolgreich galt“. Dem SP-Landeshauptmann Doskozil bescheinigt er anerkennend „ein beeindruckendes humanitäres Engagement, um den nach Österreich strömenden Flüchtlingen zu helfen. Und er verteidigte diese Hilfe gegen Kritik von rechts. Nicht zuletzt, weil er von Beruf Polizist ist, waren ihm auch die mit einer weitgehend unkontrollierten Aufnahme verbundenen Risiken immer bewusst. Heute tritt er offensiv für eine Begrenzung der Zuwanderung ein. Nicht aus Fremdenfeindlichkeit, sondern weil er weiß, dass eine gute und nachhaltige Integration ihre Grenzen hat, wenn die Zahl der Zuwanderer sehr hoch ist.“

Ob eine politische Strategie Erfolg verspricht, durch die Kombination aus sozialer und innerer Sicherheit verlorene Wähler zurückzugewinnen, ist offen. In Deutschland jedenfalls zeigt das aktuelle Kandidatentheater um den Parteivorsitz wenige Entwürfe in diese Richtung.

Bleibt die Fortsetzungsfrage an die CDU: Wollt ihr der SPD nachtappen? Und die Aufforderung: schaut euch genau an, wohin dieser Weg führt! Oder war Kramp-Karrenbauers „Versprecher“ beim „Werkstattgespräch“ im Februar 2019 eine unbewusste Entblößung? „Ich freue mich insbesondere, dass wir dies nicht nur als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten heute Abend hier unter uns tun, sondern dass wir dies gemeinsam mit Freundinnen und Freunden der CSU tun.“


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