Tichys Einblick
Was trennt, kann nicht einen

Vielfalt als Einheit erfordert die absolute staatliche Kontrolle

Da es per definitionem die Einheit ist, die eint, und die Vielfalt, die teilt, wird das Beharren auf der Vorherrschaft der Vielfältigkeit letztlich zur Zerstörung dessen führen, was am Rand steht. Denn es ist nur das Zentrum der Ordnung, welches die Ränder aufrechterhält.

Im Jahr 2023 wurde zur Überraschung vieler in nahezu allen Ländern die Regenbogenflagge offiziell eingeführt. Während des sogenannten Pride Month sah man sie in der gesamten westlichen Welt wehen. Mit dieser Flagge und ihrer internationalen Verwendung wird all das gefeiert, was eine Herausforderung für die in der frühen Neuzeit durchgesetzten und auch radikalisierten Formen normativer Identität darstellt. Die Regenbogenflagge, hypothetisches Symbol der Vielfalt, hat sich schon jetzt in das Abbild eines totalisierenden Globalismus verwandelt.

Indem mit Pride ausschließlich die Ausnahme gefeiert wird, werden normgebende kleinere Allianzen, welche die Menschen psychologisch und sozial zusammenhalten, untergraben – als kollektive Struktur bleibt einzig der globale Leviathan übrig. Pride feiert das absolut autonome und aus der Genusssucht motivierte, sich selbst zersetzende Individuum. Gleichzeitig mutiert dieses Individuum zum Rädchen im Getriebe eines zunehmend globalisierten konsumorientierten Finanz-, Industrie- und Politiksystems.

Ganz besessen sind wir inzwischen von einer fragmentierten, auf uns selbst bezogenen Identität, die im Wesentlichen auf unseren Launen beruht. Im Jahr 2023 erklärte beispielsweise der kanadische Premierminister, dass der Pride Month zur Pride Season werden sollte, nachdem er schon innerhalb kürzester Zeit vom Pride Day zur Pride Week aufgestockt worden war. Eine Zeitspanne, die sich von Mai bis September, also fast über eine Jahreshälfte, erstrecken sollte und sogleich gefolgt wurde von einem Oktober, der nunmehr als LGBT History Month gilt.

Pride ist inzwischen mehr als nur der Rahmen zur Feier eines homosexuellen Lebensstils, wie das in früheren Jahrzehnten der Fall war. Heute wird bei dieser Zwangsveranstaltung die Vielfalt um der Vielfalt willen zelebriert. Damit einher geht die unmögliche Forderung, diese Vielfalt zu einer Art Maibaum zu machen, um den alle glücklichen Kinder der Gegenwart und Zukunft in Ewigkeit zu tanzen haben.

Neuere Pride-Flaggen stehen darüber hinaus nicht mehr nur für sexuelle Neigung und Gender-Identität, sondern auch für die Hautfarbe. Worin soll denn nun aber der Zusammenhang zwischen Hautfarbe und sexueller Minderheit bestehen? Natürlich in nichts anderem als der Opposition zur vermeintlichen Mitte.

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Die Regenbogenflagge ist also ein Symbol dafür, dass jegliche Andersartigkeit und Marginalisierung an sich in den Himmel gelobt werden soll. Solche Fahnen sind das Abbild der Idee der sogenannten Intersektionalität, eines Begriffs, der alle diejenigen, die am Rand stehen, zu einer Einheit des gefühlten Verfolgtenstatus zusammenführt.

Es handelt sich dabei um eine Vereinigung, die nichts anderes ist und sein kann als eine «Nicht-Mitte», eine Vereinigung also, die niemals eine echte Einheit verkörpern kann.

Ein Vorgehen dieser Art multipliziert die Instanzen der Vielfalt ins Unendliche. Damit ist es letztlich auch nicht haltbar. Die Glorifizierung des Anti-Schemas aber ist zugleich der Versuch, jegliche Ordnung und deshalb auch die ihr zugrunde liegende Opferbereitschaft als solche zu untergraben.

Da es per definitionem die Einheit ist, die eint, und die Vielfalt, die teilt, wird das Beharren auf der Vorherrschaft der Vielfältigkeit letztlich zur Zerstörung dessen führen, was am Rand steht. Denn es ist nur das Zentrum der Ordnung, welches die Ränder aufrechterhält.

In der Regel feiern und erhöhen wir das, wonach wir gemeinsam streben, was wir in der Gemeinschaft wertschätzen, oder heben hervor, wogegen wir uns zusammen zur Wehr setzen. Wenn wir etwas feiern – bei einem Essen in der Familie, einem Sportereignis, einem Urlaub oder einem religiösen Ritual –, legen wir die Eigenwilligkeiten unseres Temperaments, unserer Gewohnheiten und sogar unseres Verlangens für den gemeinsamen Anlass beiseite. Wir kommen zusammen, um das zu feiern, was uns miteinander verbindet, nicht für das, was uns trennt.

Es ist einfach so: Das, was uns trennt, kann uns nicht zur Einheit führen. Ob unsere Gemeinsamkeit nun im Zusammenhalt der Familie, unseren Errungenschaften als Organisation oder unserer Hingabe an eine Sache oder ein Ziel besteht: Es liegt in der Natur der Hingabe, sich in Richtung Einheit zu bewegen.

Anstelle dessen, was aus der hierarchischen Strukturierung von Familien, Gemeinschaften und Nationen hervorgeht, ist die Überhöhung von Eigenwilligkeit und Andersartigkeit eine Folge radikal gespaltener Identität. Diese begreifen und erleben wir durch eine sich selbst vergegenwärtigende, allwissende und allmächtige innere Erfahrung, die uns zuflüstert, sie werde durch äußere Zwänge unterdrückt. Und hier sind wir nun beim finalen sich selbst verschlingenden Endpunkt des liberalen Individualismus angelangt.

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Dieser Endpunkt steht jedoch in zwangsläufiger, wenn auch unerwarteter Verbindung mit dem Endpunkt absoluter staatlicher Kontrolle. Nur durch staatsähnliche Institutionen können nämlich all unsere Eigenwilligkeiten voreinander geschützt werden. Weil aber die sich immer weiter fragmentierenden Identitäten auf Kurs sind, sich ins Unendliche zu vermehren und sich gegenseitig in ihrer Existenz zu bedrohen, müsste sich auch der Staat ins Unendliche erweitern. Die staatlich verordnete Verteidigung all unserer Eigenwilligkeiten und Ausnahmen erstickt deshalb von vorneherein an ihrer eigenen Unmöglichkeit.

Die seltsame und eigentlich unverständliche Allianz der Projekte Inklusivität und Gleichberechtigung mit der sogenannten Umweltschutzbewegung lässt sich zunächst nur schwer erklären. Auf den ersten Blick scheint der Konsum-Hedonismus der Pride-Bewegung – ihre Ästhetik der überbordenden Vielfalt, des Überflusses und der inklusiven Großzügigkeit – nämlich in direktem Konflikt zu stehen mit der für die Umweltbewegung charakteristischen Nüchternheit und ihrem zentralistischen, von oben verordneten Verzicht. Auch die Forderung, die Erde müsste vor ihren Bewohnern und deren schädlichem Streben nach immer größerer Freiheit und höherem Lebensstandard geschützt werden, kann eigentlich nicht neben der Denkweise der Pride-Bewegung bestehen. Warum betrachten sich beide also als offensichtliche politische Verbündete?

Dieselbe Frage könnte man sich in Bezug auf den kürzlich erfolgten weltweiten Ausbruch des medizinischen Totalitarismus stellen, der die Erde während der Corona-Pandemie heimsuchte. Wie lässt sich das Laissez-faire der Pride-Bewegung so mühelos mit Vorschriften in Einklang bringen, die die Menschen voneinander isolieren und jede Möglichkeit eines intimen oder sonstigen Kontakts unterbinden?

Die Entwicklung einer totalen staatlichen Kontrolle über jedes noch so kleine Detail unseres Privatlebens (das Verbot von kommerziellen Flügen, privaten Autos und Gasherden auf der Makroebene oder von funktionierenden Toiletten und Duschen, Holzöfen, Plastiktüten und Trinkhalmen auf der Mikroebene) ist nichts anderes als die Kehrseite der Medaille der unendlichen Vielfalt und Differenz. Es ist die Verschärfung der Dualität von Individuum und Staat, die derzeit ihr surreales Crescendo erreicht.


Leicht gekürzter Auszug aus:
Jordan B. Peterson, Die Essenz des Seins. Über das Zusammenspiel von Identität und Verantwortung. Fontis, Hardcover, Lesebändchen, 144 Seiten, 15,90 €.


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