„In den letzten 100 Jahren hatte der westliche Kolonialismus einen schlechten Ruf. Es ist höchste Zeit, diese Orthodoxie zu hinterfragen.“ So beginnt „The Case for Colonialism“, ein Artikel von Bruce Gilley, Politikwissenschaftler an der Portland State University, der in der Zeitschrift „Third World Quarterly“ erschienen ist.
Seine Arbeit war nach akademischen Maßstäben gut begründet, gut informiert und setzte sich gründlich mit Gegenargumenten auseinander. Er hatte vor der Veröffentlichung die „Peer-Review“ (Kreuzgutachten durch unabhängige Gutachter aus dem gleichen Fachgebiet) und das Urteil des Herausgebers der Zeitschrift bestanden. Nun brach ein Sturm der Entrüstung aus dem woken Milieu los. Nicht nur der Autor, auch die Zeitschrift gerieten unter Beschuss. Eine erste Petition einer Direktorin des „Critical Race Network“ fand rasch 6.884 Unterzeichner. Sie forderte die Löschung der Veröffentlichung und eine Entschuldigung für „den fürchterlichen Artikel“. Eine weitere Petition, verfasst von Maxine Horne (einer Tänzerin mit einem Master-Abschluss in Projektmanagement), brachte es auf 10.693 Unterschriften. Gilley fördere „weiße Vorherrschaft“, vermittle „schäbige Wissenschaft“, beruhe auf „rassistischen oder gewalttätigen Ideologien“.
Fünfzehn Mitglieder der 34-köpfigen Redaktion traten aus Protest gegen die Veröffentlichung zurück. Die Vizepräsidentin der Universität Portland wies die Forderung, Gilley zu entlassen mit den Worten zurück: „Akademische Freiheit ist entscheidend für die offene Debatte und den freien Austausch von Wissen und Argumenten … Aufgrund des Engagements der Portland State University für akademische Freiheit erkennen wir das Recht aller unserer Fakultäten an, Wissenschaft zu erforschen und eine Vielzahl von Standpunkten und Schlussfolgerungen zu sprechen, zu schreiben und zu veröffentlichen.“ Daraufhin nahm der Sturm an Stärke weiter zu. Gilley wurde attackiert mit persönlichen Angriffen bis hin zu Morddrohungen. Auch der Herausgeber von „Third World Quarterly“, Shahid Qadir, der zu seinem Urteil über den Wert von Gilleys Artikel stand, wurde mit Morddrohungen von indischen Nationalisten konfrontiert.
Frankfurter erinnern sich vielleicht noch an die Aufmärsche von K-Gruppen zur „Solidarität mit Zimbabwe“ in den Jahren um 1983, während dort Massaker an mindestens 20.000 Ndebele verübt wurden. Verantwortlich dafür waren nicht die Briten oder die im Lande gebliebenen weißen Farmer, sondern Robert Mugabe, der Patriarch des afrikanischen Nationalismus. „Die Vorstellung, dass Kolonialismus immer und überall eine schlechte Sache ist“, schrieb Gilley, „muss angesichts des hohen menschlichen Tributs eines Jahrhunderts antikolonialer Regime und Politik überdacht werden.“
Im Gegensatz zu dem Desaster der meisten antikolonialistischen Regime hatte die Kolonialherrschaft oft die Bildung kohärenter politischer Gemeinschaften, verlässlicher staatlicher Institutionen unterstützt und damit Lebensräume, in denen sich Einzelpersonen und ihre Familien entfalten konnten. Zur Unterstützung rief Gilley einen unvermuteten Zeugen auf: Chinua Achebe, den nigerianischen Schriftsteller und antikolonialistischen Helden. In dessen letztem Werk „There Was a Country“, das ein Jahr vor seinem Tod im Jahr 2013 veröffentlicht wurde, schrieb er: „Hier ist ein Stück Ketzerei. Die Briten regierten ihre Kolonie Nigeria mit großer Sorgfalt. Es gab einen sehr kompetenten Kader von Regierungsbeamten, die mit einem hohen Maß an Wissen darüber ausgestattet waren, wie man ein Land führt.“
Eine der wertvollsten Errungenschaften der Kolonialherrschaft sei die Ordnung gewesen. „Man wurde nicht von der Angst vor Entführung oder bewaffnetem Raubüberfall verzehrt“, erinnerte sich Achebe. „Man hatte sehr viel Vertrauen in die britischen Institutionen.“ Die britische Justiz mag hart gewesen sein, aber sie konnte nicht gekauft oder verkauft werden. „Jetzt“, klagte er, „ist das alles anders.“
Es sei der Kolonialherrschaft gelungen, eine gewisse Legimität bei den Kolonisierten zu erlangen, weil sie Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit bereitstellte. Achebe forderte eine kreative, differenzierte Aneignung des kolonialen Erbes. Als er 2012 von iranischen Journalisten interviewt wurde, die ihn drängten, den westlichen Kolonialismus zu verurteilen, betonte er: „Das Erbe des Kolonialismus ist kein einfaches, sondern eines von großer Komplexität, mit Widersprüchen – Gutes ebenso wie Schlechtes.“
Solche Argumente besänftigten die Aktivisten des woken Antikolonialismus nicht, sie setzten ihre Strategie der Einschüchterung von College- und Universitätsbehörden fort. Einen Erfolg konnten sie verbuchen. Der Artikel wurde mit Gilleys Einverständnis zurückgezogen, er wollte keine physischen Gefahren für sich und seine Kollegen provozieren. Später publizierten Verfechter der Wissenschaftsfreiheit die Arbeit auf Online-Foren, was die Vertreter der Cancel Culture noch mehr aufbrachte. Die Empörung hält immer noch an, nicht nur in Amerika, sondern schwappte inzwischen über nach England, wo das akademische Milieu ebenfalls in wachsendem Maße von der Wokeness-Community dominiert wird.
Nigel Biggar, anglikanischer Priester und Professor für Theologie und Ethik am Trinity College Dublin nutzte die Aufmerksamkeit für das Thema und gab bekannt, dass er ein fünfjähriges Projekt mit dem Titel „Ethik und Empire“ unter der Schirmherrschaft der Universität Oxford startete. “Das Projekt zielt darauf ab, die „in den meisten Bereichen des akademischen Diskurses“ vorherrschende Vorstellung in Frage zu stellen, dass „der Imperialismus böse ist; und das Empire daher unethisch“ und „eine christliche Ethik des Empire“ herauszuarbeiten. 58 Oxford-Wissenschaftler, die über „das Empire und den Kolonialismus“ forschen, verurteilten umgehend das Projekt, weil es „die falschen Fragen stelle, die falschen Begriffe verwende und die falschen Ziele habe“.
Ein anderer Oxforder Empire-Historiker, Alexander Morrison, stand Biggar bei und prangerte die Erklärungen seiner mainstreamschnittigen Kollegen an – als „den normalen akademischen Austausch zutiefst zersetzend“. Derlei fördere „Online-Mobbing, öffentliche Stigmatisierung und politische Polarisierung“.
Berühmt ist die Szene aus dem Film „Das Leben des Brian“, wo die „Volksfront von Judäa“ einen Anschlag auf die römischen Imperialisten plant: „Sie haben uns weiß geblutet, die Schweine“, sagt ihr Kommandeur. „Was haben sie je als Gegenleistung erbracht, frage ich?“ Da beginnen seine Genossen heftig zu assoziieren: Wasserversorgung, sanitäre Einrichtungen, Straßen, medizinische Versorgung, öffentliche Bäder, Schulen, Sicherheit und Ordnung, Frieden. Jeder Filmbesucher verstand 1979, dass es Monty Python nicht um die Römer ging. Das Erbe des Empire war ein zivilisatorisches Angebot.
Die Zurückweisung dieser Zivilisationsbestände hat viele der entkolonialisierten Länder in Armut, Diktaturen und Bürgerkriege geführt. Gilley schreibt: „Zumindest einige, wenn nicht viele oder die meisten Episoden des westlichen Kolonialismus waren ein Nettogewinn. Es gibt zahlreiche Studien, die Beweise für bedeutende soziale, wirtschaftliche und politische Errungenschaften während des Kolonialismus gefunden haben: erweiterte Bildung; verbesserte öffentliche Gesundheit; die Abschaffung der Sklaverei; erweiterte Beschäftigungsmöglichkeiten; verbesserte Verwaltung; die Schaffung einer grundlegenden Infrastruktur; Frauenrechte; Aufhebung der Entrechtung unberührbarer oder historisch ausgeschlossener Gemeinschaften; gerechte Besteuerung; Zugang zu Kapital; die Generierung von historischem und kulturellem Wissen; und nationale Identitätsbildung, um nur einige Dimensionen zu nennen.“
Gilley bewies gegen die Hassattacken cooles Standing. Er wandte sich nach Arbeiten über den Nahen Osten der deutschen Konlonialpolitik zu. Im Mai 2021 beschloss der Bundestag, Namibia 1,4 Milliarden Euro zur Sühne für die Gräueltaten der deutschen Kolonialtruppen in den Jahren 1904 bis 1908 zu zahlen. Im selben Jahr erschien Bruce Gilleys nächste Provokation: „Verteidigung des deutschen Kolonialismus“. Und er kritisierte diese Entscheidung als völlig in die falsche Richtung weisend.
Gilley weist darauf hin, dass die Untaten des Generals von Trotha von der Reichsregierung nicht nur nicht genehmigt, sondern offiziell verurteilt wurden. Er wurde im November 1905 abberufen und vom Kaiser demonstrativ nicht empfangen. Die Kolonialpolitik in Südwest wurde in der deutschen öffentlichen Meinung sehr kontrovers debattiert. Eine parlamentarische Mehrheit im Reichstag, angeführt von SPD und Zentrum verweigerte 1907 einen Nachtragshaushalt von 29 Millionen Mark für den Krieg in Südwest-Afrika. Bei den darauf ausgerufenen Wahlen (den „Hottentotten-Wahlen“ – benannt nach der verächtlichen Bezeichnung für die aufständischen Nama) erzielten Zentrum und SPD mehr Stimmen als die konservativen und liberalen Koalitionsparteien, aus denen allerdings, geschuldet dem Mehrheitswahlrecht und vorherigen Absprachen, schließlich die Regierung von Bülow gebildet werden konnte.
Die Gegner der kaiserlichen Kolonialpolitik gewannen im Lauf der nächsten Jahre immer mehr an Boden. Bei der Reichstagsdebatte zum Kolonialhaushalt 1914 wurden weitreichende Reformen zugunsten der Kolonialbevölkerung beschlossen: in Medizin und Pflege, medizinischer Ausbildung, Eigentumsrechten, Schutz vor Ausbeutung von Arbeitern, Gesundheitsfragen, Mindestlöhnen und Arbeitszeitbegrenzung. Der amerikanische Historiker Woodruff D. Smith nannte die Resolution „die umfassendste Erklärung durch eine Kolonialmacht ihrer selbstauferlegten Verantwortung gegenüber den Kolonialvölkern und der Begrenzung der Ausübung der Kolonialmacht.“ Der Wirtschaftwissenschaftler Lewis Gann von der Stanford Universität konstatierte: Die Vorkehrungen zugunsten der einheimischen Bevölkerung „gingen weiter als alle anderen kolonialen Unternehmungen dieser Zeit.“
Gilley polemisiert gegen den postmodernen Antikolonialismus, für den alle derartigen Reformen nur eine weitere Form der „Gewalt“ seien, „eine Art Misshandlung durch Wohlwollen.“ Er zitiert die Privatdozentin Eva Bischoff der Uni Trier, die in verquasten Akademikersprech formulierte: „Anstatt durch das Schwert zu herrschen, suchten deutsche Kolonialbeamte die Lebensumstände der einheimischen Bevölkerung zu beherrschen, zu bestimmen und zu optimieren.“ Die Mehrheit einer ganzen Akademikergeneration verhält sich nach dem Muster des Märchens von der Schneekönigin.
„Es gab einmal ein Spiegel aus Eis, der alles Schöne hässlich aussehen ließ und das Schlechte schön machte. Dieser Spiegel zerbrach und zersprang dabei in tausend kleine Stücke. Trafen diese Stücke ein Herz wurde es kalt wie Eis, trafen sie Augen, sahen sie alles nur noch hässlich und böse. Den Waisenjungen Kay treffen zwei Splitter in Herz und Auge, und von da an bedarf es vieler wunderbarer Ereignisse, um ihn am Ende von seiner verkehrten Weltsicht zu heilen.“
Dem Bau von Krankenhäusern etwa unterliegt in antikolonialistische Perspektive der hinterlistige Plan, Versuchsobjekte für gefährliche wissenschaftliche Experimente zu beschaffen und die einheimischen Medizinmänner durch die – schon von Michel Foucault, dem Paten des Dekonstruktivismus als „Gewalt“ entlarvte – Schulmedizin zu ersetzen.
Die Liste der Widersprüche der akademischen Antikolonialisten wird von Gilley pedantisch und streitbar zugleich abgearbeitet. Da stellt ein Forscher vom Warburg College fest, dass es in Deutsch Ostafrika siebenmal soviele weiße Männer wie Frauen gab. Die naheliegende Folgerung: Die weißen Männer hatten Sex mit schwarzen Frauen. Daraus wird der Schluß gezogen, dass Sex „zu einer Waffe der europäischen Eroberung“ wurde. Weil nämlich die einheimischen Frauen deutsche Männer bevorzugten. Aber der Sexforscher stößt auf einen weiteren Skandal: Es gab auch weiße Männer, die Sex mit einheimischen Frauen ablehnten. Das entpuppt sich als weiteres Instrument der europäischen Eroberung. Die Eindämmung der Fraternisierung diente danach nur dazu, „die deutsche Kontrolle über die koloniale Umgebung zu verstärken.“
Auch Zimmerer wird deutlich: Beschränkungen des rassenübergreifenden Beischlafs waren rassistisch! Indem der schwarzen Frau der Zugang zu den weißen Schlafzimmern verwehrt wurde, verwehrte ihnen der Imperialismus den Zugang zur europäischen Kultur. Zimmerer im besten woken O-Ton: „Damit hatte das biologistische Abstammungsprinzip jegliche zivilisationsmissionarische Deutung, wonach Afrikanerinnen und Afrikaner zu ‚Europäern‘ erzogen werden müssten, beiseite gedrängt.“
Gilley beobachtet mit Ironie und unermüdlicher Sichtung die Verrenkungen des antikolonialistischen Mainstreams: „Diese Art intellektueller Persönlichkeitsspaltung – bei der die Kolonialisten böse sind, wenn sie etwas tun, und ebenso böse, wenn sie etwas nicht tun“ zieht sich als Refrain durch alle antiimperialistischen Argumentationen. Wenn es etwa um den Umgang der Kolonialherren mit Stammesgruppen geht, stellt der postmoderne Forscher fest, die deutsche Herrschaft habe den Tribalismus in Afrika verfestigt. Das sei zudem der Grund, warum die Kolonien nie ihre eigenen nationalen politischen Bewegungen entwickeln konnten. Andere Antikolonialisten behaupten hingegen, dass der deutsche Kolonialismus die Stammeskultur nicht gefestigt hat, denn er zwang ihnen eine westliche Sicht auf nationale Bewegungen und den modernen Staat auf.
Offensichtlich übernahm die einheimische Bevölkerung nicht nur in den sieben deutschen Kolonien diese westliche Sicht. Auch die nicht kolonisierten Staaten Türkei, Persien, Japan, Ägypten und China orientierten sich an den Anforderungen der Moderne und den westlichen Vorbildern. Der indischstämmige zeitweise Vorsitzende der Kommunistischen Partei Großbritanniens polemisierte wütend gegen Gandhi und den konservativen Flügel der Kongresspartei und gewann für diese Position die Modernisten um Jawarlahal Nehru: „Sie versuchen, einen goldenen Traum hinduistischer Kultur zu fabrizieren, von dem bestehenden üblen Gewirr verfallender und korrupter Metaphysik, von den zerbrochenen Relikten des zerschmetterten Dorfsystems, von den toten Überresten des höfischen Glanzes einer verschwundenen Zivilisation. Sie wollen die Wiederherstellung einer ‚gereinigten‘ hinduistische Kultur – die sie als Ideal und Leitbild hochhalten können. Als Kultur der Eroberer wird jede gesellschaftliche und wissenschaftliche Entwicklung verurteilt; jede Form antiquierter Tradition, Missbrauch, Privilegien und Obskurantismus hingegen werden mit Verehrung und Respekt behandelt. So kommt es, dass die nationalen Führer des Volkes, die das Volk auf dem Weg der Emanzipation und Verständigung hätten voranbringen sollen, stattdessen als Verfechter von Reaktion und Aberglauben, Kastenprivileg und Spaltung auftreten.“
Wie England für Hongkong unterschrieb Deutschland 1898 in Peking einen Pachtvertrag über 99 Jahre für ein Gebiet um den Hafenort Tsingtao auf der Halbinsel Shantung mit etwa 550 qkm. Nach der Niederschlagung des Boxeraufstands wandelte sich Tsingtao rasch von einem verschlafenen Dorf mit 1500 Einwohnern und 12000 weiteren im Umland zu einer Musterkolonie. Bildung und Justiz waren allem überlegen, was das damalige China zu bieten hatte, Infrastruktur und wirtschaftliche Chancen lösten einen allgemeinen Boom in Nordchina aus. „Die deutsche Kolonie“, schreibt Fion Wai Ling So, britische Hongkonghistorikerin, „beförderte die landwirtschaftliche Entwicklung in ländlichen Gebieten und ausgeglichenes Wachstum in allen Wirtschaftbereichen.“ Fließendes Wasser, Abwasserleitungen, Schulen, Post, eine Werft, ein Lazarett, ein Gerichts- und Gouvernementsgebäude und selbstverständlich eine deutsche Brauerei machten Tsingtao zu einer Attraktion für alle aufgeschlossenen Chinesen.
Durch eine kleine, aber wachsame Polizeitruppe wurde Tsingtao zu einem Platz, an dem man vor Räubern, Banditen und Piraten sicher war. Im Jahr 1913 landeten 935 europäische Schiffe, 6000 Dschunken und 12000 Sampans an. Die deutschen Beamten waren in der Regel sinophil, die Beziehungen zwischen chinesischer Bevölkerung, die in kurzer Zeit auf 56000, im Umland auf 150 000 gewachsen war und der deutsch-europäischen Gemeinde von etwa 2100 Personen werden von zeitgenössischen Besuchern als denkbar gut empfunden. „Besonders erfrischend“, schreibt der Geograph Heinrich Schmitthenner, „ist das rege geistige Leben und der gesellige Verkehr, bei dem die Standesunterschiede weniger betont werden als in unseren afrikanischen Kolonien.“ Für die postmodernen Antikolonialisten sind hingegen – ganz im Sinne des Foucaultschen Wahnsystems – wieder alle Maßnahmen der Verwaltung zur Stärkung der öffentlichen Sicherheit, der Gesundheit und der Wirtschaft lediglich Aspekte eines „Herrschaftsdiskurses“. Tsingtao wird bei ihnen zum Paradebeispiel für „kulturellen Imperialismus“.
Gilleys wissenschaftlichen Ruf zu unterminieren, bemüht sich neben den Antikolonialisten des Uni-Establishments auch die Mehrheit der „seriösen“ Zeitungen und Rundfunkanstalten. Gilley hat nämlich den Fehler gemacht, eine Einladung der AfD-Fraktion des Bundestages zu einem Vortrag über den deutschen Kolonialismus anzunehmen. Damit hat er nach den gegenwärtigen woken Usancen alle Seiten der „Kontaktschuld“ erfüllt. Nur Anna Schneider von der NZZ und Alan Posener (Die Welt) wagten es, eine vor dem Parlament lautstarke Protestmenge von 50 Weißen und zwei Schwarzen zu durchqueren. Der linksliberale Journalist Posener musste nach genauer Beobachtung auch der Reaktionen der AfD-Parlamentarier (erstaunt?) feststellen, dass die Thesen Gilleys überhaupt nicht in deren Meinungsprofil passen.
„Deutschland müsse sein Erbe eines ‚liberalen Internationalismus‘ wieder antreten,“, wird Gilley von Posener zitiert, „es müsse nicht nur in Afrika investieren, sondern auch seine Märkte öffnen und junge Leute aus aller Welt einladen, um sie hier auszubilden“. Posener urteilt in seinem Artikel in Die Welt vom 17.12.2019 weiter: „Mit Gilleys positiver Konnotierung des Kolonialismus als einer Art Entwicklungspaternalismus kann die AfD ebenso wenig anfangen wie mit seiner harschen Kritik an China, Russland und Syriens Diktator Assad und seiner Behauptung, die humanitären Interventionen im Irak und Libyen würden sich langfristig für deren Bevölkerungen und für den Westen als vorteilhaft erweisen. Mit seiner Befürwortung des Demokratieexports steht Gilley den amerikanischen Neocons näher als den „Souveränisten“ der AfD. Aus Gilleys Argumenten ergibt sich nämlich der moralische Imperativ eines beherzten Eingreifens zugunsten von Entwicklung und Menschenrechten im Namen einer globalen liberalen Zivilisation, die von linken „Antiimperialisten“ und rechten „Identitären“ – wie früher von Kommunisten und Nationalsozialisten – abgelehnt wird. Gilley gehört nicht in den Fraktionssaal der AfD. Er gehört ins Plenum.“
Bruce Gilley, Verteidigung des deutschen Kolonialismus. Aus dem Englischen von Richard Abelson. Manuscriptum, Klappenbroschur, 200 Seiten, 25,00 €.