Tichys Einblick
Kultur & Seele der deutschen Küche

Verführung zum Genuss: Wolfgang Herles hat angerichtet

Ich lese viel, aber selten vor. Aus diesem Buch ganz oft – einfach, weil die Texte geradezu danach verlangen, sie laut zu lesen. Oder, weil meine Familie wissen wollte, welche Zeilen mich zum lauten Lachen oder stillen Schmunzeln verführen.

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Es ist ein sinnliches Buch über das Zweitwichtigste im Leben, das Essen. Wolfgang Herles hat es nicht geschrieben, „dichten“ passt eher auf die Sprache, wenn nicht auf den Gegenstand. Es ist ein Buch über das Essen, voluminös, über 400 Seiten kurzweilig das Thema erschöpfend. Es ist in so appetitliche Kapitel unterteilt wie ein feines Buffet in essbare Reize.

Es ist ungeheuerlich detailgenau. Wenn es um das Stichwort „Gulaschkanone“ geht, sehen wir Geheimrat Goethe, wie er zwei Stück bestellt für die Truppen von Weimar. Es folgt ein Streifzug über die Art, wie Soldaten verköstigt wurden; raubend, plündernd im Dreißigjährigen Krieg; zunehmend mechanisiert und technisiert im Ersten Weltkrieg. Es folgt die EPa, die Einmannpackung, Combat Ration, Nato approved; ich kaute bereits darauf herum, aber wusste nicht, dass in den französischen EPas Cassoulet mit Ente verpackt ist, in den deutschen Linseneintopf. Wir essen, was wir kennen, auch wenn es gefriergetrocknet ist.

Vorwiegend festkochend
Ideologie auf dem Teller oder Vom Leitbild deutscher Esskultur
Unter dem Stichwort „Schlachtschüssel“ liest man, dass dem germanischen Mythos folgend die gefallenen Helden vom unerschöpflichen Fleisch des großen Schweins Sährimnir satt wurden: „Dieser Eber wird täglich von Neuem gekocht und verspeist und ist abends wieder komplett, wie die Snorra-Edda erzählt.“ Da soll uns also eine Grüne wie Künast gern versuchen, den Schweinebraten schlecht zu reden – germanische Sagen sind stärker als Berliner Gewäsch.

Das herrliche an diesem Buch ist neben dem ungeheuren Wissen die Sprache. Herles verführt uns an den Mittagstisch der Buddenbrooks und des Hauptmanns von Trotta in Josef Roths „Radetzkymarsch“. Zur kulinarischen Lust kommt die literarische, wenn wir lesen, wie der Tafelspitz zelebriert wird, der keine Gnade in den Augen des Bezirkshauptmanns Trotta findet, schon weil er falsch geschnitten ist, aber dafür der Kirschknödel – und dabei geht es doch um das Stichwort „Gutbürgerlich“ in Abgrenzung, schwierig zu leisten, zur „Hausmannskost“. So jubelt uns Herles auch noch das Spottgedicht von Jakob van Hoddis unter – „Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut“ – lädt es mit Bedeutung auf und stellt es neben die großen Teller mit den kulinarischen Gerichten.

Die Welt ist aber auch ein Stück kälter geworden, und wir lesen weiter über „Thermomix“ bis zur „Zukunft auf dem Teller“. Herles kanzelt nicht ab, beleidigt nicht den Liebhaber der Currywurst; allerhöchsten mit feinem Spott, wenn er zu Thermomix sinniert: „Ein Kochen mit Thermomix ist möglich, aber sinnlos.“ Denn es geht um Genüsse, und die gibt es nur, wenn bei der Herstellung Phantasie und Können walten und nicht ein Algorithmus.

Und ja. Bei Herles gibt es auch ein Kapitel über das Gegenteil, den Hunger. Wie haben die Menschen gelebt, bei denen Hunger und nicht Völlerei zum Leben wie naturgesetzlich erzwungen dazugehörte? Herles ist ein Vollständigkeits- und Recherchefanatiker.

Traditionelle Rezepte
Wo bleibt der Speck?
Nein, es sind keine Rezepte in diesem Werk, das ein Buch ist, aber ein größeres Wort verdient. Es ist voller feiner Ironie, etwa wenn die Küche der DDR semantisch seziert wird: dass die Königsberger Klopse zu „Kochklopsen“ umfirmiert wurden, um ja nicht an die Besetzung Königsbergs durch die Sowjetunion zu erinnern. Im ostdeutschen Neusprech mutierten der Toast aus der unerreichbaren Pazifikinsel Hawai zur „Karlsbader Schnitte“, der Hamburger zur „Grilletta“ und die Pizza zur „Krusta“. Umerziehung durch Neusprech – irgendwie kommt uns das bekannt vor, seit in jedem Wort unserer Sprache ein Anschlag auf Minderheiten vermutet wird und grammatikalische Endungen erst mit Bedeutung aufgeladen und dann vergewaltigt werden.

So führt uns Wolfgang Herles über den „Weißwurstäquator“ zum „Suppenkasper“ und, wer die Quellen nachlesen will, findet ein umfangreiches Literaturverzeichnis. Bei jedem der fünf Dutzend Stichwörter finden wir auch ein Foto, das der Autor selbst angefertigt hat; als Kollege, der Wolfgang Herles unermüdliches journalistisches, literarisches und lyrisches Schreiben schon berufsbedingt verfolgt, frage ich mich: Wann schläft er, wenn er so viel isst?

Denn das Buch ist eine Verführung zum Genuss; in der Küche, im Konzert, bei jeder Form des guten Schmeckens unserer Sinne. Das einzige Problem dieses Buches: Der Titel erschließt nicht, was drinsteckt. Auch der Untertitel „Kultur und Seele der deutschen Küche“ hilft nicht weiter, denn das Buch ist Musik und Literatur. Es gehört nicht in die Küche. Es gehört in den Salon, das Bücherzimmer zwischen die Großen der Literatur. Und trotzdem: Es macht Appetit. Also doch Küche?


Wolfgang Herles, Vorwiegend festkochend. Kultur & Seele der deutschen Küche. Penguin, 416 Seiten, zahlreiche Farbfotos, 29,00 €


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