Hamed Abdel-Samad geht gerne dorthin, wo es wehtut. Das ist in dem Fall Berlin. In arabischen Ländern habe er viele Fans, sie würden einen Bedarf empfinden für seine kritische Sicht auf den Islam. Sie wollten über Reformen reden. Doch in Berlin müsse er mit sieben Personenschützern unterwegs sein. Trotzdem spuckten ihn junge Männer an und wollten ihn attackieren.
Abdel-Samad beschreibt in der Lesung diese Spanne genauer, die auseinandergehe: Zwischen den islamischen Ländern, in denen es ein Interesse an einer Reform des Islams gebe und den europäischen Ländern, in denen die bisherigen Strukturen der Religion und ihrer politischen Interpretation glorifiziert würden. Diese Spanne ist auch Teil seines neuen Buchs „Islam, Eine Kritische Geschichte“, in dem er nicht nur – wie der Name es sagt – die Geschichte der Religion darstellt. Sondern auch der Frage nachgeht, inwiefern deren Geschichte mit Europa verbunden ist. In der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft.
Im Buch geht es ebenso um die Frage, ob der Islam Europa verändert – oder Europa den Islam? Der Politikwissenschaftler denkt, es werde eher die Religion sein, die prägnant sein wird: „Vertreter des Islams glauben energischer an ihre Sache als Europäer an die Freiheit.“ Sie würden ein Umfeld schaffen, in dem es für junge Menschen attraktiv sei, sich selbst über die Religion zu definieren. Während in den islamischen Ländern selbst die jungen Menschen erkannten, welche hemmende Folgen der archaische Einfluss der Religion auf den Fortschritt habe, könnten junge Menschen in Europa den Islam verklären, ohne dafür die wirtschaftlichen Folgen tragen zu müssen.
Für Politiker sei das bequem: Kritik an Muslimen steht unter einem Tabu. Gewalt gegen Frauen, die Unterdrückung von Frauen, die Verweigerung, Lehrerinnen zu akzeptieren – das alles gibt es in der öffentlichen Diskussion nicht, wenn es niemand anspricht. Aber wenn es jemand anspreche, werde der diskreditiert und müsse mit schweren Folgen rechnen: „Die Nazikeule funktioniert immer noch.“ In der Konsequenz würde über Probleme öffentlich geschwiegen, „obwohl jeder Politiker weiß, dass die Integration gescheitert ist“. Das werde ermöglicht durch Journalisten, die sich nicht mehr in der Rolle sähen, Informationen zu liefern, sondern die Welt retten zu wollen. Das täten sie aber nur mit Themen, durch die sie keinen eigenen Schaden fürchten müssten. Etwa Klimaschutz oder Rassismus. Deutscher Rassismus wohlgemerkt. Zu den Grauen Wölfen schwiegen deutsche Medien so beharrlich.
Und nicht nur die. In Deutschland gebe es keine Professur zum Thema islamisch motivierter Extremismus, berichtet Professor Susanne Schröter. Die Leiterin des „Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam“ sitzt in Berlin mit Abdel-Samad auf dem Podium. Auch die Politik vernachlässige das Thema islamischer Extremismus. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) habe eine Arbeitsgruppe aufgehoben, die sich damit beschäftigt hatte: Es gäbe keinen Bedarf.
Er wolle weitermachen, versichert Abdel-Samad dem Moderatoren des Abends, dem ZDF-Journalisten Abdul-Ahmad Rashid. Auch wenn das für den Autor selbst unbequem ist: die spuckenden, pöbelnden jungen Männer in Berlin. Die Personenschützer, ohne die er sich nicht bewegen könne. Oder seine andere Heimat Ägypten, die ihn aus Sicherheitsgründen nicht einreisen ließ, als seine Mutter im Sterben lag – die der Publizist so vor ihrem Tod nicht mehr sehen konnte.
Weil die Nazikeule funktioniere, sagt Abdel-Samad, traue sich kaum ein deutschstämmiger Publizist an das Thema Islam ran. „Ich habe einen Ausländerbonus – ich darf das noch.“ Mit „Islam, Eine kritische Geschichte“ hat er nun ein Buch vorgelegt, das Abdul-Ahmad Rashid als das „Meisterwerk“ des Autors bezeichnet. Der ZDF-Journalist findet es versöhnlicher als frühere Werke. Doch Abdel-Samad sagt, es gehe nicht darum, kontroverser oder versöhnlicher zu sein. Es gehe darum, zu sagen, was ist. Er sehe Bewegungen, die beschreibe er in seinem Buch.
Erfreuliche Bewegungen einerseits. In den islamischen Ländern seien Reformen möglich. Nicht am Islam selber, dessen Lehre sei nicht reformierbar. Sondern an der „Mentalität der Menschen“. So wie die Europäer in der Aufklärung gelernt hätten, die Religion nicht als alles bestimmenden Faktor zu akzeptieren, so lernten das in den islamischen Ländern jetzt muslimische Menschen zunehmend. Für Europa sieht Abdel-Samad andererseits eine bedenkliche Entwicklung: Die Freiheit erschlaffe hierzulande, sagt der Autor. Das erleichtere islamischen Hardlinern die Arbeit. Das könne dazu führen, dass Europa in Sachen Islam stärker fundamentalistisch wird, als es die islamischen Länder selbst sind.
Hamed Abdel-Samad, Islam. Eine kritische Geschichte. Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv), Hardcover, 320 Seiten, 24,00 €.