Die Distanz zu einer Moralisierung von Politik und Kultur – in der die Moral lediglich zu einem Klischee und Ausdruck einer „Haltung“ wird – ist ein Kennzeichen der analytischen Einstellung Tellkamps gegenüber seinen Sujets, die sich auch in seiner neuesten Erzählung feststellen lässt. Denn sie ist geprägt von einem merkwürdig nüchtern-distanzierten Tonfall, der fast spröde wirken kann, und das trotz der reichhaltig eingestreuten Beobachtungen.
Wenn der Ich-Erzähler Fabian Hoffmann, der schon in anderen Texten Tellkamps vorkam, sich dem Domizil der Maler Martin Rahe und Nina Schmücke nähert, begegnen ihm schon im Garten seltsame Kunstwerke. Und dem Leser begegnen seltsame Sätze wie „Nie hätte ich gerade einen Mops bei Martin Rahe und Nina Schmücke erwartet, eher eine Dogge oder einen Rottweiler.“
Nicht nur Abklatsch der Wirklichkeit
Die Literaturkritiker haben schnell darüber geschrieben, wer sich hinter den in der Erzählung genannten Namen „wirklich“ verberge. So stehe Rahe für den bekannten Maler Neo Rauch, der erst kürzlich seinen 60. Geburtstag feierte. Wer sich mit der Dresdner Kunstszene nicht weiter auskennt – wie es vielen Lesern gehen dürfte – wird vielleicht nicht so sehr am Spiel der Entschlüsselungen interessiert sein, das in den ersten Rezensionen von „Das Atelier“ zur Geltung kam.
Aber das Problem aller Schlüsselliteratur ist, ob sie literarisch oder ästhetisch trägt auch ohne die Kenntnis der Wirklichkeit, die hinter ihr steht und auf die sie mal mehr, mal weniger penetrant verweist. Wenn das Literarische nur ein Abklatsch von Wirklichkeit ist, gleichsam gespiegelt, verblasst es rasch, wenn das Interesse an dieser Wirklichkeit schwindet.
Lesetipps von Plutarch bis Sloterdijk
Dazu kommt der Eindruck, dass Fabian wenig zum Gespräch beiträgt, nur stotternd ein, zwei Worte einwirft; es ist Rahe, der Ausflüge in die Kunstgeschichte zu Dix macht, und Vogelstrom erzählt über abwegige Malpraktiken mit Tierblut, bei denen man froh ist, sie nicht als Bild vor sich zu sehen. Vogelstroms Redefluss nimmt kein Ende: er wettert über die Kunstprofessoren und über den Bologna-Prozess, er spricht von dem „Kunsthochschulen-Professorengeschnarch“ und traktiert sein Gegenüber mit weiteren kunstgeschichtlichen Betrachtungen etwa über die Romantik Caspar David Friedrichs und Johann Christian Clausen Dahls.
Die Erzählung Tellkamps ist nicht getragen von einer Handlung, um derentwillen man sie liest; sie reiht wie Perlen auf einer Kette Besuche bei Künstlern und die Betrachtung von allerlei Bildern, und ab und an blitzt ein Gedanke auf, der an den Leser weitergereicht wird, gleichsam zur Prüfung, ob es sich wirklich so verhalte: „Wir reden über Kunst, dachte ich, und kommen dadurch uns selbst näher.“ Fabian jedenfalls, der Ich-Erzähler, kommt uns nicht wirklich näher, zu blass und unbestimmt bleibt er, während die Maler ihre Katarakte an Sprache über ihn ausschütten. Fabian und damit auch die Leser erhalten über den Maler Vogelstrom Lesetipps von Plutarch bis Carl Schmitt, von Wilhelm Hausenstein bis zu Peter Sloterdijk – etwa als Hilfsmittel, die Gleichartigkeit der Dekadenz im alten Rom und in der Gegenwart zu erkennen.
Mit dem großen DDR- und Wenderoman „Der Turm“ (2008), der auch erfolgreich und einfühlsam verfilmt wurde, gelang dem Dresdner Schriftsteller Uwe Tellkamp ein Werk, in dem Dichtung und Wirklichkeit eine höchst gelungene Verbindung eingingen. Die Eindringlichkeit, mit der in diesem Roman ein differenziertes Bild bürgerlichen Daseins im „realen Sozialismus“ gezeichnet wird, wurde auch von der Verfilmung erreicht, die weit von der moralisierenden Grundhaltung entfernt ist, mit welcher die heutige Kultur ansonsten durchtränkt ist. Tellkamps Roman präsentierte sich als offenes Kunstwerk, insofern das Ende eines politischen Prozesses: Öffnung der Mauer; und der Anfang eines neuen: Wiedervereinigung von Ost und West, am Schluss nur durch einen Doppelpunkt markiert war.
Ein kleines, feines Stück
Viele Jahre haben die Leser Tellkamps daher auf eine Fortsetzung gewartet, die anschließen sollte an jenen Umbruch und Deutschland seit der Wiedervereinigung literarisch zu fassen sucht. Viele Jahre auch hat Tellkamp an einer solchen Fortsetzung geschrieben, die den Titel „Der Schlaf in den Uhren“ trägt. Ein Kapitel daraus, „Das Märchenreich am Rhein“, eine Art Collage über das Adenauer-Deutschland, findet sich im Frühjahrsheft von „Tumult“, der Vierteljahrsschrift für Konsensstörung.
Diejenigen, die empfindlich auf die Kritik an Meinungskorridoren reagieren, werden sich naturgemäß schon an der Verwendung des Begriffs „Exil“ stoßen. Aber auch das ist selbst wieder ein Indiz dafür, wie weit Deutschland inzwischen von einer unangestrengten Diskussionskultur entfernt ist. In dieser müsste es nämlich darum gehen, sich jenseits von Schlagworten und eilfertigen Einordnungen auf etwas einzulassen. Das aber ist nicht möglich, wenn man vor allem „Haltung“ zeigen möchte – ob links oder rechts spielt dabei keine Rolle.
Diese Besprechung von Till Kinzel erschien zuerst bei Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur, der wir für die freundliche Genehmigung zur Übernahme danken.
Uwe Tellkamp, Das Atelier. »Edition Exil« im Buchhaus Loschwitz, Broschur, 112 Seiten, 17,00 €.
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