Das darf ich sagen: Es gibt keine Stelle, weder in diesem noch in irgendeinem anderen Buch, das meine Einstellung zum Leben nachhaltiger beeinflusst hätte als die Parabel vom Türhüter in Kafkas Roman „Der Prozess“. Sie erzählt von einem Mann, der versucht, endlich in das „Gesetz“ vorzudringen. Er wartet, dass ihm der Türhüter Einlass gewährt. „Tage und Jahre“ harrt er aus, lässt sich einschüchtern.
Kurz bevor der Mann stirbt, fragt er den Wächter, warum in all den Jahren niemand sonst außer ihm Einlass verlangt habe. Der Türhüter antwortet, dieser Eingang sei allein für ihn bestimmt gewesen. Er werde ihn jetzt schließen. Für das Leben gibt es kein für alle gültiges Gesetz. Jeder muss seinen eigenen Weg ins Freie finden. Wer sich die Freiheit nicht nimmt, so die Moral dieser Geschichte, wird sie verfehlen. Um Erlaubnis bitten zu müssen und sich gehorsamst abweisen zu lassen führt niemals ans Ziel.
Aber den meisten Menschen geht es wie dem Mann vom Lande in Kafkas Parabel. Die wird im Roman von der Hauptfigur erzählt, von jenem ominösen Josef K., der an seinem 30. Geburtstag – just so alt wie der Verfasser K. – verhaftet wird, ohne zu wissen weshalb und sich deshalb auch nicht verteidigen kann. Das Gericht ist wie das Leben – ein groteskes Labyrinth aus Kanzleien und Dachstuben, undurchschaubar, ein Albtraum, eine Organisation, besetzt mit korrupten Aufsehern und Richtern. Es gibt keine Gerechtigkeit vor diesem Gericht. Josef K. fügt sich dennoch dem Urteil, wird am Ende hingerichtet, „wie ein Hund“ erstochen.
Wer sich unterwirft, ist verloren, das ist die ewig gültige Botschaft. Die Bereitschaft zur Unterwerfung ist das Unglück der Menschen. Das ist am Ende auch die einzige und wahre Schuld des Josef K., der Verrat an sich selbst. Wir alle sind, mehr oder weniger, Josef K.
Franz K. ist ja auch keiner, der sich auflehnt, sondern ein gehorsamer, eminent fleißiger, bei seinen Vorgesetzten angesehener, mehrfach beförderter Beamter der Arbeiterunfallversicherung und promovierter Jurist. Mit jeder Faser eine bürgerliche Existenz. Nur eben beim Schreiben nicht. Das Schreiben ist die Macht, die ihn leben lässt, mit der er sich von seinem autoritären Vater befreit. Ohne Schreiben, bekennt er im Tagebuch, lähmt und martert ihn „die sofort eintretende Schwerfälligkeit des Denkens“. Schreiben löst die Gedanken, verwandelt sie in einen Fluss.
Der Einzelne gegen die Bürokratie
Verkannt ist Kafka keineswegs. Sein Freund Max Brod hält ihn für ein Genie und missachtet zum Glück Kafkas letzten Willen, alle unveröffentlichten Manuskripte zu verbrennen. Und viel hat Kafka zu Lebzeiten nicht vollendet. Auch nicht die großen Romane „Der Prozess“ und „Das Schloss“ – über monströse, bedrohliche, bedrückende bürokratische Systeme, die Menschen unmündig halten und erniedrigen.
Stellt Kafka in seinen Romanen das Gesetz infrage? Durchaus nicht. Vielmehr verströmt der Apparat selbst eine Sphäre der Gesetzlosigkeit. Es gibt keinen Rechtsweg. Die absurde Ordnung produziert nichts als Verlorenheit der ihr ausgesetzten und sich in ihr verirrenden Menschen.
Beide Romane haben nichts von ihrer Aktualität verloren – und gehen in ihrer surrealen, grotesken Anschaulichkeit weit über alle Realität hinaus. So wie der Totalitarismus alle Systeme sprengt und überdauert. Tendenzen dazu, das wissen wir, gibt es auch in Demokratien. Totalitär ist jede zu Tode verwaltete Gesellschaft, in der das Individuum nichts zählt.
Unerbittliche Regulierungswut
Kafkas Romane sind Sinnbild einer Ordnung, die nicht zu Ende gegangen ist und nie zu Ende gehen wird. Alle seine Texte handeln von Macht und Ohnmacht des Einzelnen gegenüber einem undurchschaubaren System. „Homerisches Gelächter“ und „kafkaeske Zustände“: Nur die größten Autoren aller Zeiten schaffen es mit ihrem Namen in den allgemeinen Wortschatz. „Kafkaesk“ steht nicht nur für die Absurdität des Alltäglichen – das wäre eine Verharmlosung. Kafkaesk ist der Staat, auch unser Staat, mit seiner obskuren, nicht nachvollziehbaren, unerbittlichen Regulierungswut. Kafkaesk ist das Dickicht der Steuergesetze, kafkaesk war der Covid-Irrsinn des Robert-Koch-Instituts.
Die Corona-Zeit war ein ungeschriebener Kafka-Roman. Kafkaesk ist Habecks Heizungskellerterror. Wenn Regeln nicht mehr einleuchten, sondern nur noch als Bedrohung wahrgenommen werden, dann ist das kafkaesk. Die totale Elektrifizierung Deutschlands ist es, und kafkaesk wird es, wenn man sich in einen Zug der Deutschen Bahn setzt, vorausgesetzt, er fährt überhaupt.
Die kafkaeske Welt stürzt den Menschen in klaustrophobische Ängste. Ein tiefes, existenzielles Gefühl von Fremdheit erfasst den Menschen gerade dort, wo alles geregelt erscheint. Kafkaesk ist das Unerklärbare, Undurchschaubare, Allgegenwärtige, das dem Menschen die Luft zum Atmen nimmt. Kafkaesk ist ein anderes Wort für Unfreiheit. Kafkaesk ist letztlich ein Wort, das die tiefe Unfreiheit des modernen Menschen ausdrückt, der, behütet und betreut, alles über sich ergehen lässt, als sei es ein Naturzustand.
Heute etwa lässt sich kein größerer Unterschied vorstellen als der zwischen dem Kinderbuchautor Robert H. und dem Erzähler Franz K., der Geschichten für Erwachsene schrieb. Die kafkaeske Macht ist inhuman, doch menschengemacht, keine höhere Gewalt. Das macht sie so schlimm. Die undurchschaubare Kraft ist noch nicht einmal geheimnisvoll, sie ist pure Willkür. Kafka legt es gnadenlos bloß.
Deshalb greifen ganze Bibliotheken von Kafka-Interpretationen und -Biografien zu kurz, die alles mit Kafkas persönlicher Existenz begründen, dem Judentum, dem Beruf, den Familienzwängen, dem seltsamen Verhältnis zu Frauen. Kafka ist in der Literatur wie Mozart in der Musik: Man muss über beider Leben nichts wissen, um ihr Werk zu verstehen. Ihr Genie sprengt alles, sprengt das Beschränkte, Tragische, Krankhafte des konkreten Künstlerlebens. Das hebt ihr Werk turmhoch hinaus.
Kafkas Literatur transzendiert die äußere Wirklichkeit, obwohl die den Autor durchaus in den Klauen hält. Der Weltkrieg: Er will in den Kampf ziehen, muss als „kriegswichtig“ im Amt bleiben, bekommt das ganze Elend des Krieges ins Büro geliefert, vor dem die Invaliden Schlange stehen. Unerreicht ist Kafkas Sprache, der Reichtum und die Originalität seiner Metaphern, sein bestechender Sarkasmus.
Die ganze Geschichte im ersten Satz
Die ersten Sätze seiner Texte enthalten jeweils schon die ganze Geschichte. Wie im Prozess: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne, dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Oder: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“ – so beginnt „Die Verwandlung“, die zu Recht berühmteste Erzählung der modernen Literatur.
Kommen wir uns nicht alle gelegentlich wie Gregor Samsa vor, wenn wir morgens erwachen und die Realität in unser Bewusstsein dringt? Der Käfer ist ein Bild für das Gefängnis, in dem wir Menschen stecken. Das Gefängnis aber sind wir selbst. Es ist unsere Natur. Gregor Samsa hat keine andere Wahl, als sich seinem Los zu ergeben.
Kafka, an Tuberkulose früh verstorben, blieb womöglich Schlimmeres erspart. Den Holocaust hätte er wie die meisten Angehörigen seiner Familie vermutlich nicht überlebt. Die Nazidiktatur war die Apotheose eines kafkaesken Regimes.
Franz Kafka, Das Schloss. Roman. Manesse Bibliothek. Sorgfältig gestaltete, handliche Hardcoverausgabe mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 608 Seiten, 25,00 €