Tichys Einblick
»Hier stehe ich, ich kann nicht anders«

Und wenn die Welt voll Teufel wär – Martin Luther in Worms

Heute vor genau 500 Jahren eine Sternstunde der deutschen Geschichte. Eine exzellent recherchierte Biographie verdeutlicht das Spannungsverhältnis von Wahrheit und Macht – und wie Mut und Opferbereitschaft zu mehr Menschlichkeit beizutragen vermögen. Von Johannes Eisleben

Was haben Luther und die Zeit der Reformation heute für eine Bedeutung? Wir leben in einer Zeit sich drastisch wandelnder Machtkonstellationen, was sich im Umgang staatlicher Institutionen und Amtsträger und den ihnen treuen Medienvertretern mit rechtlichen, gesellschaftlichen, epistemischen, wirtschaftlichen und politischen Normen äußert. Gegen deren Vorgehen bildet sich ein breiter Widerstand der Bürger unseres Landes. Im Zentrum des Konflikts geht es um die Interpretation der Realität, um die Wahrheit. Beide Seiten versuchen, diese für sich zu beanspruchen. Während der bürgerliche Widerstand am etablierten Wahrheitsbegriff festhalten will, hat der neue Staat, dem wir gegenüberstehen, das nihilistische Narrativ des Dekonstruktivismus als neue Herrschaftsideologie übernommen. Konflikte von noch größerer Tragweite, bei denen es allerdings um die Rolle der Kirche und den wahren Glauben ging, gab es auch vor 500 Jahren, im Zeitalter der Reformation.

Damit beschäftigt sich Klaus-Rüdiger Mai in seinem jüngst bei der Evangelischen Verlagsanstalt erschienen neuen biographischen Essay über den wichtigsten Abschnitt in Martin Luthers Leben: “Und wenn die Welt voll Teufel wär. Martin Luther in Worms”. Die Darstellung reicht im Wesentlichen vom Thesenanschlag im Oktober 1517 bis zu Luthers Auftritt vor dem Reichstag in Worms im April 1521. „Gibt es nicht schon genug Lutherbiographien?“ – mag sich so mancher fragen, und: „Brauchen wir dieses Buch auch noch?“ Diese Frage kann eindeutig bejaht werden.

Denn Mai hat eine sehr lesenswerte, gut durchdachte, stilistisch überzeugende Darstellung der für den Übergang Europas vom Spätmittelalter zur Neuzeit so entscheidenden Ereignisse, die sich zu dieser Zeit zwischen Nordeuropa und Rom abspielten, verfasst. Sein Werk ist in erster Linie ein Sachbuch, das politische Geschichte, Geistesgeschichte und die geistige Entwicklung seiner Protagonisten darstellt. Doch Mai, der nicht nur Historiker, Sachbuchautor und Publizist, sondern auch Romanautor ist, hat hier auch seine literarischen Fähigkeiten genutzt, was das Buch von vielen rein akademisch geprägten Sachbüchern heilsam unterscheidet. Denn es ist von Anfang bis Ende spannend zu lesen, auch wenn immer wieder sehr abstrakte geistesgeschichtliche Zusammenhänge erläutert werden, ohne die Luthers Weg nicht zu verstehen ist.

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Gottes Wort wird nicht vergehen
Mai beginnt mit einer im Stile literarischen, aber historisch vollkommen adäquaten Darstellung der illegalen, gegen das königliche Geleit erfolgten Verbrennung des Frühreformators Jan Hus auf dem Konzil von Konstanz im Jahre 1415, der wie auch John Wyclif als Vorgänger Luthers gelten kann. Das Buch endet mit einer Würdigung der Leistung Luthers im Vergleich mit Hus. Mai betont, dass Luther zur rechten Zeit kam, weil nun, anders als hundert Jahre zuvor, das Abendland für die Reformation reif war. Zwischen Pro- und Epilog erfahren wir, wie Luther zu seinen Ideen kam, in welchen Kontexten er stand und was er mit Hilfe seiner Mitstreiter in Europa auslöste.

Entscheidend ist, und das betont Mai wie alle Lutherbiographen, dass Luther aus einer inneren Not und schweren geistigen Krise einen neuen Zugang zum Glauben fand und das Thomistisch-scholastische Glaubensgebäude des Mittelalters dadurch hinwegfegte. Sein Ausgangspunkt war der damalige Mainstream, der scholastische Nominalismus und die darauf aufbauende Heils- und Kirchenlehre, auf der der kirchliche Machtapparat ideell beruhte. Luther überwand im inneren Konflikt um sein Gottesbild das mittelalterliche Denken, indem er unsere Befreiung durch Gottes bedingungslose Liebe zu und Gnade für uns, seine Geschöpfe, wiederentdeckte. Vom Papst gebannt und vom Kaiser mit dem Tod bedroht hielt Luther an seiner tiefen Glaubenseinsicht, dass nur Schrift und Glauben, nicht aber Institutionen, Kleriker und Ablasskauf oder sonstige Werke uns Heil und Erlösung geben können, und an seinen Reformvorschlägen für die Kirche fest. Er überlebte nur, weil einer der mächtigsten Männer Nordeuropas, Kurfürst Friedrich III. von Sachsen (genannt der Weise) sich seiner Glaubenslehre anschloss und ihn schützte.

Mai stellt dar, wie Luther zu seinen Einsichten kam und sie bis zu seinem Auftritt in Worms systematisch aufbaute und verteidigte. Luther war einer der begabtesten Denker der Menschheitsgeschichte, das wird einem schnell klar, wenn man sich vor Augen führt, was für eine intellektuelle Kraft, Originalität und seelische Stärke es braucht, um ein vollkommen dominierendes und von allen Autoritäten der eigenen Zeit vorgetragenes Vollnarrativ zu kippen, das als Herrschaftsideologie äußerst mächtiger Institutionen dient.

Im Juli 1519 reiste Luther zusammen mit verbündeten und befreundeten Theologen wie Karlstadt und dem kongenialen Melanchthon, dem späteren Autor der Loci Communes, nach Leipzig. Dort trat er bei der berühmten Leipziger Disputation Johann Eck, einem brillanten scholastischen Theologen, der das dogmatische Gebäude des Hochmittelalters verteidigte, gegenüber. Mai schildert packend und historisch sowie theologisch-philosophisch kenntnisreich zugleich Kontext und Ablauf dieses krassen Aufeinandertreffens von Mittelalter und Neuzeit in den Personen Eck und Luther. Dabei wird klar, wie äußerst originell und scharfsinnig Martin Luther, den Mai liebevoll als “Martin” bezeichnet, dachte, schrieb und sprach. Während Luther aus tiefer innerer Überzeugung und unter höchstem persönlichem Risiko für seine Auslegung des Glaubens kämpfte, ging es Eck um die Aufrechterhaltung einer für die Römische Kurie und Kirche lebenswichtigen Herrschaftsideologie und den Fortgang seiner Karriere. Heute kennen ihn nur noch Historiker und Theologen, doch Luther ist eine historische Gestalt von der Dimension Julius Cäsars.

Martin Luther in Worms
»Ich kann nicht anders, hier stehe ich, Gott helfe mir, Amen.«
Im Folgenden beschreibt Mai die weitere intellektuelle Entwicklung Luthers und die machtpolitischen Zusammenhänge, die sein Schicksal bestimmten. Dabei geht er auch auf die Gravamina, das waren Forderungen der deutschen Reichsstände an den Papst, als wesentliche Quelle für seine äußerst wichtige Reformschrift “An den Christlichen Adel deutscher Nation” (1520) ein. Dies ist selbstverständlich richtig, doch findet sich hier wohl die einzige Stelle, an der Mai in historischer Hinsicht widersprochen werden kann, da er die Gravamina als Ausdruck eines entstehenden Nationalbewusstseins interpretiert. Doch sind sie eher ein gebündelter Vortrag von gemeinsamen Interessen der einzelnen souveränen deutschsprachigen Fürsten gegenüber Rom mit Hilfe etablierter Institutionen des Kaiserreichs. Ein deutsches Nationalbewusstsein lag im frühen 16. Jahrhundert noch in weiter Ferne, hier ging es um die Interessen der Fürsten. Nach dem Konzil von Trient (1545) waren die Gravamina dann auch überholt.

Schließlich schildert Mai Luthers historisch berühmten, geistesgeschichtlich aber im Vergleich zur Leipziger Disputation weniger gehaltvollen Auftritt vor dem Reichstag und dem jungen Kaiser Karl V. in Worms 1521. Denn dort erwartete Luther keine Disputation, sondern ein juristisches Verfahren, in dem er unter Androhung der Reichsacht und den damit verbundenen Folgen (in der Acht befindliche Personen waren vogelfrei und duften von jedermann straffrei getötet werden) seine Schriften und Lehren widerrufen sollte. Damals sprach Luther die Worte, die ihn bis heute weltberühmt gemacht haben: “Ich kann und will nicht irgendetwas widerrufen, weil es weder gefahrlos noch heilsam ist, gegen das Gewissen zu handeln. Ich kann nicht anders, hier stehe ich, Gott helfe mir, Amen.” Über Luther wurde dann auch die Acht verhängt, sein Überleben sicherte Friedrich der Weise.

Was geht uns diese Geschichte heute an? Auch heute kämpfen Wissenschaftler, Autoren, Journalisten und Bürger gegen Institutionen, die sich eine abartige Machtfülle angeeignet haben und sich nun mit der Novellierung des Infektionsschutzgesetzes in drastischer Weise über die Verfassung hinwegsetzen. Ein Friedrich der Weise ist derzeit aber nicht in Sicht, und der Ausgang des heutigen Konflikts ist offen.

Wer das erstklassige, kurzweilige Buch von Klaus-Rüdiger Mai liest, der versteht, wie Macht und Wahrheit zusammenhängen und was es bedeutet, sich voller Mut und Opferbereitschaft für die Wahrheit einzusetzen wie der große Martin Luther.

Klaus-Rüdiger Mai, Und wenn die Welt voll Teufel wär. Martin Luther in Worms. Evangelische Verlagsanstalt, 364 Seiten, 25,00 €.


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