Es ist diesmal ein schmales und gut lesbares Bändchen von gut 150 Seiten geworden, das Thilo Sarrazin vorlegt; sein Thema: Wie funktioniert Politik? Er argumentiert elegant, ohne Zahlenkolonnen und jener Faktenhuberei, der er sich gelegentlich verpflichtet fühlt, weil sonst jede seiner Äußerungen bewusst und verquält skandalisiert und verfälscht wird.
Darüber ist Sarrazin jetzt hinaus. Er hat sich freigeschrieben. Man spürt, dass die ständigen Angriffe ihn nicht mehr treffen und den Falschschreibern allmählich das Schicksal widerfährt, ihrerseits Beobachtungsobjekte Sarrazin’scher Seziertechnik zu werden.
»Wir schaffen das.« Erläuterungen zum politischen Wunschdenken so lautet der programmatische Titel. Merkel schrumpft darin bereits zu einer historischen Fallstudie. Noch agiert sie und doch zieht Sarrazin den Schlussstrich unter ihre Bilanz, reduziert sie auf das aktuellste Fallbeispiel katastrophaler politischer Entscheidungen.
„Die 16 Jahre währende Kanzlerschaft Angela Merkels liefert mit ihren Brüchen, Wendungen und einer sich zunächst unmerklich vollziehenden grundsätzlichen Kursänderung anschauliche Beispiele für das Irrlichternde und Inkonsequente, das politischen Prozessen häufig anhaftet.“
Am Beginn steht daher ein Rückblick auf Angela Merkels Regierungszeit und eine Einordnung in die Reihe ihrer mehr oder weniger glückhaften Vorgänger; die großen Zukunftsfragen Energiewende, Zukunft der EU, Einwanderung und abnehmende Bildungs- und Innovationskraft seien konzeptionell wie operativ ungelöst geblieben – möglicherweise „Vorboten eines Niedergangs“.
Sarrazin verwendet keine drastischen Begriffe; die gedanklich präzise und konzise Argumentationsstruktur eines Spitzenbeamten preußischer Tradition zieht sich durch sein Werk. Umso gnadenloser sind die Befunde, die vor den Augen des Lesers entfaltet werden, wenn Sarrazin die Linien zieht.
So entwirft Sarrazin gleichzeitig eine Art Fibel über die Grundsätze guter Regierungskunst – und ihrer Kontrolle durch Medienmacht, zur Beschränkung der Regierenden und um den Missbrauch der Wissenschaft zu verhindern. Er orientiert sich an Max Webers Kernsätzen über die Kunst des Regierens als „Leidenschaft im Sinne von Sachlichkeit“, „Verantwortung gegenüber der Sache“ und „Augenmaß“.
Erkennbar wurde und wird durch und unter Merkel gegen alle drei Prinzipien permanent verstoßen. Sarrazin beschreibt den anstehenden Bruch, den das Ende ihrer Kanzlerschaft nach 16 Jahren markiert, als eine „Bilanz der verpassten Möglichkeiten“ – aber macht wenig Hoffnung, dass die derzeit zur Wahl stehenden Nachfolger aus anderem Holz geschnitzt wären.
Thilo Sarrazin, »Wir schaffen das«. Erläuterungen zum politischen Wunschdenken. LMV, Hardcover mit Schutzumschlag, 184 Seiten, 20,00 €.