Wohl jeder an Politik Interessierte hat eine geistige Liste von besonders krassen Beispielen politischer Unvernunft stets zur Hand und kann schier daran verzweifeln, dass die verantwortlichen Politiker beziehungsweise der politische Lieblingsgegner gerade an diesem Punkt so wenig Einsicht zeigen und auf diese Art die Gesellschaft ins politische Verderben stürzen oder doch ihr Wohlergehen unnötig gefährden. Je nach Aktualität und Gefühlslage sieht die Hitliste besonders schmerzlich empfundener Unvernunft immer wieder anders aus.
Leider scheint sich im Zeitablauf nur wenig zu ändern – und was sich ändert, häufig nicht zum Guten. Da die meisten Menschen zum Glück mit ihrem Privatleben und ihrem Beruf ausreichend beschäftigt sind, haben auf ihrer Hitliste politischer Unvernunft zumeist nur drei bis vier Themen Platz. Der Rest, obzwar ebenfalls ungelöst und genauso dringlich, wird so lange ins halbwegs Vergessene abgedrängt, bis aktuelle Tagesereignisse oder besondere Katastrophen die Hitliste neu bestücken und ihre Rangfolge ändern.
Die vorderen vier Plätze meiner aktuellen Hitliste sind im Augenblick (Stand September 2022) wie folgt besetzt:
Platz 1 die Weigerung von Bundeskanzler Scholz, an die Ukraine moderne Kampfpanzer und Schützenpanzer zu liefern.
Platz 2 die Weigerung von Bundeswirtschaftsminister Habeck, deutsche Kernkraft für die Entlastung bei der Stromversorgung einzusetzen.
Platz 3 die verrückte Idee, die Nachfrage im ÖPNV durch Preissenkungen künstlich zu erhöhen und dies als energiepolitische Sparmaßnahme zu propagieren.
Platz 4 die Entscheidung von Bundesinnenministerin Faeser, die Expertenkommission „Politischer Islamismus“ aufzulösen – so als ob Gefahren dadurch verschwinden, dass man sie ignoriert und politisch tabuisiert.
Der Mensch ist ein vernunftbegabtes und dank seiner Intelligenz auch zur Vernunft berufenes Wesen. Das ist das Einerseits. Dem steht das große Anderseits gegenüber: Derselbe Mensch kann durchaus willens sein und ist auch in der Lage dazu, mithilfe seines Verstandes die Vernunft auszuhebeln und da schlankweg Unvernünftige zu fordern, durchzusetzen oder zu verteidigen. Damit hat die Vernunft noch nicht verloren, aber insbesondere in der Politik hat sie es schwer, sich gegen den unvernünftigen Voluntarismus der Interessenvertreter, der Opportunisten, der Idealisten und der Radikalen durchzusetzen.
So steckt in der Weigerung, moderne Kampf- und Schützenpanzer an die Ukraine zu liefern, die letzte Zuflucht eines pazifistischen Grundimpulses gegenüber der rationalen Logik der Gegenwehr in einem Angriffskrieg.
In der Weigerung, zugunsten einer sicheren Gas- und Stromversorgung die Kernkraftwerke weiter zu betreiben, liegt der vorrationale Wunsch, die Kernkraft ein für alle Mal aus dem menschlichen Entscheidungshorizont zu vertreiben.
In der Begeisterung für das Neun-Euro-Ticket steckt eine atavistische Feindschaft gegenüber dem motorisierten Individualverkehr.
Und schließlich steckt in der Ausblendung des Islamismus der Wunsch, die Ressourcen des gesellschaftlichen Überwachungsapparats konzentriert gegen einen vermeintlichen Hauptfeind, den Rechtsextremismus einzusetzen, und außerdem der Wunsch, das wachsende Gesicht der Muslime in der Wählerschaft für die eigene politische Richtung nutzbar zu machen.
Es ist unvermeidlich, dass in jeder beliebigen menschlichen Gesellschaft Menschen mit ganz unterschiedlichen Gefühlen, Antrieben, Lebenslagen und Motivationen zusammenleben. Die notwendige Einheit der Willensbildung und des Handelns vollzog sich in der Menschheitsgeschichte über weite Strecken recht gewaltsam. In der Demokratie tritt zwar – zum Glück – an die Stelle der Gewalt eine Mehrheitsregel. Aber eine gesamthafte Rationalität für Menschen, die ganz Unterschiedliches wollen, kann auch eine Mehrheitsregel nicht herstellen. Deshalb sind auch in einer Demokratie zahlreiche Menschen mit zahlreichen Entscheidungen, die irgendwie fallen, überwiegend unzufrieden.
Der Detailreichtum und die innere Widersprüchlichkeit machen
das Einkommensteuerrecht zu einem idealen politischen Kampffeld
Gefährlich wird es dann für eine demokratische Gesellschaft, wenn starke Minderheiten oder auch Mehrheiten die Willensbildung nach einer Mehrheitsregel für bestimmte Themen grundsätzlich infrage stellen, weil ihnen ihre eigenen Ziele und Antriebe oder die Lösung der Probleme, die sie vermeintlich sehen, wichtiger sind als der Respekt vor einer gewaltfreien Beachtung der Mehrheitsregel.
Wie stark vorrationale Einstellungen und Präferenzen auch ganz abstrakte Materien des menschlichen Zusammenlebens prägen können, zeigt der deutsche Einkommensteuertarif.
Die steuerbaren Einkünfte des Steuerpflichtigen ergeben sich aus seinen Einnahmen abzüglich seiner steuerlich absetzbaren Ausgaben, also Werbungskosten, Sonderausgaben, Betriebsausgaben, Abschreibungen bei langlebigen Wirtschaftsgütern sowie gesetzlichen Freibeträgen, die aus unterschiedlichen Gründen gewährt werden. Neben der politischen Auseinandersetzung um die Ausgestaltung des Steuertarifs ist die Gestaltung der Absetzungsmöglichkeiten eine permanente politische Kampfzone. Versuche zu einer „rationalen“ Ausgestaltung der Einkommensteuer setzen immer wieder hier an, und hier scheitern sie auch regelmäßig.
Aus der Logik des progressiven Steuertarifs ergibt sich elementar, dass die „Entlastungswirkung“ einer steuerlich absetzbaren Ausgabe oder eines Freibetrags umso höher ist, je stärker der Steuerpflichtige progressiv besteuert wird. Die Unterschiedlichkeit der Entlastungswirkung je nach der Position des Steuerpflichtigen im progressiven Tarif empfinden gerade jene als besonders ungerecht, denen die progressive Besteuerung im Sinne der Umverteilung eigentlich gar nicht hoch genug sein kann. Drei Beispiele – Ehegattensplitting, Kinderfreibeträge und Ausgleich inflationsbedingter Mehrbelastungen – illustrieren das.
1957 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass bei gemeinsam veranlagten Ehepaaren die Einkünfte beider Ehepartner addiert, sodann durch zwei geteilt und erst dann dem progressiven Steuertarif unterworfen werden. Das wird seit vielen Jahrzehnten als „Hausfrauenprivileg“ kritisiert, ist aber aus der steuerlichen Wirklichkeit nicht mehr wegzudenken.
Tatsächlich wurden die rein fiskalischen Wirkungen des Ehegattensplittings mit der Zeit immer unbedeutender, da in mehr und mehr Ehen beide Ehepartner ein Erwerbseinkommen haben. Steuersystematisch wurde das Ehegattensplitting mit der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit begründet, weil im gemeinsamen Haushalt ja zwei Personen vom gemeinsamen Einkommen leben müssen. Als einziges wesentliches Argument kann man gegen das Ehegattensplitting anführen, dass unverheiratete Paare mit gemeinsamem Haushalt benachteiligt werden. Dem lässt sich entgegnen, dass dem Paar die Heirat grundsätzlich freisteht.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist das soziale Existenzminimum – das gilt für den Steuerpflichtigen, den Ehepartner und die unterhaltsberechtigten Kinder – grundsätzlich von der Einkommensteuer freizustellen. Damit soll verhindert werden, dass der Staat dem Bürger dort in die Tasche greift, wo dieser das Einkommen zur Deckung seiner Grundbedürfnisse braucht.
Wie es sich aus dem progressiven Tarif ergibt, ist die steuerliche Entlastungswirkung eines Freibetrags umso ausgeprägter, je höher sich der Steuerpflichtige in der Progressionszone befindet. Das gilt selbstverständlich auch für einen steuerlichen Kinderfreibetrag. Wer höhere Steuern zahlt, für den wirkt sich ein bestimmter Freibetrag stärker aus als für jemanden mit niedriger Steuerlast. Und wer gar keine Einkommensteuer zahlt, kann mit einem Freibetrag naturgemäß auch keine Steuern sparen.
Seit Mitte der Siebzigerjahre wurden das Ehegattensplitting und der Kinderfreibetrag von politischen Freunden maximaler Umverteilung immer wieder mit großer politischer Energie attackiert, weil man es in diesen Kreisen als unerträglich empfand und empfindet, wenn eine steuerliche staatliche Maßnahme „regressiv“ wirkt, die Entlastungswirkung also mit der Einkommenshöhe und der progressiv gewachsenen Steuerlast zunimmt.
Der jeweils gültige Einkommensteuertarif setzt traditionell am Nominaleinkommen an, das heißt, er berücksichtigt keine Inflation. Auch der rein inflationsbedingte Einkommensanstieg unterliegt so der Steuerprogression. Das gleiche Realeinkommen wird so im Zeitablauf immer stärker besteuert. Auch in Nominalgrößen festgelegte Pauschbeträge, Freibeträge und Freigrenzen verlieren mit der Zeit inflationsbedingt an Wert. Die mit ihnen verbundene Entlastungswirkung nimmt so im Zeitablauf real ab.
Da aber die Inflation eine Dauererscheinung moderner Volkwirtschaften ist, werden von Zeit zu Zeit grundlegende Überarbeitungen des Einkommensteuertarifs und die Überprüfung von Pauschbeträgen und Freibeträgen notwendig, wenn man verhindern will, dass vergleichbare Realeinkommen immer höher besteuert werden. Das ist in Deutschland seit Ende der 1950er in gewissen Abständen auch geschehen.
Das jeweils geltende Einkommensteuerrecht mit der jeweiligen Tarifgestaltung, mit den Abschreibungssätzen, den Verrechnungsmöglichkeiten zwischen den Einkunftsarten, den Pauschbeträgen und Freibeträgen trägt stets politischen Kompromisscharakter. Um seine logische Konsistenz war es deshalb immer schlecht bestellt, es gab und gibt innere Widersprüche.
Eine gesamthafte Rationalität
kann auch eine Mehrheitsregel nicht herstellen
Der Detailreichtum und die innere Widersprüchlichkeit machen das Einkommensteuerrecht zu einem idealen politischen Kampffeld. Zahlreiche Interessenten finden, dass gerade ihre Einkommens- oder Berufsgruppe zu hoch belastet ist und im Übermaß geschröpft wird. Umgekehrt finden Freunde der Umverteilung zu jeder Zeit, dass die „Reichen“ steuerlich ungerechtfertigt privilegiert werden, und immer wenn ein neuer staatlicher Finanzbedarf auftaucht, findet sich ein Linker, ein Gewerkschaftler, ein Juso oder der Vorsitzende eines Sozialverbands, der in der „Tagesschau“ fordert, jetzt endlich damit Ernst zu machen, dass starke Schultern mehr tragen sollen. Dass dies längst in großem Umfang geschieht, gerät dabei immer wieder aus dem Blick.
Wenn also das ganze System um die Inflationswirkungen bereinigt wird, was in regelmäßigen Abständen ganz unvermeidlich ist, so gilt dies jedes Mal als ein soziales Rollback und führt unter Linken und allen Umverteilungsfreunden zu einem anhaltenden Empörungsaufschrei, der auch in den Medien regelmäßig seinen Widerhall findet.
Der darin angelegte Konflikt trägt permanenten Charakter. Als Beamter im Bundesfinanzministerium, als Staatssekretär und als Finanzsenator hatte ich seit den 1970ern bei jeder größeren Tarifreform der Aufführung desselben Stücks mit wechselnder Besetzung zugesehen oder stand auch selber als Statist mit auf der Bühne. Nachdem ich im Verlauf eines halben Jahrhunderts alle diesbezüglichen Argumente mindestens ein Dutzend Mal gehört beziehungsweise selbst vorgetragen hatte, verlor ich mit der Zeit die Fähigkeit, mich darüber wirklich aufzuregen.
Hier wie bei vielen anderen kontroversen Entscheidungen geht es auch um eine gesellschaftliche Machtfrage. Die Zukunft ist sehr lang und sie ist ungewiss. Man kann nur hoffen, dass der demokratische Entscheidungsprozess auch auf lange Sicht überwiegend zu solchen Entscheidungen führt, die am Ende nicht die Demokratie selbst gefährden. Der „richtige“ Steuertarif ist dabei noch das kleinere Problem.
Thilo Sarrazin, Die Vernunft und ihre Feinde. Irrtümer und Illusionen ideologischen Denkens. LMV, 392 Seiten, 26,00 €.