Bei Abschluss dieses Textes sind fünf Monate seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine vergangen. Ein Ende des Krieges ist nicht absehbar, sein Ausgang ungewiss. Die Wahrnehmung des Konflikts wird in Deutschland durch vier unterschiedliche Sichtweisen geprägt:
Die linke Sicht
In Teilen der Linkspartei und der traditionellen marxistischen Linken gibt es anhaltende Sympathie für das autoritäre russische Gesellschaftsmodell, das man in Putins Herrschaft verkörpert sieht, und eine Sehnsucht nach den Ordnungsmustern der internationalen Herrschaftsverhältnisse, die vor dreißig Jahren mit der Sowjetunion, dem Ostblock und dem Warschauer Pakt untergegangen waren. Diese Sehnsucht nährt ein grundsätzliches emotionales Einverständnis mit den gegenwärtigen Bestrebungen Russlands, durch Gebietsgewinne seine vormalige Großmachtstellung zumindest teilweise zurückzugewinnen.
Diese grundsätzliche Sympathie für die russische Aggression wird zusätzlich durch die traditionelle Amerika-Feindschaft der marxistischen Linken befeuert.
Die rechte Sicht
Auf der rechten Seite des politischen Spektrums gibt es Ordnungsmuster, die der parlamentarischen Demokratie grundsätzlich distanziert gegenüberstehen. Hier hofft man auf eine Erneuerung traditioneller Vorstellungen von Staat und Nation durch starke Führungspersönlichkeiten, die das Land aus dem als chaotisch empfundenen täglichen Meinungsstreit herausführen. Das Wirken und die Wirkungen autoritärer Führungspersönlichkeiten wie Putin werden in solchen Kreisen vielfach mit Sympathie verfolgt. Putins kaum verhüllte Feindschaft gegen den Westen und gegen alles, was er repräsentiert, verschafft ihm unter Rechtspopulisten und Rechtsradikalen Autorität und Respekt. Das lässt sich in Deutschland, Italien, Frankreich und Ungarn gleichermaßen beobachten.
Die pazifistische Sicht
Viele linke Intellektuelle, aber auch viele wohlmeinende Menschen in der Mitte der Gesellschaft haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg über Jahrzehnte gut mit einem Weltbild eingerichtet, das Gewaltverzicht in den Mittelpunkt ihrer politischen und moralischen Argumentation stellt und implizit davon ausgeht, man könne auch einen gewaltbereiten Gegner dadurch zur Gewaltlosigkeit zwingen, dass man selbst auf jede Androhung und auch Anwendung von Gewalt verzichtet. Das war bereits der Grundgedenke der friedensbewegten Ostermärsche in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Seit dem Fall der Mauer und dem Untergang der Sowjetunion ergriff diese Illusion allmählich und unmerklich weite Teile der deutschen Gesellschaft.
Ein Großteil der deutschen Intellektuellen bleibt der traditionellen pazifistischen Linie treu. Zweimal wurde in prominent unterzeichneten offenen Briefen die Ukraine aufgefordert, mit dem Angreifer Russland in Verhandlungen einzutreten und nach »Kompromissen« zu suchen. Diese würden, falls Russland überhaupt darauf einginge, ihrer Art nach immer darauf hinauslaufen, einen großen Teil des Landes und seiner Bevölkerung in den russischen Machtbereich abzugeben und darauf zu hoffen, dass Russland das gewaltsame Spiel nicht nach einiger Zeit wiederholt, um sich auch die Restukraine einzuverleiben.
Die realistische Sicht
Wenn man davon ausgeht, dass Putin mit seinem engsten Machtzirkel nicht den Verstand verloren und aus Gedankenlosigkeit und Leichtsinn die »Spezialoperation«, die in Russland nicht Krieg genannt werden darf, begonnen hat, dann geht es Russland bei diesem Krieg um die Einverleibung und Vernichtung der Ukraine als Staat und Nation. Was den Frieden in Europa angeht, steht das Vertrauenskapital Russlands bei null. Wenn es sich in der Ukraine ganz oder teilweise militärisch durchsetzt, werden weitere gewaltsame militärische Schritte folgen, bis Russland wieder die Ausdehnung des Zarenreichs erreicht hat. Und weshalb sollte es, wenn es soweit erfolgreich war, dabei stehen bleiben?
Das russische Vorgehen kostet um so weniger Blut und stört um so weniger den europäischen Frieden, je eher es durch militärische Gegenmacht gestoppt wird. Darum ist jetzt die Unterstützung der Ukraine mit der Lieferung moderner Waffen der wirksamste und günstigste Weg, den Frieden in Europa zu sichern. Das ist in der gesamten westlichen Welt die übereinstimmende, weit überwiegende Analyse, und darum haben sich Schweden und Finnland nach dem russischen Überfall für den Beitritt zur NATO entschieden.
Zu den historischen Fakten
Der gegenwärtige Konflikt kann von den historischen Verbindungen zwischen Russland und der Ukraine, den dabei zugrunde gelegten ganz unterschiedlichen Sichtweisen und den entsprechenden gegensätzlichen Erzählungen nicht getrennt werden.
Unter den slawischen Völkerschaften, die zwischen dem Schwarzen Meer und dem Baltikum östlich des polnischen Herrschaftsbereichs lebten, bildete sich zunächst nur eine lose Staatlichkeit mit einer Reihe von konkurrierenden Fürstentümern. Unter ihnen war das Fürstentum der Kiewer Rus zeitweise bestimmend.
Diese Strukturen fegte der Mongolensturm im 13. Jahrhundert hinweg. 1240 wurde dabei Kiew zerstört und fast die gesamte Bevölkerung massakriert. Von den 30.000 Einwohnern überlebten 2.000. Soweit die slawischen Fürstentümer nicht unter polnischer und litauischer Herrschaft waren, standen sie für die nächsten zweihundert Jahre unter der Oberhoheit der Mongolen. Unter den slawischen Fürstentümern ragte jedoch das Großfürstentum Moskau durch seinen Widerstandsgeist heraus. Noch während der mongolischen Oberherrschaft vergrößerte es stufenweise sein Herrschaftsgebiet und konnte 1480 unter Iwan dem Großen die Mongolen endgültig vertreiben.
Vor dem Mongolensturm hatte das Gebiet der heutigen Ukraine niemals unter der Herrschaft Moskaus gestanden. Und seit dem 14. Jahrhundert gehörte der größte Teil der heutigen Ukraine für dreihundert Jahre ebenso wie Weißrussland zum Herrschaftsgebiet des polnisch-litauischen Königreichs. Erst nach dem Ende des russisch-polnischen Kriegs 1667 wurden die Ukraine östlich des Dnjepr sowie ein kleines Gebiet um Kiew westlich des Dnjepr russisch.
Im Verlauf des 18. Jahrhunderts erzielte das russische Reich unter Zar Peter dem Großen und der Zarin Katharina der Großen weitere erhebliche Territorialgewinne. Das Osmanische Reich verlor die Krim und die Gebiete nördlich davon 1783 an Russland. Nach Westen konnte sich Russland 1772, 1793 und 1795 durch die drei polnischen Teilungen weiter ausdehnen. Dabei ging der westliche Teil der heutigen Ukraine an Österreich-Ungarn, wurde 1920 polnisch und kam erst 1939 durch den Ribbentrop-Molotow-Pakt an die Sowjetunion. Die russische Herrschaft über die Ukraine entwickelte sich also aus verschiedenen russischen Eroberungen und Gebietsgewinnen erst seit dem späten 17. und zum größten Teil erst seit dem späten 18. Jahrhundert.
Das russische Imperium betrieb seit der Befreiung von der Tartaren-Herrschaft eine aggressive und militärisch expansive Politik nicht nur nach Westen und Süden, sondern auch nach Osten bis zur chinesischen Grenze und zum Pazifik – so wurde es noch unter der Zarenherrschaft zum Vielvölkerstaat. Als die Bolschewisten das Erbe des Zarenreiches antraten, erkannten sie die Sprengkraft, die in der Vielzahl der Sprachen, Völker und Kulturen liegen konnte. Sie teilten das Land in Sowjetrepubliken und autonome Gebiete auf, die sich in gewissem Umfang selbst verwalten sollten und deren Grenzziehung, soweit es die machtpolitischen Interessen nicht tangierte, nach ethnischen Kriterien erfolgte.
Grenzen zwischen Sowjetrepubliken wurden nicht nur nach ethnischen, sondern auch nach machtpolitischen und administrativen Gesichtspunkten gezogen und verändert. So wurde die Krim, die in der Zwischenkriegszeit ein autonomes Gebiet der Krimtataren gewesen war, nach deren Vertreibung zunächst der russischen Sowjetrepublik zugeschlagen und schließlich 1954 in die Ukrainische Sowjetrepublik eingegliedert. Das hatte administrative Vorteile, da die Wasserversorgung der Krim im Wesentlichen aus der Ukraine kam. Es mag auch eine Rolle gespielt haben, dass der damalige KP-Generalsekretär Nikita Chruschtschow ein Ukrainer war.
Der letzte Generalsekretär der sowjetischen KP, Michail Gorbatschow, versuchte in seiner von 1985 bis 1991 währenden Amtszeit, das wirtschaftliche, politische und administrative System der Sowjetunion zu modernisieren. Dabei wurden ungeheure Fliehkräfte freigesetzt, deren er letztlich nicht mehr Herr wurde. Im Dezember 1991 wurde die Sowjetunion in einem von allen Sowjetrepubliken unterzeichneten Vertragswerk aufgelöst. Alle ehemaligen Gliedstaaten wurden vollständig souveräne Subjekte des Völkerrechts. Ihre jeweiligen bisherigen Grenzen wurden in dem Vertragswerk nicht in Frage gestellt.
Bereits am 1. Dezember 1991, noch vor der Unterzeichnung des Vertragswerks, hatte in der Ukraine eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit des Landes stattgefunden. Bei einer Wahlbeteiligung von 84 Prozent stimmten mehr als 90 Prozent der Bevölkerung für die vollständige Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Im Oblast Luhansk, der im Juli 2022 vollständig von den russischen Truppen erobert wurde, waren es 83 Prozent, im Oblast Donezk waren es 77 Prozent, und selbst auf der Krim waren es mehr als 54 Prozent. (Vgl. Serhii Plokhy: The last Empire. The final days of the Sovjet Union. London 2014, S. 293).
In den seit der Abstimmung über die Unabhängigkeit vergangenen drei Jahrzehnten hat sich die Ukraine, obwohl sie lange Zeit unter erheblicher Korruption litt, als Demokratie gefestigt und sich mehr und mehr nach Westen orientiert, von Russland also abgewandt. In Russland dagegen sind, seitdem Wladimir Putin 2000 erstmals russischer Präsident wurde, demokratische Regeln und Verfahrensweisen immer stärker auf dem Rückzug. Die Justiz wird zur Sicherung politischer Macht missbraucht. Dissidenten werden zu langen Haftstrafen verurteilt, wenn sie nicht vergiftet oder anderweitig umgebracht werden.
Soweit in aller Kürze die unstreitigen historischen Fakten. Diese erlauben jedoch sehr unterschiedliche Sichtweisen, je nachdem in welchen Interpretationszusammenhang sie gestellt werden. Das Bild der Völker und Nationen von sich selbst und ihrer Stellung in der Welt ist regelmäßig ein nur schwer entwirrbares Gemisch von historischen Fakten, von Wunschbildern, Mythen, Märchen und Legenden. Es ist zumeist unscharf, fließend und in sich widersprüchlich.
Die russische Sicht
Rund siebenhundert Jahre sind vergangen, seitdem sich aus dem Aufstieg des Großfürstentums Moskau allmählich eine russische Nation ausbildete. Die mit ihr verbundene Kultur und Zivilisation ist so komplex und auch so widersprüchlich, dass es viele unterschiedliche Perspektiven, aber nicht »die eine« russische Sicht gibt.
Wladimir Putin und die mit ihm verbundenen politischen und gesellschaftlichen Kräfte haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten aus dem historischen Zettelkasten jene Elemente an Mythen und Fakten herausgepickt, die ihre Sicht auf den aktuellen Ukrainekonflikt unterstützen. Dieses aktuelle Konstrukt von Putin und seinen Freunden bezeichne ich hier verkürzend als »die russische Sicht«.
Nach dieser Lesart hatte das Großfürstentum Moskau und das sich aus ihm entwickelnde Zarenreich die historische Mission,
- die ostslawischen Stämme staatlich zu vereinen,
- als »drittes Rom« das griechisch-orthodoxe Christentum möglichst weit zu verbreiten,
- das russische Imperium so weit auszudehnen, wie es nur eben geht.
Das kommunistische Sowjetrussland war aus dieser Sicht zwar eine Verirrung, soweit es den Marxismus und die Feindschaft zum Christentum betraf. Die Sowjetunion und ihre Führer gelten aber nicht durchweg als verdammenswert, weil sie ja auch das russische Imperium verteidigten, schützten und stärkten. So wird in Putins Welt auch Stalin in seiner historischen Rolle geachtet und gewürdigt.
Mehrfach hat Putin die Ende 1991 erfolgte Auflösung der Sowjetunion als ein großes Unglück bezeichnet. Er sieht offenbar seine historische Bestimmung darin, diese Auflösung zu revidieren und möglichst viel »russische Erde« wieder einzusammeln. An vorderster Front steht dabei die Ukraine mit ihrer großen Bevölkerung, ihren fruchtbaren Böden, ihren Bodenschätzen und ihrer Lage am Schwarzen Meer. Putin hat nie akzeptiert, dass Ukrainer und Weißrussen eigenständige Völker sind. Er sieht ihre Unabhängigkeit von Russland als grundlegend illegitim an und will sie erneut eingliedern in ein russisches Großreich, möglichst noch unter seiner Regierung und durchaus auch mit Gewalt.
Die ukrainische Sicht
Die Ukrainer gehören zwar wie die Weißrussen und die Russen zu den Ostslawen und teilen mit ihnen (bis auf die Katholiken in der westlichen Ukraine) den griechisch-orthodoxen Glauben. Aber sie empfanden sich über weite Strecken überwiegend nicht als Russen. Wie oben geschildert, gerieten sie erst spät unter die Herrschaft des russischen Imperiums. Immer wieder gab es Bestrebungen für mehr kulturelle und sprachliche Eigenständigkeit, die sowohl im Zarenreich als auch in der Sowjetunion von der jeweiligen Zentralgewalt mal toleriert, dann wieder intensiv bekämpft wurden.
Die in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts mit der gewaltsamen Kollektivierung der Landwirtschaft verbundenen Hungersnöte, aber auch die politischen Säuberungen unter dem stalinistischen Terrorregime führten in der Ukraine von dem Zweiten Weltkrieg zu Millionen von Toten. Hunderttausende Ukrainer wurden außerdem in Arbeitslager und nach Sibirien deportiert. Erneut Millionen Tote einschließlich der weitgehenden Vernichtung der zahlreichen jüdischen Bevölkerung brachte der deutsche Überfall auf die Sowjetunion mit sich. Schon zur Stalinzeit entwickelte sich insbesondere im Westen der Ukraine eine gewaltsame antikommunistische Untergrundbewegung, und noch Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kämpften Partisanen in den Wäldern der westlichen Ukraine gegen die Sowjetherrschaft.
In den letzten Jahren der Sowjetunion gab es in der Ukraine eine besonders starke Nationalbewegung. Der kommunistische Parteifunktionär Leonid Krawtschuk setzte sich 1991 an deren Spitze. Am 1. Dezember 1991 sprachen sich in einer Volksabstimmung mehr als 90 Prozent der Ukrainer für die Unabhängigkeit der Ukraine aus. Krawtschuk wurde in einer Direktwahl der erste Präsident der unabhängigen Ukraine. Er verließ das Amt 1994, auch alle seine Nachfolger wurden direkt gewählt.
Trotz großer Korruption festigte sich in der Ukraine mit den Jahrzehnten eine demokratische Regierungsform. Das Herrschaftssystem Russlands dagegen wandelte sich seit 2000 unter Putin mehr und mehr in eine autoritäre Diktatur, in der die Äußerungsmöglichkeiten politischer Meinungsfreiheit mittlerweile weitgehend unterbunden sind.
Die weit überwiegende Mehrheit der Ukrainer sieht den russischen Überfall als existentielle Bedrohung ihres Landes an und unterstützt nach Kräften den Widerstand. Das gilt auch für den russisch-sprachigen Teil der Bevölkerung, der im Osten des Landes die Mehrheit stellt. Die Kampfmoral der Armee ist überraschend hoch. Wo sie nicht in großer Unterzahl oder mit schlechteren Waffen kämpft, ist sie durchweg überlegen.
Die neutrale Sicht
Man kann verstehen, dass viele Russen die 1991 erfolgte Auflösung der Sowjetunion als ein großes Unglück betrachteten und betrachten. Russland wurde von einem Imperium zu einer Regionalmacht, die Bevölkerung halbierte sich von 280 auf 140 Mio. Menschen. Rund 20 Mio. ethnische Russen lebten plötzlich als nationale Minderheiten außerhalb der russischen Grenzen. Aber die Auflösung der Sowjetunion wurde besonders intensiv von der damaligen russischen Regierung mit Präsident Boris Jelzin an der Spitze betrieben, und der Akt der Auflösung war mit der expliziten Anerkennung der Grenzen der nunmehr souveränen Nachfolgerepubliken verbunden.
Mit dem Kaukasuskrieg gegen Georgien im Jahr 2008 startete das von Putin regierte Russland erstmals den Versuch, Grenzen erneut zu verändern. Solche Versuche wurden im Westen zu lange nicht genug ernst genommen. Auch 2014, nach der Besetzung der Krim und der von Russland ausgelösten Gewalt im Donbass, waren die Reaktionen des Westens unentschlossen und die eingeleiteten Sanktionen halbherzig. In der Energiepolitik blieben Konsequenzen völlig aus. Die deutsche Abhängigkeit von russischem Gas und Öl stieg ungebremst weiter.
Der gesamte Westen glaubte und hoffte bis zum Morgen des 24. Februar, dass Putin einen offenen Krieg gegen die Ukraine unter Inkaufnahme der bereits angekündigten westlichen Sanktionen nicht wagen würde. Der gesamte Westen hatte sich getäuscht. Lediglich die politischen Führungen der USA und Großbritanniens hatten – gestützt auf die Berichte ihrer Geheimdienste – ein etwas ausgeprägteres Risikobewusstsein.
Ukrainische Handlungszwänge
Nach dem russischen Überfall hat sich die ukrainische Führung (und in seiner weit überwiegenden Mehrheit auch das ukrainische Volk) gegen die Kapitulation und für die Selbstverteidigung entschieden. Da die Führung und auch die Bevölkerung davon ausgehen, dass es dem russischen Angreifer nicht um beschränkte Gebietsgewinne, sondern um die Vernichtung der Ukraine als selbständiges Staatswesen geht, gibt es zur Fortsetzung des Abwehrkampfes aus ukrainischer Sicht auch keine Alternative außer dem eigenen Untergang als Staat und Nation.
Russische Handlungszwänge
Aufschlussreich war im Februar 2022 die im russischen Staatsfernsehen übertragene Szene, als Putin seinen inneren Führungszirkel in Regierung, Militär und Geheimdienst auf die kommende »Spezialoperation« gegen die Ukraine einschwor und dabei auch vor der öffentlichen Demütigung einzelner hoher Funktionsträger nicht zurückschreckte. Als er in den folgenden Wochen den Überfall auf die Ukraine wiederholt als neuen Verteidigungskampf gegen Nazis charakterisierte, und die vom Staat beherrschten Medien wochenlang diese Verleumdungen und Schlimmeres wiederholten, da wusste man, dass die russische Führung bewusst alle Brücken abbrach, die noch zu einem friedlichen Ausgleich mit der Ukraine hätten führen können.
Mittlerweile sind die finanziellen und wirtschaftlichen Verluste so groß und die Zahl der russischen Kriegstoten ist so hoch, dass ein für die russische Seite gesichtswahrender Kompromiss zur Beendigung des Krieges für die gegenwärtige russische Führung immer schwieriger wird. Solch ein Kompromiss ist aber offenbar von ihr auch gar nicht gewollt. Russland wird erst dann kompromissbereit sein, wenn der militärische Verlauf des Krieges weitere russische Gebietsgewinne unwahrscheinlich macht.
Russland wird also den Krieg mit aller Macht weiterführen, bis die Ukraine militärisch und als Staat vernichtet ist oder bis der russische Angriff dauerhaft auf dem Schlachtfeld zum Erliegen kommt.
Westliche Handlungszwänge
Solange man nicht die Truppen der NATO gegen Russland militärisch ins Feld führt und damit einen Dritten Weltkrieg beginnt, gibt es nur zwei Hebel zur Beeinflussung des russischen Verhaltens:
- umfassende wirtschaftliche Sanktionen
- umfassende Unterstützung der Ukraine mit Budgethilfen, Waffen und Munition
Sanktionen sind jedoch zweischneidig, da die russischen Exportgüter vor allem aus Rohstoffen bestehen, für die es auch außerhalb der westlichen Länder einen großen und aufnahmebereiten Markt gibt. So findet gegenwärtig international im Wesentlichen ein gigantischer Austausch der Bezugsquellen statt. Außerdem steigen zumindest vorübergehend die Energie- und Rohstoffpreise. Härter getroffen wird Russland durch den Importstopp für westliche Industriegüter. China wird allerdings die dadurch entstehenden Lücken gern und zügig ausfüllen.
Gleichwohl gab und gibt es zu den Sanktionen politisch keine Alternative.
Das Überleben der Ukraine und die Chance, dem russischen Angriff Einhalt zu gebieten, hängt aber vor allem von quantitativ und qualitativ ausreichenden Waffenlieferungen des Westens und von jeder nur denkbaren indirekten Unterstützung, z.B. durch militärische Aufklärung, ab. Erst wenn Russland militärisch nichts mehr zu gewinnen hat, wird es sich verhandlungsbereit zeigen. Deshalb ist die umfassende Unterstützung der Ukraine mit Waffen und Munition der wichtigste Beitrag des Westens, um das Land vor Russland zu beschützen und die eroberten Gebiete zu befreien.
Das westliche Schisma
In vielen Ländern des Westens, vor allem aber in Deutschland, findet sich die Hoffnung, es könne durch Verhandlungen gelingen, Russland zur Aufgabe seiner Kriegsziele und zum Rückzug aus der Ukraine zu bewegen. Für diese Hoffnung gibt es aufgrund des bisherigen russischen Verhaltens keine tragfähige Begründung, so lange Russland die Erwartung hat, sein Kriegsziel – die Vernichtung der Ukraine – auf militärischem Wege zu erreichen.
In Deutschland haben offene Briefe prominenter Intellektueller und die durch sie ausgelösten Debatten gezeigt, dass es für viele offenbar sehr schwer ist, von einer pazifistischen Grundillusion Abschied zu nehmen – nämlich, dass es grundsätzlich möglich sei, durch eigene Friedfertigkeit auch andere zur Friedfertigkeit quasi zu zwingen. Wenn das grundsätzlich möglich wäre, bräuchte eine entsprechende organisierte Gesellschaft weder Polizei noch Gefängnisse, es gäbe keine Gesetzesbrecher, und weltweit wäre der Frieden ausgebrochen. Von solch einer Gesellschaft darf man träumen. Aber leider ist der Mensch so verfasst, dass nur glaubwürdige Wehrhaftigkeit nach innen und nach außen den Frieden sichern und die Übeltäter in ihre Schranken weisen kann.
Unter den Völkern und Staaten Europas ist aktuell Russland der Hauptübeltäter. Bei seiner gegenwärtigen Führung wird Russland so lange fortfahren, im Stile von Iwan dem Schrecklichen oder Peter dem Großen »russische Erde« einzusammeln, bis es durch eine eindeutige militärische Niederlage in seinem Expansionsdrang gestoppt wird. Für alle NATO-Staaten und für ganz Europa ist es wesentlich besser, wenn Russland in naher Zukunft durch eine klare militärische Niederlage in der Ukraine anstatt einige Jahre später im Baltikum oder in Polen gestoppt wird. Russland muss für lange Zeit nachhaltig die Kraft und die Lust verlieren, seine europäischen Nachbarn militärisch zu bedrohen oder gar mit Krieg zu überziehen
Deshalb muss die Ukraine jetzt unverzüglich alle die Panzer, Haubitzen, Raketen und Granaten bekommen, die sie braucht, um die russischen Invasoren von ihrem Territorium zu vertreiben. Der Westen hat für diese Lieferungen eine gegenüber Russland weit überlegene industrielle Kraft. Er muss sie jetzt nutzen, um schlimmere künftige Übel zu vermeiden.
Dieser Beitrag von Thilo Sarrazin erschien zuerst in Tumult. Vierteljahrezeitschrift für Konsensstörung. Wir danken für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.
Thilo Sarrazin, Die Vernunft und ihre Feinde. Irrtümer und Illusionen ideologischen Denkens. LMV, Hardcover mit Schutzumschlag, 392 Seiten, 26,00 €.