Als die Bundesregierung 2015 versuchte, mittels einer „Klimaabgabe“ die CO2-Emissionen deutlich zu senken und die Betreiber von Braunkohlekraftwerken damit zum Aufgeben zu zwingen, wehrten sich Unternehmen und Gewerkschaft vehement; auch die Bundesländer, die Braunkohletagebau beheimateten, machten mobil. Es kam zum politischen Kompromiss der sogenannten „Sicherheitsbereitschaft“, in die acht Braunkohleblöcke gestellt wurden. In den Kesseln von 2,7 Gigawatt (GW) grund- und regellastfähiger Stromerzeugungskapazität erloschen die Feuer.
Eine Wiederinbetriebnahme wäre aufwendig und erfordert eine Aufrufzeit von zehn Tagen. Für einen kurzfristig eintretenden Mangel können sie keine Abhilfe schaffen. 1,6 Milliarden Euro zahlen die Stromverbraucher für diese Art der Reserve, die praktisch nicht wirksam werden wird, aber als politischer Kompromiss bezahlt werden muss. Es ist eine Reserve, die man nach Ansicht des damaligen Bundeswirtschaftsministers Sigmar Gabriel nicht braucht. Sie sei der „Gürtel zum Hosenträger“. Diesen werden wir ab dem 1. November 2023 mit dem Auslaufen des Reservezeitraums und der folgenden Stilllegung dieser Kraftwerke dann nicht mehr haben. Also zu einer Zeit, in der die Decke kurz werden wird.
Andere Anlagen werden einspringen müssen. Neben der Option des internationalen Stromhandels sollen bei akutem Mangel weitere Gürtel wirken. Zum einen die Kraftwerke der „Kapazitätsreserve“, die nach einem Ausschreibungsverfahren vorgehalten werden für eventuelle Engpässe und die innerhalb von zwölf Stunden leistungswirksam sein müssen. Die Kraftwerke der Kapazitätsreserve dürfen nicht mehr am Strommarkt teilnehmen. Derzeit sind acht Gaskraftwerke mit einer Gesamtleistung von 1056 MW in dieser Art vertraglich gebunden. Jedes Megawatt Reserveleistung wird für seinen Stillstand mit 68000 Euro pro Jahr bezahlt, Gesamtkosten 71,8 Millionen Euro für eine Wertschöpfung von null.
Kamen bisher nur Gaskraftwerke für die Netzreserve infrage (kurze Anfahrzeit), ist man nun auch auf Steinkohleanlagen angewiesen. Am Beispiel des Kraftwerks Heyden 4, mit 875 Megawatt ein vergleichsweise großer und moderner Block (1987 erbaut), zeigen sich die Merkwürdigkeiten deutscher Abschaltpolitik besonders deutlich. Im Ausschreibungsverfahren zur Stilllegung nach dem Kohleausstiegsgesetz hatte das Unternehmen „gewonnen“, also den Zuschlag erhalten, den Block Ende 2020 endgültig stillzulegen. Das war die Entscheidung der BNA. Der Übertragungsnetzbetreiber Tennet hielt die Anlage allerdings systemrelevant für die Netzstabilität, was wiederum durch die BNA überprüft – und dann bestätigt wurde. Tatsächlich wurde der Kraftwerksblock Heyden 4 zwischen Anfang Juli und Ende November zum strom- oder spannungsbedingten Redispatch 43-mal aufgerufen. Ähnliche wenig souveräne staatliche Entscheidungen wie zu Heyden gab es auch zu den Kraftwerken Westfalen, Walsum 9 und Wilhelmshaven.
Für den Winter 2021/22 stehen 5670 MW Kraftwerksleistung auf diese Weise in Reserve, im Winter darauf dann schon 10647. Dann soll diese Kapazität wieder sinken, sagt die Vorschau, wohl in der Hoffnung auf den fortschreitenden Netzausbau. Die großen Nord-Süd-Trassen sollen dann den Windstrom aus dem Norden in den Süden transportieren. Zum Zeitpunkt des Atomausstiegsbeschlusses 2011 ging man davon aus, dass diese Leitungen bis Ende 2022, wenn die Regelstäbe endgültig in den letzten Reaktor einfahren, fertig sein werden. Nun spricht man von 2026.
Auch dies wird nicht zu halten sein. Wer zudem bei Flaute einspringen und diese Leitungen bedienen wird, ist unklar. Auch im Norden gehen konventionelle Kraftwerke außer Betrieb oder sind es schon – Moorburg, Grohnde, Brokdorf, Emsland, Ibbenbüren, Bremen-Farge, Bremen Hafen, Hoechst und weitere. Entsprechende Thinktanks zeichneten im Sinne der Dekarbonisierung bis 2045 entsprechende Linien der Emissionsminderung schräg nach unten bis zur null. Dies wird nicht eintreten, wenn künftig vor allem alte, ineffektive Gas- und Steinkohlekraftwerke den wegfallenden Strom aus Kernkraft werden ersetzen müssen. Der vorgesehene CO2-Minderungspfad gehört schon heute ins Reich der Illusionen.
Es ist wohl einmalig in der Wirtschaftsgeschichte,
dass Energieanlagen in der Hoffnung gebaut werden,
sie nicht zu betreiben
Bis Ende 2023 werden „besondere netztechnische Betriebsmittel“ gebaut. Auch hier handelt es sich um Stromerzeuger, drei Gasturbinenkraftwerke und eines auf Basis leichten Heizöls mit insgesamt 1200 MW Leistung. Sie dürfen aber nicht „Kraftwerke“ genannt werden, da nach entsprechender EU-Vorgabe des „Unbundling“ Stromerzeugung und -transport strikt zu trennen sind. Solche Anlagen laufen dann ausschließlich nach den Anweisungen der Netzbetreiber und stellen eine Art Notreserve dar. Ihre Betriebserlaubnis ist auf zehn Jahre begrenzt – dann hofft man auf die regenerative Vollversorgung. Einige Hundert Millionen Euro dürften sie kosten. Es ist wohl einmalig in der deutschen Wirtschaftsgeschichte, dass Energieanlagen dieser Preisklasse in der Hoffnung gebaut werden, dass sie nicht betrieben werden.
Alle diese Gürtel und Hosenträger sind nur deshalb erforderlich, weil immer größere Mengen Ökostroms volatil und oft völlig am Bedarf vorbei eingespeist werden – oder eben fehlen. Während bei konventionellen Kraftwerken zu den Gestehungskosten Fantasie-Endlagerkosten, „Klimakosten“ oder „Feinstaubtote“ addiert werden, bleiben die preistreibenden Faktoren der instabilen „Erneuerbaren“ unberücksichtigt. Es ist schon seltsam: Die Gewinne für die Ökoindustrie werden privatisiert und die Kosten sozialisiert, das ist grüner Kapitalismus in Reinform.
Ein derart teures Feuerwehrsystem zum Erhalt der Netzstabilität leistet sich nur Deutschland. In Polen wie in Indien müssen beispielsweise Ökoanlagenbetreiber netzdienlich agieren und bei schwacher Einspeisung selbst für Ersatz sorgen, oder sie werden generell nur gefördert, wenn sie stabil einspeisen. Eine Novellierung des EEG in diese Richtung wird hierzulande seit vielen Jahren verhindert. Absehbar ist eine Abkehr vom Energy-only-Markt, auf dem nur die gelieferte Ware bezahlt wird. Nötig wird ein Kapazitätsmarkt, auf dem das Vorhalten von Kapazität bezahlt wird. Aktuell schlägt Netzbetreiber Amprion einen „Systemmarkt“ vor. Bis Ende 2023 verlieren wir schließlich nach Angaben der BNA über 12000 MW gesicherter Kraftwerksleistung.
Damit beschäftigt sich indes noch kein einziger Energiewende Thinktank. Dass man auf die Gürtel und Hosenträger bald wird verzichten können, ist unwahrscheinlich. Aber ein System, das nur noch auf diese Weise funktionsfähig gehalten werden kann, ist in der globalen Betrachtung nicht konkurrenzfähig und nicht zukunftsfähig.
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Frank Hennig, Klimadämmerung. Vom Ausstieg zum Abstieg – Plädoyer für mehr Vernunft in der Energiepolitik. Edition Tichys Einblick im FBV, 320 Seiten, 22,00 €.