Matthias Matussek ist süchtig nach vielen Dingen, aber nach einem Stoff noch mehr als nach allen möglichen Pulvern: nach Lob. Lob ist das Heroin des Künstlers. Und das verdient er für Sucht und Ordnung reichlich. In seinem neuesten Buch tritt er, Autor, Reisender, langjähriger SPIEGEL-Schreiber, als norddeutscher Brandner Kaspar auf, den der Sensenmann alias Boandlkramer besucht und ihm bedeutet: Jetzt ist langsam Schluss, mein Lieber.
In seinem Fall kam der Boandlkramer mit der finalen Drohung in Gestalt eines Herzinfarktes („ein Elefantentritt aus heiterem Himmel“), der den Raucher Matussek ein letztes Mal verwarnt. Und wie Brandner Kaspar schloss Matussek einen Handel ab: Er, der sich sicher war, nie von den Zigaretten lassen zu können, verordnete sich den kalten Entzug. Gleichzeitig sagte er dem Boandlkramer, der ihn eigentlich schon mitnehmen möchte: setz dich erst mal, ich erzähle dir von meiner Begegnung mit noch einem ganz anderen Süchtigen, nämlich William Burroughs, ich erzähle dir von Drogenslums in Sao Paulo, ich erzähle dir, warum die Sucht in mir steckt. Und wie ich – ich, ausgerechnet ich – es gegen jede Wahrscheinlichkeit schaffe, mit dem Rauchen aufzuhören. Und wie der originale Brandner Kaspar schwatzt Matussek ihm mit seinem Talent für gute Geschichten viele zusätzliche Lebensjahre ab. So ungefähr könnte das Buch über (seine) Sucht und seine Rettung entstanden sein.
Nach diesem Prinzip funktioniert die Zigarette, und zwar mehr als jede andere Droge: „Als ich in der Herz-Reha hörte, dass die Nikotinabhängigkeit noch schwerer zu bekämpfen sei als die von Heroin, konnte ich durchaus mitreden. Sie ist die purste aller Süchte, das Zen der Sucht. Warum? Sie produziert nichts anderes als – Sucht. Sie schenkt keine angenehmen Gefühle wie Heroin, keine Über-Wachheit oder gesteigerten sexuellen Appetit wie Koks oder kreativen Quatsch wie Marihuana, sondern nur das Wonnegefühl, das sich einstellt, wenn der Abhängige seinen Entzug kurzfristig befriedigt.“
Die Rettung vor der Zigarettensucht ist für ihn also der Achttausender der Drogenüberwindung. Und gleichzeitig sein bestes Argument für dieses Buch: Wenn jemand wie er es schafft, auf Tabak zu verzichten – dann können sich auch alle anderen Süchtigen noch schnell auf die sichere Seite bringen. Wenn auch nicht so amüsant und lehrreich wie der Autor. Denn er nimmt seine Leser nicht nur mit bei seinem Aufstieg zum neuen rauchfreien Menschen – jeder durchgehaltene Monat ein Sieg –; er wandert auch über das weite Themenfeld der Sucht, und fragt sich, warum sie so fest zur menschlichen Matrix gehört: leicht zugänglich und kaum entrinnbar.
Was die illegalen Substanzen betrifft: Er plädiert in „Sucht und Ordnung“ für eine kontrollierte Freigabe von Rauschmitteln – wie sie Portugal beispielsweise seit dem Jahr 2000 mit entkriminalisierten Mengen für den Eigenverbrauch praktiziert, sogar ziemlich erfolgreich und ohne die befürchteten Verwerfungen. Seine Idee passt gut in eine Zeit, in der LSD und MDMA beispielsweise in der Schweiz wieder in die Medizin zur Therapie von psychischen Traumata und Depression zurückkehren. Eine ähnliche Bewegung zur Entkriminalisierung von MDMA gibt es auch in den USA – wo auch Cannabis in vielen Bundesstaaten zuerst über den Weg der medizinischen Anwendung in die allgemeine Legalität fand. Vor kurzem startete das Unternehmen Compass Pathways des deutschen Investors Christian Angermayer erfolgreich an der Börse: die Firma entwickelt ein Antidepressivum aus Psilocybin, dem Stoff, der in so genannten Zauberpilzen steckt. Noch gilt der Stoff als illegal (obwohl nicht suchterzeugend), aber auch hier deutet sich eine Änderung an.
Legalisierung und Suchtüberwindung gehören für Matussek zusammen: bei ihm steht der Wille zur Unabhängigkeit im Mittelpunkt. Und der ist bei ihm auch sehr ausgeprägt. Außerdem erlebte er viele, viele Oliver-Twist-Momente. Das macht die Abkehr nach dem Elefantentritt leichter. „Jede einzelne Zigarette ist eine Abschiedszigarette. Jede schmeckt geil“, schreibt er über seine letzten Stäbchen in der Klinik. Aufgeben können, das verdankt er dem Alter, das ihm zwar so wenig schmeckt wie jedem anderen, das er aber noch eine Weile genießen möchte: „Das Älterwerden ist selbstverständlich Grund zur Empörung, denn es ist ‚alternativlos’, auch wenn du dich dagegen anstemmst mit Sport und Heilkräften in Kapseln und Pillen, und manchmal schreist du in dich hinein vor Verlangen nach einer Zigarette, ja, auch das passiert noch ab und zu, aber es vergeht wie eine Wolke am Himmel, die weiterzieht.“
Die Oliver-Twist-Forderung, das ist die dialektische Pointe, bezieht sich jetzt nicht mehr auf den nächsten Genuss – sondern etwas mehr Zeit. Die Bitte um mehr Jahre.
Das Buch – Unterhaltung plus praktischer Nutzen – kostet etwa so viel wie zwei Schachteln Zigaretten. Für das noch neue Jahr oder den baldigen Beginn der Fastenzeit bietet es sich als ideale Lektüre für alle an, die das Abenteuer des Entzugs versuchen wollen.
Matthias Matussek, Sucht und Ordnung. Wie ich zum Nichtraucher wurde – und andere irre Geschichten. Neopubli, 160 Seiten, 15,- €