Die technische Infrastruktur der Massenmedien begünstigt die Ausbreitung moralisierender Deutungsmuster. Ins Gewicht fällt vor allem der Aufstieg des Fernsehens als Massenmedium, der die Personalisierung des Politischen forciert hat. Gehlen spricht 1969 von einer »Veränderung des Verpflichtungsgefühls« durch das Fernsehen, das Entfernungen schrumpfen lässt und Fernste zu Nächsten macht. Damit stimmt Marshall McLuhans Beobachtung überein, dass audiovisuelle Medien Raum und Zeit entwerten und die Welt auf das Miniaturformat eines »globalen Dorfs« oder eines Stammes schrumpfen lassen:
»Wir leben in einem einzigen komprimierten Raum,
der von Urwaldtrommeln widerhallt.«
Im »global village« der elektronischen Massenmedien wird mit der kalten, distanzierten und distanzierenden Rationalität der Schriftkultur und des linearen Denkens auch das ihnen entsprechende Ethos suspendiert. Es macht einer neuen Kultur der Unmittelbarkeit und Simultaneität Platz, die den idealen Nährboden für eine erweiterte, globalisierte Privatmoral darstellt. Mit dem Zusammenschrumpfen der Welt in den elektronischen Schaltkreisen erweitert sich zugleich das heimische Wohnzimmer und damit der Adressatenkreis der Familienmoral. McLuhan konnte diesem Trend durchaus positive Seiten abgewinnen und beobachtete neue Formen der Anteilnahme, des Engagements und des Dialogs, während Gehlen die Schattenseite einer Erosion des staatlichen und institutionellen Ethos betonte.
Das narrative Prinzip könnte identitäts- und gemeinschaftsbildend wirken, aber im Verbund mit einer uferlosen Moralisierung entfaltet es einen gegenläufigen Effekt. Das Erzählen, das Walter Benjamin als die »handwerkliche Form der Mitteilung« charakterisierte, erscheint heute vor allem als Ausdrucksform der »überdehnten Hausmoral«. Genauer: Es ist zum Vehikel ihrer grenzenlosen Ausdehnung geworden, die längst auch den politischen Diskurs erfasst hat.
In diesem Erzählen gibt es nur Ich und Welt. Im grenzen- und konturlosen Dazwischen ist nichts auszumachen, was Loyalität verdiente. Alle intermediären Instanzen sind verschwunden. Das postheroische Gemeinwesen ist narrativ unergiebig. Auch der nach außen schützende, nach innen befriedende Staat taugt nicht als Held. Wo immer er personale Züge annahm, wurde er rasch als monströse Unperson denunziert. Das Titelblatt der Erstausgabe des Leviathan von Thomas Hobbes zeigt ihn als gekrönten Riesen, der sich aus unzähligen Einzelpersonen zusammensetzt. Das Schwert in der Rechten, den Bischofsstab in der Linken, hat er die Arme schützend über die Stadt gebreitet. Sein Gesichtsausdruck ist nicht unfreundlich, fast jovial. Diese einnehmende Darstellung änderte allerdings nichts daran, dass der Leviathan »zu einem grauenhaften Golem oder Moloch aufgedröhnt« wurde, wie Carl Schmitt beobachtete.
Auch unabhängig von der jeweiligen Figurenkonstellation begünstigt die narrative Struktur den gefühlsgeladenen Subjektivismus des Guten. Der narrative turn und die anhaltende Konjunktur des Storytelling haben den Resonanzraum einer Politik der reinen Gesinnung erheblich ausgeweitet. Im politischen Storytelling ging es dabei zunächst nicht um die Konstruktion eines großen, umfassenden, übergreifenden Mythos als kollektive Sinnressource und Triebkraft politischer oder sozialer Bewegungen. Die politische Kommunikation griff und greift vielmehr auf eine im Marketing bewährte narrative Strategie zurück, die hochgradig flexibel, wandlungs- und anpassungsfähig ist. Storytelling füllt die Vakanz nach dem von Jean-François Lyotard ausgerufenen Ende der »Metaerzählungen«. Im Marketing ist es zudem die Antwort auf den wachsenden Werbeüberdruss, der sich seit Mitte der 1990er Jahre – nicht zuletzt auch unter dem Eindruck der globalisierungskritischen Bewegung – zu einer handfesten Krise der Marken auszuwachsen drohte. Man stellte das Trommelfeuer werblicher Botschaften zumindest zeitweise ein und setzte auf poetische Umwege und die absichtliche Unabsichtlichkeit des Ästhetischen. Die fein dosierten Verwicklungen des Plots ersetzten die polierte Oberflächlichkeit der klassischen Warenästhetik. Marken erscheinen fortan als narratives Bedeutungskapital, das es sorgsam zu pflegen und zu mehren gilt.
Vor der gefährlichen Tendenz, aus der Intensität moralischer Gesinnung einen höheren Standpunkt abzuleiten und diesen gegenüber dem Recht und den Üblichkeiten des Common Sense zu privilegieren, warnte der Philosoph Hermann Lübbe schon früh. Sogar Verstöße gegen das Recht würden unter Berufung auf die vermeintlich bessere Sache gerechtfertigt, lautet sein Befund. Ein solcher Moralismus, in dem die Gesinnung über die Urteilskraft triumphiert, mündet nicht selten in eine Selbstermächtigung zur Gewalt, wie Lübbe am Beispiel der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts zeigt. Unabhängig von diesen Großideologien gibt es laut Lübbe auch eine eher mikrologische Praxis der moralisierenden Debattenführung, die den politischen Gegner moralisch diskreditiert, seine Sachargumente neutralisiert und ihn schließlich mundtot macht: »Moralist in diesem Sinne ist, wer, statt ad rem, ad personam argumentiert.« Dieses ad personam ist mehr als ein rhetorischer Kniff. Im medial-narrativen Komplex wird es auf eine Weise strukturbildend, die das Argumentieren erübrigt, Themen gezielt einer diskursiven Erörterung entzieht und eine Rückkehr auf die Sachebene nahezu ausschließt.
Neben den flexiblen, tagespolitischen Spielarten des Storytelling gibt es stabilere narrative Formationen, die mögliche Bahnen einer Debatte ebnen und kanalisieren, bevor diese überhaupt begonnen hat. Der metapolitische Kampf um die Diskurshegemonie, um die Verwendung von Begriffen und ihre Deutungshoheit, beginnt nicht nur im vorbegrifflichen Bereich des Erzählens, sondern wird dort in vielen Fällen auch entschieden. Die Aura ästhetischer Absichtslosigkeit, die das Erzählen verbreitet, qualifiziert dieses als sprachpolitisches Instrument. Das Regime des moralisierenden Erzählens entwickelt ein wachsendes Raffinement darin, seine manipulativen Absichten zu verschleiern. Es adaptiert ästhetische Strategien und poetische Sprechweisen, um nicht als Regime in Erscheinung zu treten.
Auszug aus: Michael Esders, Sprachregime. Die Macht der politischen Wahrheitssysteme. Manuscriptum, 148 Seiten, 18,- €