Tichys Einblick
Messen mit zweierlei Maß

Steht Nancy Faeser noch auf dem Boden des Grundgesetzes?

In seinem neuesten Buch „Deutschland auf der schiefen Bahn“ kritisiert Erfolgsautor Thilo Sarrazin die Bundesinnenministerin und den Bundesverfassungsschutz. Sie sind auf dem linken Auge blind, und mit dem rechten sehen sie verzerrt.

Die Frage, wie man die Meinungsfreiheit auch von radikalen Demokratiegegnern sichern und ihnen gleichzeitig den demokratisch legitimierten Griff zur Macht wirksam verwehren kann, ist rein intellektuell, aber auch im administrativen Vollzug bis heute ungelöst.

Um eine Wiederholung von Vorgängen zu verhindern, die zum Untergang der Weimarer Republik führten, wurde in der Bundesrepublik 1950 als Inlandsgeheimdienst das Bundesamt für Verfassungsschutz gegründet, das demokratiefeindliche Bestrebungen jedweder Art im Auge behalten soll. 1952 wurde in Westdeutschland die rechtsextreme Sozialistische Reichspartei (SRP) und 1956 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) verboten.

Ergebnislos wird in Deutschland seit Jahrzehnten die Frage diskutiert, ob die Bedrohung der Demokratie durch Extremisten eher vom links- oder vom rechtsradikalen Meinungsspektrum oder auch vom religiösen Radikalismus in Gestalt des politischen Islam ausgeht. Je nach politischer Grundausrichtung sind hier die Einschätzungen sehr unterschiedlich. All solchen Debatten und den mit ihnen verbundenen administrativen Maßnahmen wohnt stets die Gefahr inne, dass übermäßige Eingriffe in die Meinungsfreiheit stattfinden oder in verwandte Rechte wie die Freiheit der Berufsausübung eingegriffen wird. Deshalb war auch der Radikalenerlass von 1972 so umstritten, der die Einstellung von Verfassungsfeinden in den Öffentlichen Dienst unterbinden sollte.

Bei Eingriffen in die Meinungsfreiheit zum Schutz der Demokratie ist es sehr schwierig, zu intellektuell sauberen und operativ handhabbaren Abgrenzungen zu kommen. Greift man zu weit ins intellektuelle Vorfeld, stehen irgendwann die Werke von Karl Marx, Friedrich Nietzsche oder Carl Schmitt auf dem Index gefährlicher Schriften. Wer sie liest, würde sich dann als Verfassungsfeind verdächtig machen und dürfte vom Verfassungsschutz beobachtet werden.

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Zieht man den Kreis zu eng, so wird es immer schwieriger, zulässige von unzulässigen Denkfiguren abzugrenzen. Diese Widersprüche zeigen sich seit einiger Zeit bei den intellektuell hilflosen Versuchen des Bundesamts für Verfassungsschutz, die Spuren rechtsradikalen Denkens bei der AfD normativ widerspruchsfrei und operativ hinreichend eindeutig zu definieren, um die Beobachtung der AfD als potenziell verfassungsfeindlicher Organisation zu begründen. Die öffentlichen Äußerungen des Verfassungsschutzpräsidenten Thomas Haldenwang zeigen diese Unsicherheit. Sie verraten aber auch eine bedenkliche Tendenz, identische Sachverhalte auf der rechten und der linken Seite des politischen Spektrums unterschiedlich zu gewichten.

So warf Haldenwang der AfD im Mai 2023 in einem Interview vor, in Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg russische Desinformation in Deutschland zu verbreiten. Der gleiche Vorwurf könnte natürlich auch an die Linkspartei gehen, wo Sahra Wagenknecht und ihre Anhänger in Bezug auf Russland und die Ukraine identische Desinformationen verbreiten. Diesen Schritt geht Haldenwang aber nicht. Bei Linkspartei und AfD misst der Verfassungsschutzpräsident offenbar mit zweierlei Maß.

Konkret schlägt sich ein problematischer und gedanklich unscharfer Umgang mit der Meinungsfreiheit bereits in der mit Amtsautorität vorgetragenen Definition des Bundesamts für Verfassungsschutz zum Rechtsextremismus und in dessen Anwendung auf konkrete Verdachtsfälle nieder. Das Bundesamt formuliert: „Im Rechtsextremismus entscheidet die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Nation oder ‚Rasse‘ über den Wert eines Menschen. In einer solchen ethnisch-rassistisch definierten ‚Volksgemeinschaft‘ werden die zentralen Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung missachtet. Nationalismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wie Rassismus und Antisemitismus, Geschichtsrevisionismus sowie Demokratiefeindlichkeit prägen die rechtsextremistische Agitation.“

Definitionen bedürfen keiner inhaltlichen Rechtfertigung, soweit sie inhaltlich logisch und widerspruchsfrei sind. Man kann sie teilen oder auch nicht. Strategisch zentral ist in der Definition des Bundesamts der Begriff vom „Wert eines Menschen“, der unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Nation oder Rasse sein soll. Dem kann man nur zustimmen. Intellektuell unzulässig ist aber die Vermischung mit der Verwendung eines ethnisch orientierten Volksbegriffs. Denn auch der Begriff des Volkes ist eine Definitionsfrage, und seine herkömmliche und bis in die Gegenwart weit überwiegende Definition ist ethnisch-kulturell. So definiert die Brockhaus-Enzyklopädie von 1974 das Volk als „eine durch gemeinsame Herkunft, Geschichte, Kultur und meist auch Sprache verbundene Gesamtheit von Menschen“. Der Begriff, so der Brockhaus weiter, „hat im Lauf der Geschichte verschiedene Wandlungen erfahren und ist nicht immer eindeutig abgrenzbar. Politisch und historisch ist Volk im Wesentlichen gleichbedeutend mit Nation.“

Volk und Staat bedeuteten historisch gesehen fast immer etwas Unterschiedliches. Staatsangehörigkeit und Volkszugehörigkeit sind also nicht notwendig identisch. So entwickelte sich die Schweiz mit ihren drei Landessprachen Deutsch, Französisch und Italienisch im 19. Jahrhundert zu einer Willensnation, die auf der Souveränität der Kantone, der Gleichheit der Bürger vor dem Recht und der Garantie der bürgerlichen Freiheiten gründet. Der österreichische Kaiser Franz Joseph sandte am Vorabend des Ersten Weltkriegs seine Botschaft „An meine Völker“ und warf schon durch diese Überschrift Deutsche, Ungarn, Kroaten, Tschechen, Polen und Italiener bewusst nicht in einen Topf.

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In der 1920 neu gegründeten Republik Polen unterschied man zwischen Staatsangehörigkeit und Nationalität. So war im polnischen Pass meiner Mutter, 1920 in Westpreußen geboren, neben der polnischen Staatsangehörigkeit die deutsche Nationalität vermerkt. Und im Deutschland der Gegenwart haben die beiden anerkannten Minderheiten in Deutschland, die Dänen in Schleswig-Holstein und die Sorben in Sachsen, ihren Minderheitenstatus in bewusster, politisch gewollter Anerkennung ihrer ethnisch-sprachlichkulturellen Besonderheit.

Darum ist es abwegig, wenn der deutsche Verfassungsschutz, wie er dies zunehmend tut, den Vorwurf des Rechtsextremismus an der Verwendung eines ethnisch-kulturellen Volksbegriffs festmachen will. Nicht ein ethnisch-kultureller Volksbegriff, nicht der Wunsch, kulturfremde Einwanderung zu beschränken, und auch nicht der Wunsch, unter Menschen gleicher Ethnie und Sprache zu leben, sind moralisch und politisch abzulehnen. Allein eine sachlich unbegründete, rassistisch motivierte Abwertung von Personen und Gruppen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft ist als extremistisch anzusehen und selbstverständlich moralisch verdammenswert.

Diese Abgrenzung wird im Verfassungsschutzbericht 2022 systematisch unterlaufen. Stattdessen wird an zahlreichen Stellen der Eindruck erweckt, es genüge schon, an einem ethnischkulturellen Volksbegriff festzuhalten und kritisch gegenüber kulturfremder Einwanderung zu sein, um den Vorwurf des Rechtsextremismus zu rechtfertigen. Zur Begründung für die Einstufung der AfD als Verdachtsfall führt der Verfassungsschutz „ein ethnisch-kulturell geprägtes Volksverständnis sowie fremden- und minderheitenfeindliche und muslim- und islamfeindliche Positionen“ an.

Es fehlen im Verfassungsschutzbericht Zitate wichtiger AfD-Funktionsträger, die das pauschal geäußerte Verdachtsmoment konkret untermauern. Und es unterbleibt auch die konkrete Abgrenzung zwischen „feindlich“ und „kritisch“: Wer zum Beispiel den gesellschaftlichen Einfluss bestimmter Ausprägungen des islamischen Glaubens kritisch sieht und auf die innewohnenden Gefahren hinweist, ist weder ein Islam- noch ein Muslimfeind. Der Verfassungsschutz selber widmet ja im Verfassungsschutzbericht 2022 den islamistischen Gefahren und dem wesentlich durch den Islam geprägten auslandsbezogenen Extremismus zwei Kapitel von insgesamt 200 Seiten.

Auch ist derjenige, der faktenbezogen auf die überdurchschnittliche Kriminalität und unterdurchschnittliche Bildungsleistung bestimmter Migrantengruppen hinweist und den in bestimmten Milieus herrschenden Kopftuchzwang für Frauen und Mädchen kritisiert, weder islam- noch fremdenfeindlich. Vielmehr würde dieser Vorwurf auch zahlreiche Schriftsteller in Deutschland mit islamischem Migrationshintergrundtreffen, die sich in ihren Büchern islamkritisch äußern.

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Unscharf bleibt in der Argumentation des Verfassungsschutzes zudem die Grenze zwischen sachbezogener Kritik an der deutschen Einwanderungspolitik und an bestimmten Einwanderermilieus einerseits und Polemik sowie pauschaler Herabsetzung andererseits. Auch stellt der Verfassungsschutz offenbar nicht in Rechnung, dass scharfe politische Auseinandersetzungen generell zu einer wenig differenzierten Sprache und häufig überzogener Polemik neigen. Das ist leider nicht nur auf die AfD beschränkt.

Es bleibt der Verdacht gegen das Bundesamt für Verfassungsschutz und das inhaltlich verantwortliche Bundesinnenministerium, dass das Festhalten an einem ethnisch-kulturellen Volksbegriff und eine kritische Grundhaltung gegenüber kulturfremder Masseneinwanderung schon als solche genügen sollen, um den Vorwurf des Rechtsextremismus zu rechtfertigen. Damit würden große Teile des konservativen Flügels der deutschen Gesellschaft bis weit in die Mitte hinein pauschal in die rechtsextreme Ecke geschoben.

An dieser Stelle stellt sich die Frage: Welches Verfassungsverständnis haben der Bundesverfassungsschutz und das Innenministerium? Stehen sie mit dem Versuch der Ausgrenzung großer Teile der deutschen Bevölkerung aus dem als legitim erachteten öffentlichen Diskurs wirklich noch auf dem Boden des Grundgesetzes? Und gefährden sie nicht so die freiheitlich-demokratische Grundordnung, zu deren Schutz sie doch gesetzlich aufgerufen sind?

Diese Diskussion muss politisch geführt werden, und sie muss ernst genommen werden. Trotz aller intellektuellen Schwierigkeiten bleibt es nämlich grundsätzlich richtig, dass der Staat als Hüter der Meinungsfreiheit auftritt. Denn seine wichtigste Aufgabe ist es, ganz im Sinne von Thomas Hobbes, den Menschen vor seinen Mitmenschen zu beschützen und das friedliche Zusammenleben aller durch die Ausübung der Staatsgewalt sicherzustellen. Dazu gehört auch die staatlich garantierte Sicherstellung eines gesetzlichen zul ässigen Umfangs an freier Meinungsäußerung im privaten Kreis und im öffentlichen Raum.

Die Sicherstellung einer „offenen Gesellschaft“ durch einen staatlich garantierten Raum für die freie Meinungsäußerung und unbehinderten geistigen Austausch ist also eine staatliche Daueraufgabe. Sie angemessen zu bewältigen ist alles andere als trivial.

Thilo Sarrazin, Deutschland auf der schiefen Bahn. Wohin steuert unser Land? LMV, 288 Seiten, 26,00 €


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