Ausgerechnet Friedrich Merz! Er weckt mit einem Überraschungsknaller die verschlafene ZDF-Sendung „Berlin direkt“ auf und sagt, dass er bedauere, dass die SPD nicht auf Thilo Sarrazin gehört, sondern ihn vielmehr aus der Partei ausgeschlossen habe. Und auch die CDU hätte ihn besser lesen sollen. Thilo Sarrazin? Das Schreckgespenst aller Gutmenschen? Immerhin hat er in seinem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ schon 2010 davor gewarnt, „wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ – mit einer Kombination von Geburtenrückgang, wachsender Unterschicht und Zuwanderung aus überwiegend muslimischen Ländern.
„Nicht hilfreich“, kanzelte damals Angela Merkel seine Veröffentlichung ab. Thilo Sarrazin verlor seinen Job als Vorstand der Deutschen Bundesbank. Er musste unter Polizeischutz gestellt werden, galt als Aussätziger. Mit größtem Eifer betrieb die SPD den Ausschluss des Mannes aus der Partei, der er auch als Finanzsenator in Berlin gedient und die Pleite-Hauptstadt saniert hatte.
Seither ist Sarrazin der beständige Warner, legt alle zwei Jahre pünktlich wie ein Uhrwerk eine neue Bedrohungsanalyse vor; vor drei Jahren, ähnlich hellseherisch, „Der Staat an seinen Grenzen“. Es ist eine Vorwegnahme der Straßenschlachten in Berlin-Neukölln, in der ein islamischer Mob die Polizei in die Enge treibt und Häuser und Schaufenster mit dem David-Stern beschmiert: Die neuen Einwanderer kümmern sich nicht um das Entsetzen der Urbevölkerung eines Landes, in dessen beiden Teilen das „Nie wieder“ von Judenpogromen, Reichskristallnacht und Shoa zum Gesellschaftsverständnis gehört.
Mit Thilo Sarrazin wurde ein immer breiterer Kreis von Journalisten und Publizisten ins Abseits gedrängt, die vor den Folgen des 31. August 2015 gewarnt hatten und nicht müde wurden, auf die Folgen hinzuweisen.
Merkels dünne Begründung für die sperrangelweit geöffneten deutschen Grenzen, so in einem Interview vom 7. Oktober 2015, lautete: 3.000 Kilometer deutscher Grenzen könne man nicht schützen. Dabei waren in den Tagen nach dem 5. September 2015 sämtliche Einheiten der Bundespolizei bereits in Alarmbereitschaft versetzt und 21 Hundertschaften mit Bussen aus ganz Deutschland an die deutsch-österreichische Grenze gebracht worden, um am 13. September 2015 die deutsche Grenze wieder zu schließen.
Die Bundespolizei durfte schließlich nicht eingreifen. Die Grenzen blieben offen. Der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière hatte übrigens auf Grenzschließung gesetzt. Fünf Jahre später, im August 2020, verteidigt er Merkels Entscheidung. Aber was im Kopf dieses Menschen vorgeht, den Merkel 2018 vor die Tür gesetzt hat, steht auf einem anderen Blatt.
Sarrazins sechstes Buch nach seinem hysterisch skandalisierten „Deutschland schafft sich ab“ aus dem Jahr 2010 nimmt sich die Einwanderungspolitik seither vor.
Wie in all seinen Vorgängerbüchern glänzt Sarrazin mit sorgfältigster Recherche und klarer Sprache – gerade was die Folgen der einsamen Merkel-Entscheidungen vom Spätsommer 2015 betrifft, die bis in die Gegenwart wirken und die Lage täglich verschlimmern.
Um nur einige Folgen zu nennen, die Sarrazin darstellt: In der Summe halten sich derzeit rund 2,2 Millionen „Schutzsuchende“ in Deutschland auf. Oder nehmen wir die von Sarrazin bilanzierten Asylanträge von 2007 bis 2016: „Von den 1,07 Millionen Entscheidungen über Asylanträge in dieser Zeit wurde lediglich in 9166 Fällen das Recht auf Asyl (gem. Art. 16a GG) zugesprochen. Das waren weniger als 1 Prozent aller Fälle. Das ist auch bis heute weiter der Fall … De facto ist das deutsche Asylrecht das zentrale Einfallstor für ungeregelte Masseneinwanderung geworden.“
Folge ist laut Sarrazin: „Bereits 2016 war der Anteil der Fluchtmigranten an der Gewaltkriminalität in Deutschland dreimal so hoch wie ihr altersbereinigter Anteil an der männlichen Bevölkerung.“ Folge ist außerdem, dass der größte Teil der „Schutzsuchenden“ mangels Qualifikation frühestens nach drei bis fünf Jahren in die Arbeitswelt integrierbar ist, weil 76 Prozent keine Ausbildung mitbringen. Und: Es blüht eine „Flüchtlings-Industrie“, die Verwaltungsgerichte sind weitgehend lahmgelegt.
All dies und noch viel, viel mehr stellt Sarrazin auf 480 Seiten dar – unterfüttert mit 671 Belegen. Selbst historisch Interessierte und Versierte kommen mit Sarrazins Werk mit dem Untertitel „Über Wirkung von Einwanderung in Geschichte und Gegenwart“ auf ihre Kosten. Denn das erste Drittel dieses Buches gilt der Weltgeschichte der Migration. Auch hier hat sich der Autor mächtig ins Zeug gelegt. Zehntausende von Jahren weltweiten Migrationsgeschehens auf 170 Seiten zu komprimieren, das gelingt kaum den besten Historikern. Der Ex-Finanzsenator und Ex-Bundesbanker Sarrazin kriegt das hin.
Alles in allem: Die Lektüre jeder der 480 Seiten von „Der Staat an seine Grenzen“ lohnt. Das Buch ist ein Feuerwerk an Fakten, Quellen, Tabellen, Argumenten, die jeder braucht, der sich um dieses, das Land spaltende Thema kümmert oder der hier zumindest sachgerecht mitdiskutieren will. Das gilt eigentlich auch für so manche Spitzenpolitiker, für so manche Kirchenfürsten, für so manche Journalisten, für so manche, auch „christliche‘“ Seenotretter und Schleuserkollaborateure. In grenzenlos pädagogischem Optimismus geben wir die Hoffnung nicht auf, dass das Sarrazins Buch doch noch als „hilfreich“ angesehen wird.
Thilo Sarrazin, Der Staat an seinen Grenzen. Über Wirkung von Einwanderung in Geschichte und Gegenwart. LMV, Hardcover mit Überzug, 480 Seiten, 26,00 €.