„Haut rein!“ „Lieber sich den Bauch verrenken, als dem Wirt etwas schenken.“ „Gegessen wird, was auf den Tisch kommt.“ Und zwar aufgegessen! Die alten deutschen Sprüche verraten den Mangel. Stets wechselten Not und Überfluss miteinander ab. Wenn er Beute machte, futterte der Jäger, bis nichts mehr in ihn hineinging. Als Hungerperioden noch häufig waren, haute man rein, wenn es die Umstände erlaubten. Es herrschte nicht immer Hunger in Deutschland, aber immer Angst vor dem Hunger.
Zum germanischen und keltischen Helden (Obelix) gehörte der Mordsappetit. Dann kam das Christentum mit seinen Fastenregeln, und die Völlerei galt als Laster, gar als eine der sieben Todsünden. Völlerei ist also der Wollust verwandt. Beide gehören zur dunklen Seite der Freiheit. Ohne sie bliebe Freiheit Theorie. Das Märchen vom Schlaraffenland, ein Lob der Völlerei, ist eine soziale Utopie und stammt aus den dunklen Zeiten der Sorge ums tägliche Brot. In Deutschland war es besonders beliebt.
Hungersnöte, ob als Folge von Missernten oder Krieg, prägten die deutsche Küche. Der Überfluss, den wir seit 70 Jahren für selbstverständlich halten, ist historisch gesehen eine glückliche
Ausnahme. Unsere Vorfahren bangten von Ernte zu Ernte. Zwei klimatisch bedingte Missernten hintereinander führten unweigerlich zur Hungersnot. Den Hungersnöten folgten Mangelerkrankungen, Seuchen. Hunger führte zu Revolten und lieferte den Klassenkämpfen Energie. Dazu kam der Hunger im Krieg. Die Suppen wurden gestreckt, Lebensmittel rationiert, Ersatzprodukte erfunden: Marmelade aus Steckrüben, Kaffee aus Eicheln, Brot aus Bohnen. Noch unsere Väter lebten von der Hand in den Mund.
Wo ohnehin Mangel herrscht, ist freiwilliges Fasten sinnlos, ja schädlich. Es muss erst einmal etwas geben, ehe man darauf verzichten kann. Nicht die Not macht tugendhaft, sondern die Überwindung der Not lässt überhaupt erst Tugend zu.
Die allseits beliebte Currywurst entstammt dem Mangel der Trümmerfrauenzeit, als es an Pellen fehlte und auch an Senf. Currypulver und Ketchup gab’s auf dem Schwarzmarkt. Auch der geschätzte deutsche Eintopf kann seine Herkunft nicht verleugnen. Es ist ein Essen, das nur einen Topf und eine Feuerstelle benötigt. Zu seinen Vorzügen zählt, dass Reste unauffällig verwendet werden können.
Suppen machen auch zähes Fleisch und Knochen genießbar. Nichts verkommt in der Suppe. Das Fett aus dem Fleisch verbrennt nicht in der Glut, sondern tropft in die Flüssigkeit. Die Suppenküche ist bis heute eine Einrichtung für Notleidende. Ein Teller Suppe und ein Stück Brot stehen für die Minimalration der Armen. Selbst die vermeintliche Krönung der deutschen Küche, der Sonntagsbraten, ist keineswegs das beste, zarteste Stück vom Tier. Stundenlang muss es mürbe geschmort werden, oft davor schon tagelang gebeizt, um in kühlschranklosen Zeiten die Verwesung zu bändigen.
Auch auf dem Teller herrscht Ordnung. Und eine Hierarchie. Oben der Geschmack, unten der Füllstoff. An der Spitze das, wovon es nicht genug gibt: Fleisch und Sauce, dazwischen Gemüsebeilage oder Salat, dann das, was satt macht. Die oft verkochte Salzkartoffel ist kulinarisch allerdings ein Armutszeugnis. Seltsam, dass überhaupt erwähnt wird, dass sie in Salzwasser gegart wird. Geröstete Knödel mit Ei, Spätzle mit Käse und Zwiebeln aber sind klassische Armeleutegerichte und dennoch Köstlichkeiten.
Die Fresswelle war eine Antwort auf die Hungerjahre. Und die Völlerei ist von jeher eine Schwester des Mangels. Wer der Völlerei verfällt, muss kein schlechter Mensch sein. Solange er keinen anderen schädigt. Zu unterscheiden ist also zwischen Völlerei und Verschwendung. Heute herrscht kein Mangel, aber Gier. Auch die Gier ist ein fernes Echo des Mangels. Die banale Völlerei ist inzwischen am All-inclusive-Büffet zu beobachten. Die Leute schaufeln sich die Teller voll, der Appetit ist größer als der Hunger. Möglichst viel für sein Geld haben zu wollen ist letztlich nur Geiz.
Aus kulinarischer Perspektive ist Geiz eine schwerere Todsünde als Völlerei. Wer nicht gönnen kann, gönnt sich auch selbst nichts. Leider vor allem beim Essen. Franzosen und Italiener geben einen wesentlich größeren Anteil ihres Einkommens für Essen aus. Geiz ist hierzulande bekanntlich geil, vor allem im Supermarkt, an der Fleischtheke und im Aufbackshop, der den gelernten Bäcker nebenan ruiniert.
Zum schlechten Gewissen kommt der Selbstoptimierungswahn. Man kasteit sich nach komplizierten Regeln von Low Fat bis Low Carb, von Steinzeitkost bis zum Intervallfasten. Beim Fasten kann Scheinheiligkeit helfen. Um manche Fastenregel zu brechen, wurde Fleisch versteckt – etwa in der schwäbischen Maultasche, zu Recht ein Inbegriff schwäbischer Esskultur. Der politisch korrekte deutsche Konsument ist eher ein Selbstbscheißerle. Diätwahn, Verzichtsmoral, Gewissensnot und Geiz verbinden sich zu einer ganz und gar ungenießbaren Tunke.
Dabei wäre doch alles ganz einfach. Ein Bekenntnis zum Genuss täte allen Beteiligten gut: den Tieren, den Bauern, den Köchen und den Essern. Was hierzulande fehlt, ist die Erkenntnis, dass Essen Kultur ist und nicht bloß Ernährung. Der Überfluss müsste endlich zur Steigerung der Qualität genutzt werden. Doch das müssen die Deutschen noch lernen: nicht nur aus der Not, sondern auch aus dem Überfluss eine Tugend zu machen.
Wolfgang Herles, Vorwiegend festkochend. Kultur & Seele der deutschen Küche. Penguin, 416 Seiten, mit zahlreichen vierfarbigen Fotos, 29,00 €
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