Tichys Einblick
70 JAHRE GRUNDGESETZ

Schaltjahr 1949

Vor 70 Jahren wurde die Bundesrepublik gegründet, am 23. Mai trat ihr Grundgesetz in Kraft. Eine erstaunliche Erfolgsgeschichte alles in allem, obwohl Fehlentwicklungen schon damals angelegt sind. Vom Wirtschaftswunder bis zur Willkommenskultur reicht die Spannweite.

Die berühmte Stunde Null konnte es nicht geben, weder am Tag der Kapitulation noch jetzt, im Mai 1949. Denn alles, was geschieht, ist eine Antwort auf die Katastrophe. Über allem Neuem steht die Maxime „Nie wieder“. Bis heute prägt diese Fixierung auf das Vergangene den Diskurs. Zumindest damals ist es eine verständliche Selbstfesselung. Denn 1950 plädiert noch ein Viertel aller Deutschen für einen Einparteienstaat, und zehn Prozent glauben, dass Hitler der Staatsmann gewesen sei, der für die Deutschen am meisten getan habe. Justiz, Verwaltung, Polizei sind durchsetzt von alten Nazis.

Und dennoch ist die Gründung der Bundesrepublik der Beginn einiger der glücklichsten Jahrzehnte der deutschen Geschichte – wenn auch nur für die 50 Millionen Deutschen im Westen. Das Glück folgt keinem Patentrezept. Die Weichen müssen gestellt werden, aber die Richtung, die die neue Demokratie nehmen soll, ist umstritten. 1949 ist das Schaltjahr. Die fundamentalen Entscheidungen für Westbindung und Marktwirtschaft sind noch keine ausgemachte Sache, und sie werden auch nicht einfach von den Siegermächten oktroyiert. Vielmehr sind sie das Resultat heftiger politischer Kämpfe. Letztlich werden sie erkauft mit Kompromissen, die bis heute nachwirken. So stecken im glücklichen Beginn bereits die Widersprüche und Lebenslügen, die noch immer die Politik prägen.

Der Deutschen Unbehagen an der Freiheit
Die neurotische Nation
Adenauer zieht die Einheit Europas der Einheit der Nation vor. Alle Verhandlungsangebote lehnt er ab. Freie Wahlen in ganz Deutschland wären noch möglich. Adenauers Furcht: Ein großes, halbwegs neutrales Deutschland würde zwischen den Blöcken des Kalten Kriegs wieder zur Schaukelpolitik verleitet. Das Wirtschaftswunder bliebe aus, der Wiederaufbau ohne Hilfe der Amerikaner bliebe um Jahrzehnte zurück, Frankreich würde Erbfeind bleiben, England Gegner statt Partner.

Vor allem säße Deutschland noch immer auf seinem alten Wertefundament: treudeutsch, preußisch, überwiegend protestantisch, obrigkeitshörig, weltfremd und nicht wirklich frei. Nur darf Adenauer nicht zugeben, dass er so denkt. Er kann sich auf den Kalten Krieg berufen, darauf, dass die Spaltung der Welt nun einmal mitten durch Deutschland gehe. Der Widerspruch zwischen realer Westpolitik und irrealem Dauerbekenntnis zum Reich wird sich freilich zu einer handfesten Schizophrenie auswachsen, die bis heute zu spüren ist.

Die zweite Lebenslüge hat damit zu tun. Denn auch im Westen glaubt man 1949 an das Ziel einer klassenlosen Wohlstandsgesellschaft. Die Vorstellung, größtmögliche Sicherheit vor allen Risiken des Daseins sei mit größtmöglicher Freiheit vereinbar, wird zur irrigen Leitlinie der deutschen Politik.

Weltfremdheit bis heute

Und auch die dritte Illusion entstammt der Gründungsgeschichte der Bonner Republik: Der ewige Frieden sei machbar. Doch weder Europas Einheit noch Deutschlands Wohlstand, ja nicht einmal die atlantische Freundschaft sind garantiert. Schon gar nicht, wenn die Bundesrepublik glaubt, ihre Illusionen auf Sonderwegen verteidigen zu können. Eine gewisse Weltfremdheit zeichnet seine Politik bis heute aus, sei es in der Energiepolitik, in der Schlüsselfrage der Migration oder auch im Widerspruch zwischen der Ausweitung des Sozialstaats und dem Aufgehen der Republik in einer Europäischen Union. Die Deutschen glauben, Erweitern und Vertiefen zugleich sei möglich. So wollen sie stets mehr, als sie kriegen können, und haben am Ende weniger.

Im Mai 1949 wird das Grundgesetz verabschiedet, die Währungsreform ist noch kein Jahr alt. Die Arbeitslosenquote steigt enorm: auf zwölf Prozent bis Anfang 1950. Noch sieht es so aus, als würde ein Chaos nur durch das nächste abgelöst. Soziale Marktwirtschaft als demokratisches Erziehungsprogramm – Erhard bleibt stur: „Aus dem hysterischen Gekeife der Kollektivisten aller Sorten spricht die schlotternde Angst, dass sich das Volk der Fessel, der geistigen Bevormundung und Tyrannei einer ebenso machthungrigen wie seelenlosen Bürokratie und Bonzokratie entziehen könnte.“ Ein Satz, den man sich auf der Zunge zergehen lassen sollte.

Wirkungslose Wahlgeschenke
Prasser-Koalition fabuliert jetzt von „richtiger Prioritätensetzung“
Auch der Sozialstaat kennt keine Stunde Null. Das seit Bismarck existierende System, von den Nazis zweckentfremdet, wird ausgeweitet. Es ist eine Erbsünde der Bonner Republik. Die sozialen Leistungen sollen die Bürger mit der Demokratie versöhnen. Schon Bismarck wollte die Untertanen ruhigstellen, den Klassenkampf verhindern.

Nicht anders wird Helmut Kohl 1989 verfahren: Sozialpolitische Maßnahmen sollen die DDRKommunisten mit dem Kapitalismus versöhnen. Sozialpolitik als Handel: Die Bürger werden materiell an den Staat gebunden. Die Zustimmung der damals extrem linken Gewerkschaften zu Wiederbewaffnung und Westkurs erkauft Adenauer mit der paritätischen Montanmitbestimmung. Im Zweifel gegen die Marktwirtschaft.

Im glücklichen Beginn stecken bereits Widersprüche und Lebenslügen, die noch immer die Politik prägen

Die typische westdeutsche Konsenspolitik nimmt ihren Anfang. Die Verbände gewinnen zu viel Einfluss, das System neigt zur Kungelei. Alle Parteien bestreiten ihre Wahlkämpfe mit sozialpolitischen Parolen und versuchen, sich mit Versprechen gegenseitig zu übertreffen. Besonders verhängnisvoll wird die Einführung der dynamischen Rente sein. Adenauer gewinnt damit die Generation, die am tiefsten im Nationalsozialismus verstrickt ist. Es ist die Autobahn in den Versorgungsstaat.

Hohe soziale Sicherheit hält dieses Land, das kein Nationalstaat mehr ist, zusammen. Die Deutschen glauben, nivellierende Umverteilung sei die Voraussetzung für eine offene Gesellschaft. Sie sind Schönwetterdemokraten und halten Ungleichheit für ein Risiko.

Erklärtes Ziel der Verfassungsväter ist es, nie wieder Weimarer Verhältnisse zuzulassen. Das Grundgesetz ist ein Spiegel ihrer Ängste. Schon der Begriff „Verfassung“ wird vermieden. Es ist eine Konzession an jene, die von Wiedervereinigung träumen. Die Bezeichnung Grundgesetz klingt provisorisch. Von einer „Übergangszeit“ ist in der Präambel die Rede. Eine selbstsichere Demokratie würde die neue Verfassung dem Volk vorlegen. Doch nicht einmal der Parlamentarische Rat, der die Verfassung beschließt, ist unmittelbar vom Volk gewählt. Unverhohlener kann das Misstrauen gegenüber dem Volk nicht ausgedrückt werden.

41 Jahre später wiederholt sich die Geschichte. Nach dem Beitritt der DDR dürfen die Deutschen nicht darüber abstimmen, obwohl das Grundgesetz eine in freier Entscheidung beschlossene Verfassung vorsieht. Auch der Verzicht auf plebiszitäre Elemente kommt von der Angst vor der Verführbarkeit des Volkes. Ebenso die starke Rolle der Kanzler, die zwischen den Wahlen nur schwer abzulösen sind, ein Misstrauensvotum muss konstruktiv, also zugleich die Wahl eines Nachfolgers sein.

Wochenrückblick
Rücktritt in Wien, sitzen bleiben in Berlin
Das Wahlsystem bevorzugt die Funktionärseliten der Parteien. Mehr als die Hälfte der Abgeordneten kommen von Listen und sind nicht direkt gewählt. In sattelfesteren angelsächsischen Demokratien gilt die Regierung einer einzigen Partei eher als Normalfall. Die Deutschen haben panische Angst davor und fesseln sich selbst mit Koalitionen, unausweichlich im Mischsystem aus Mehrheits-­ und Verhältniswahlrecht.

Die Konservativen glauben noch jahrzehntelang, die Oder­Neiße­Grenze sei verhandelbar. Die Linken glauben an das Schlaraffenland. Die Mehrheit träumt von multikultureller Harmonie, und alle zusammen haben vor dem Klimawandel mehr Angst als der Rest der Welt.

Die Wirklichkeit zu bekämpfen kostet Kraft. Daraus erwächst von Beginn an die größte Gefahr für die Zukunft. Von Anfang an misstrauen die Deutschen der Freiheit. Sie legen sich Fesseln an, lange sind sie kaum zu spüren, es sind ja die denkbar komfortabelsten Fesseln. Aber nur, solange sie sich nicht bewegen. Sobald sie sich bewegen müssen, schneiden diese Fesseln ins Fleisch. Es sind die Fesseln des Sozialstaats, des Steuerdickichts, der staatlichen Ausbeutung der leistungsbereiten Bürger, der bürokratischen Gängelung.

Mit der Staatsgründung 1949 haben die Deutschen Lehren aus ihrer Geschichte gezogen – nicht immer die richtigen. Duckmäusertum regiert nach wie vor. Zivilcourage gilt traditionell nur dann etwas, wenn sie dem Mainstream folgt. Die Geißel des Kollektivismus ist längst nicht überwunden.

Mehr zum Thema in:
Wolfgang Herles, Die neurotisch Nation. Die Bundesrepublik vom Wirtschaftswunder bis zur Willkommenskultur. FBV/Edition Tichys Einblick, 320 Seiten, 22,99 €.


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