Tichys Einblick
Publizistische Punktlandung zum Jahrestag

Sarrazin über die Grenzen des Staates in Zeiten der Migration

31. August 2015 – 31. August 2020: Was haben beide Daten miteinander zu tun? Eine Menge! Denn am 31. August 2020 erscheint Thilo Sarrazins neues Buch. Es trägt den Titel „Der Staat an seinen Grenzen. Über Wirkung von Einwanderung in Geschichte und Gegenwart.“

Und was war am 31. August 2015? Das ist der Tag, an dem Kanzlerin Merkel angesichts anschwellender Flüchtlingszahlen den Spruch tat: „Wir schaffen das!“ Es folgte am 4./5. September 2015 die totale Öffnung der Grenzen – eine fatale und einsame Merkel-Entscheidung, die unter den renommiertesten deutschen Verfassungsrechtlern heute noch als „Herrschaft des Unrechts“ gilt, nämlich als Verstoß gegen deutsches und europäisches Recht. Trotzig und patzig schob Merkel bei einer Pressekonferenz am 15. September 2015 hinterher: „Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Und noch heute hält sie an ihrer naiv-humanitaristischen Ideologie fest.

Merkels dünne Begründung für die sperrangelweit geöffneten deutschen Grenzen, so in einem Interview vom 7. Oktober 2015, lautete: 3.000 Kilometer deutscher Grenzen könne man nicht schützen. Dabei waren in den Tagen nach dem 5. September 2015 sämtliche Einheiten der Bundespolizei bereits in Alarmbereitschaft versetzt und 21 Hundertschaften mit Bussen aus ganz Deutschland an die deutsch-österreichische Grenze gebracht worden, um am 13. September 2015 die deutsche Grenze wieder zu schließen. Die Bundespolizei durfte schließlich nicht eingreifen. Die Grenzen blieben offen. Der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière hatte übrigens auf Grenzschließung gesetzt. Heute, Ende August 2020, verteidigt er Merkels Entscheidung. Aber was im Kopf dieses Menschen vorgeht, den Merkel 2018 vor die Tür gesetzt hat, steht auf einem anderen Blatt.

Neues vom Nonkonformisten
Der Sommer wird heiß. Ein neuer Sarrazin erscheint
Da kommt fünf Jahre nach dem berühmt-berüchtigten Sommer 2015 Sarrazins neues Buch gerade recht. Es ist Sarrazins sechstes Buch nach seinem hysterisch skandalisierten „Deutschland schafft sich ab“ aus dem Jahr 2010. Merkel hatte damals quasi „ex cathedra“ und für große Teile der Journaille damit wegweisend bekundet, sie werde dieses Buch nicht lesen, die Vorabdrucke genügten ihr, es sei nicht „hilfreich“.

Wie in all seinen Vorgängerbüchern glänzt Sarrazin mit sorgfältigster Recherche und klarer Sprache – gerade was die Folgen der einsamen Merkel-Entscheidungen vom Spätsommer 2015 betrifft. Um nur einige Folgen zu nennen, die Sarrazin darstellt: In der Summe halten sich derzeit rund 2,2 Millionen „Schutzsuchende“ in Deutschland auf. Oder nehmen wir die von Sarrazin bilanzierten Asylanträge von 2007 bis 2016: „Von den 1,07 Millionen Entscheidungen über Asylanträge in dieser Zeit wurde lediglich in 9166 Fällen das Recht auf Asyl (gem. Art. 16a GG) zugesprochen. Das waren weniger als 1 % aller Fälle. Das ist auch bis heute weiter der Fall … De facto ist das deutsche Asylrecht das zentrale Einfallstor für ungeregelte Masseneinwanderung geworden.“

Folge ist laut Sarrazin: „Bereits 2016 war der Anteil der Fluchtmigranten an der Gewaltkriminalität in Deutschland dreimal so hoch wie ihr altersbereinigter Anteil an der männlichen Bevölkerung.“ Folge ist außerdem, dass der größte Teil der „Schutzsuchenden“ mangels Qualifikation frühestens nach drei bis fünf Jahren in die Arbeitswelt integrierbar ist, weil 76 Prozent keine Ausbildung mitbringen. Und: Es blüht eine „Flüchtlings-Industrie“, die Verwaltungsgerichte sind weitgehend lahmgelegt. Laut Sarrazin arbeitet mittlerweile gut die Hälfte der rund 2000 Verwaltungsrichter in Deutschland nur noch für Asylverfahren. Das ist umso schwieriger, als bereits im Jahr 2016 71,6 Prozent der Asylbewerber keine Ausweispapiere vorlegen konnten (oder: wollten?). Folge ist ferner – so der britische Entwicklungsökonom Paul Collier: „Für jeden Flüchtling in Europa zahlen wir 135-mal mehr als für einen Flüchtling in der Nähe seiner Heimat.“ In der Summe schlägt das pro Jahr innerhalb Deutschlands mit rund 25 Milliarden zu Buche. Was man damit vor Ort in Afrika oder im Nahen Osten Gutes tun könnte, anstatt den Herkunftsländern der „Schutzsuchenden“ die Zahlungskräftigsten und Vitalsten zu entziehen! Kolonialismus 2.0?

Eine andere grüne Stimme als in Deutschland
Ungarns Antwort auf die Migrationskrise
Dass es nicht noch schlimmer kam, ist übrigens nicht das Verdienst Merkels. Sarrazin schreibt: „Das Verhalten Ungarns, und nicht die Vereinbarung Angela Merkels mit Erdoğan, war im März 2016 entscheidend für die Unterbrechung der Balkanroute und das Abebben des Flüchtlingsstroms.“ Man könnte auch sagen: Das kleine Ungarn schaffte es, die Grenzen weitestgehend dicht zu machen. Hätte Ungarn nicht so gehandelt, gäbe es seit 2016 keine Kanzlerin Merkel mehr, denn weitere Millionen „Schutzsuchender“ hätte sie als Kanzlerin nicht überstanden.

All dies und noch viel, viel mehr stellt Sarrazin auf 480 Seiten dar – unterfüttert mit 671 Belegen. Selbst historisch Interessierte und Versierte kommen mit dem neuen „Sarrazin“ auf ihre Kosten. Denn das erste Drittel seines neuen Buches gilt der Weltgeschichte der Migration. Auch hier hat sich der Autor mächtig ins Zeug gelegt. Zehntausende von Jahren weltweiten Migrationsgeschehens auf 170 Seiten zu komprimieren, das gelingt kaum den besten Historikern. Der Ex-Finanzsenator und Ex-Bundesbanker Sarrazin kriegt das hin.

Alles in allem: Die Lektüre jeder der 480 Seiten von „Sarrazin Nummer 6“ lohnt. Das Buch ist ein Feuerwerk an Fakten, Quellen, Tabellen, Argumenten, die jeder braucht, der sich um dieses, das Land spaltende Thema kümmert oder der hier zumindest sachgerecht mitdiskutieren will. Das gilt eigentlich auch für so manche Spitzenpolitiker, für so manche Kirchenfürsten, für so manche Journalisten, für so manche, auch „christliche‘“ Seenotretter und Schleuserkollaborateure. In grenzenlos pädagogischem Optimismus geben wir die Hoffnung nicht auf, dass das neue Sarrazin-Buch vielleicht doch ein wenig als „hilfreich“ angesehen wird.

Thilo Sarrazin, Der Staat an seinen Grenzen. Über Wirkung von Einwanderung in Geschichte und Gegenwart. LangenMüller Verlag, 480 Seiten, 26,00 €.


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