Tichys Einblick
Landtagswahl in Sachsen

Was Sachsen von der Politik erwarten: „Loofen musses!“

Die weit überwiegende Mehrheit der Ostdeutschen will Demokratie, das zeigen steigende Wahlbeteiligungen. Noch lieber als eine Partei, die ihre Fragen stellvertretend für sie stellt, würden sie Parteien wählen, die ihre Fragen glaubwürdig beantworten können.

Sean Gallup/Getty Images

Politik ist ein riesiges Puzzle. Viele haben nur wenige Teile zur Verfügung, andere finden einfach keinen Anfang, weil ihnen das Hauptbild in der Mitte fehlt. Und dann gibt es die, die vorgeben zu wissen, wie das Bild am Ende aussehen wird. Diese Leute treiben alle anderen in den Wahnsinn.

Unter den Kommunisten haben wir in der DDR für eine Ideologie geschuftet, die den Kommunismus als Paradies auf Erden beschrieb und am real existierenden Sozialismus scheiterte – und zwar krachend. Seit der Wende schuften wir für eine EU, die uns von allem Übel dieser Welt erlösen soll. Hegel lässt grüßen. Der Verlust des Glaubens zeichnet sich auch hier ab. Ständig werden jenseits der Kirchen irgendwelche vermeintlichen Todsünden (Böller oder Plastiktüten) oder Paradiese (Toleranz von allen für alle oder Künstliche Intelligenz) propagiert. Jede kleine praktische Entscheidung bekommt einen ideologischen Überbau, wird zur Frage des politischen Standpunktes oder einer quasi-religiösen Grundsatzentscheidung. Wann und warum kam diese Alltagshysterie in unser Leben? Ist es verboten, einfach nur nach einem schönen Leben ganz ohne philosophischen Überbau zu streben?

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In Europa verstehen sich andere besser darauf als wir selbst, habe ich den Eindruck. Vielleicht sind sie auch einfach näher an den praktischen Dingen des Lebens. Wir hier im Osten kommen jedenfalls mit weniger ideologischem Überbau prima aus. Uns sind Familie und Freunde, persönliche Freiheiten und ordentliche Arbeit wichtig. Und natürlich will man ganz generell »kein Schwein sein in dieser Welt«. Zusammen ist das der Kern der hiesigen Zivilgesellschaft, die sich gerne auch für Kultur und Literatur interessiert, an Ärmere spendet, wenn sie etwas zum Spenden hat, und bei Weitem nicht so dumm und ungebildet ist, wie es oft dargestellt wird.

Europa wird – wie in allen bisherigen Krisen – weiter bestehen. Mitteleuropa wird weiter bestehen. Was scheitern könnte, sind Euro und EU, also die gemeinsame Währung und die oberste Verwaltungsbehörde. Beides dient inzwischen nur noch dazu, innerhalb Europas zwischen den Ländern umzuverteilen, also das Sozialstaatsprinzip auf ganz Europa auszudehnen. Hätte man alles gemeinsam begonnen: Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, hätte man eine Chance gehabt, gemeinsame Standards auf einem niedrigeren Niveau zu definieren, das dem Süden und dem Osten angemessen gewesen wäre. Diese Sozialunion gab es aber nicht. Nachträglich kann man sie jetzt nicht mehr einführen.

Dadurch wird die Währungsunion zunehmend problematisch. Reformen kommen nicht voran. Weil man Verträge nicht eingehalten hat, stehen viele Mitgliedsstaaten bei Deutschland mit erheblichen Milliardenbeträgen in der Kreide. Das macht Deutschland erpressbar und führt dazu, dass es immer mehr von seiner marktwirtschaftlichen Ordnung an eine EU verliert, die vor allem verteilen will. Die Deutschen sind aber die stärksten Einzahler. Das kann nicht mehr gutgehen: denen, die am meisten ein zahlen, die Lasten aufbürden und gleichzeitig deren Wirtschaftssystem mit seinem leistungsfähigen Mittelstand ausbremsen. Seitdem die Briten versuchen, die EU zu verlassen, sind die Marktwirtschaftler so sehr in der Minderzahl, dass sie nicht mehr wirklich mitreden können. Das wird in ganz Mitteleuropa kritisch gesehen, nicht nur im östlichen. Auch Nordeuropa schaut hier zunehmend skeptisch zu. Dort mutete man in den 1990er Jahren den Bürgern harte Sozialreformen zu. Diese Opfer hatten den Sinn, wieder wirtschaftliche Stabilität zu erreichen. Aber was nützt das, wenn der Erfolg solcher Maßnahmen im bodenlosen Fass der EU versickert? Auch deshalb hat sich in Schweden der politische Wind gedreht.

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Ebenso ging es mit der Agenda 2010. Nachdem Deutschland durch die Einführung des Euro erst einmal gravierende Probleme hatte, war es dringend erforderlich, wirtschaftlich wieder stärker zu werden. Danach profitierten wir vom Euro und tun das bis heute, weil der schwache Euro es leichter macht, unsere Exporte zu verkaufen. Aber wer ohne Mühe exportieren kann, strengt sich nicht mehr so an, technologisch an der Spitze zu sein, jedenfalls nicht alle. Und will man jetzt Grundsicherungen einführen, dann verdeckt man damit die Armut und die Mitnahmementalität vieler Zuwanderer, aber auch mancher Einheimischer. Beides höhlt den Sozialstaat Tag für Tag mehr aus. Ein Modell, Wettbewerb und Leistungsbereitschaft zu stärken, ist das definitiv nicht. Sozialintegration über den Arbeitsmarkt findet dann nicht statt.

Man müsste also eher umgekehrt erklären, dass sich derzeit in Deutschland jeder, der gesund ist, hocharbeiten kann, denn es werden durchaus Arbeitskräfte gesucht. Gleichzeitig muss man die Zuwendungen dementsprechend kürzen, damit die Integration durch Arbeit der Königsweg in der Zuwanderung wird. So läuft es in vielen Ländern dieser Welt. So könnte es hier auch laufen. Ein vernünftiger deutscher Sonderweg dabei könnte ja sein, Deutsch als Fremdsprache massiv im Ausland anzubieten, berufs- und studienvorbereitende Kurse ebenso. Dann könnten junge Menschen sich in ihrer Heimat darauf vorbereiten, hier die weitere Ausbildung zu durchlaufen und danach sofort in den Arbeitsprozess bei normalem Gehalt integriert zu werden. Da die Kommunen am ehesten sehen, wo welche Arbeitskräfte fehlen, sollten sie die Hoheit über die Zuwanderung und Integration bekommen. Damit die Menschen zufrieden in ihrer Heimat leben können, muss klar sein, wo und was die Heimat ist. Die Vaterländer, die Nationen, bilden nach der Region oder dem Bundesland diese Heimat.

Wir müssen und können nicht die Welt retten. Und wir wollen sie auch nie wieder beherrschen – bitte auch nicht moralisch. Ich muss an dieser Stelle einmal ein wirklich heißes Eisen anfassen. In Westdeutschland gehört es zum guten Ton, auch nach mehr als 70 Jahren offenherzig Schuld zu bekennen – vor allem Kriegs- und manchmal auch – die im Vergleich recht geringe – Kolonialschuld. Gibt es hier auch. Wer wollte dagegen sein? Ich frage mich nur, warum dieser gute und richtige Impetus oft so ideologisch überhöht wird. Hat man ob des eigenen Wohlstands ein schlechtes Gewissen? So, wie die SUV-Fahrerin, die meint, anders ihre Kinder nicht sicher in die Schule fahren zu können, dann aber wegen des Umweltschutzes strikt und konsequent auf Plastikhalme verzichtet? Oder ist die Sache einfach nur gut im ideologischen Kampf zu gebrauchen?

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Wie auch immer: Im Osten funktioniert das so nicht. Wir haben eine gewisse Robustheit gegen von Staats wegen verordnete Selbstkritik aus ideologischen Gründen entwickelt. Schuld, Reue und Sühne sind keine Empfindungen, die sich für öffentliche politische Lippenbekenntnisse eignen. Der Versuch, moralische Pflichten für eine ganze Gesellschaft aus der Geschichte abzuleiten, kommt hier sehr komisch an. Kollektivschuld ist ein heißes Eisen. Hier hat man den Leuten jahrzehntelang eingeredet, dass die Nazis alle im Westen seien und der Kommunismus den Faschismus besiegt habe. Dem war nicht so, aber das ist eine andere Geschichte. Und die, die das nicht glaubten, ertrugen die DDR auch im Wissen darum, dass sie in gewisser Weise für ganz Deutschland Kriegsschuld abtragen. Man möge es bitte verstehen: Das Schuld-Thema bleibt, aber die Mitte des Politik-Puzzles kann es nicht mehr abgeben.
Kampfzone Politik

Politik ist seit Jahrtausenden ihrem Wesen nach immer dasselbe: Kampfzone, um öffentliche oder private Ziele durchzusetzen. Das kann man gewaltsam durch Kriege und Unterdrückung tun oder indem man offen diskutiert und abstimmt. Man kann aber auch versuchen, die Leute hinters Licht zu führen und moralistische Grundsätze einfach behaupten, anstatt in der Sache zu überzeugen. Solche Bekenntnispolitik dient auf Dauer niemandem. An dem Punkt sind uns z.B. die Schweizer mit ihrer offenen Demokratie voraus. Sie beobachten uns Deutsche und halten uns weithin für schlechte Demokraten.

Wir Sachsen wollen deutlich mehr Schweiz und deutlich weniger Berliner Republik. Wir würden gern öfter geheim abstimmen: Mehr Volks- und Bürgerentscheide wären in dieser Phase unserer Demokratie sehr wichtig. Ernsthafte Entscheidungsmöglichkeiten bringen ernsthafte Bürger hervor. In den letzten Jahren war sehr auffällig, wie wenig die offiziellen Medien noch ernstgenommen werden, was zu jeder Menge Verschwörungstheorien führt. Die westdeutschen Medien haben unterschätzt, dass sie im Osten auf eine Bevölkerung treffen, die nach harter DDR-Schule mit Regierungsmedien zwischen den Zeilen liest und vertrauensvoll untereinander Informationen austauscht.

Ansichten aus der Mitte Europas
Wie Sachsen die Welt sehen
Ein starker Staat wird geschätzt, wenn er funktioniert und es die Möglichkeiten zur Mitsprache bei relevanten Entscheidungen gibt. Daher das Interesse an den demokratischen Verfahren in der Schweiz. Wir haben das schon verstanden: In einer ordentlich funktionierenden Demokratie kann man den Krieg eines jeden gegen jeden, also das Recht des Stärkeren, bändigen. Drei Dinge stellen das sicher: das Staatsvolk mit seinen unterschiedlichen Interessen, die ständig neu ausgehandelt werden müssen, das Staatsgebiet als gemeinsames Territorium mit klaren Grenzen und Regeln und die Staatsgewalten in ihrer Aufteilung in Parlament, Regierung und Rechtswesen.

Wir haben auch alle verstanden, dass diese drei Staatsgewalten (Parlament, Regierung und Gerichte) dem Staatsvolk in seinem Staatsgebiet verpflichtet sind und ihm dienen sollen, indem sie die vereinbarte öffentliche Ordnung sichern. Das klagen wir auch ein: Die Staatsgewalten sind dem Staatsvolk verpflichtet, das sich diese Institutionen der Demokratie von seinen Steuergeldern leistet. Die drei Staatsgewalten sollen sich gegenseitig in Schach halten. Klappt das, hat der Bürger Vertrauen in seinen Staat und dessen Vertreter. Das mussten wir im Osten erst aufbauen. Aber die sehr grenzwertigen Entscheidungen der Bundesregierung mit einem Abnickparlament und einem furchtsamen Verfassungsgericht auf Bundesebene haben dieses Vertrauen nur begrenzt wachsen lassen.

Man soll ernstnehmen, dass die weit überwiegende Mehrheit der Ostdeutschen es noch einmal mit den drei Grundprinzipien und der Gewaltenteilung in der Demokratie versuchen will. Deshalb gehen auch wieder mehr Bürger zur Wahl. Allerdings wählen sie zunehmend eine Partei, die ihre Fragen stellvertretend für sie stellt. Noch lieber würden sie Parteien wählen, die ihre Fragen glaubwürdig beantworten können und so neues Vertrauen durch echten Politikwechsel begründeten.

Auszug – mit freundlicher Genehmigung von Autorin und Verlag – aus:
Antje Hermenau, Ansichten aus der Mitte Europas. Wie Sachsen die Welt sehen. Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 180 Seiten, 10,00 €


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