Tichys Einblick
Von der Vespa zum Ferrari

Rolf Dolina: Ein Wiener Gassenbub im „Wilden Osten“

Wer in Ostblockstaaten verkaufen wollte, musste auch dort natürlich einen Kunden finden. Aber das war der leichtere Teil. Jede Firma im „Wilden Osten“ gehörte der Firmenvereinigung ihrer Branche an – zwangsweise. Die Vereinigung stufte den gewünschten Import als notwendig ein oder nicht. Erst dann war der Weg frei zur Bewilligung der benötigten Devisen durch die Planungskommission und deren Zuteilung durch die Nationalbank – lauter einzelne Bürokratie-Schritte. Hatte der Ostblock-Kunde alle Papiere beisammen, gings zum Außenhandelsbüro. Dieses verhandelte mit den Anbietern aus dem Westen und entschied, welches Produkt bei welchem Lieferanten genommen wird. Am Ende bezahlte die Nationalbank über Außenhandelsbüro und Außenhandelsbank. So lief das überall im Ostblock, lesen wir in der Biographie des Wiener Selfmade-Millionärs Rolf Dolina.

Auf diese Welt stieß der 30-jährige frisch gebackene Verkaufsleiter des US-Konzerns Memorex, der IBM-kompatible Festplatten, Video- und Computerbänder produzierte. Oder besser: Die Ost-Bürokratie traf auf Dolina. Von Wien aus fuhr er mit dem eigenen Auto überall hin – von Polen bis Bulgarien, während die Konkurrenz gar nicht merkte, welche Chancen ihr allein durch die Wahl des Flugweges entgingen. Im Auto konnte man alles mitnehmen, was Türen im „Wilden Osten“ öffnete. Drüben legte Dolina Listen an, was alles gebraucht wurde – von violetter Wolle bis falschen Zähnen. Zurück in Wien besorgte seine Frau Traude, ein Wiener Vorstadtkind und ganz von dieser Welt wie er, das Nötige. Die Woche drauf nahm er alles mit.

Angewandte Psychologie

Wie er diese Westgüter durch die Grenzkontrollen brachte? Hören wir Dolina selbst: „Prinzipiell war es ja so, dass beim Zoll jeder Taschenrechner ins Visum eingetragen wurde. Das musste man dann auch wieder ausführen, um zu zeigen, dass man dort nicht verkauft hat, also Geld bezogen hat, ohne Geld zu wechseln. Deshalb war es wichtig, das Auto sehr clever zu beladen. Zuerst die Digitaluhren hinein, dann die kleinen Rechner, die ganzen Kalkulatoren, die Parfums … alles rein … Und ganz oben ein paar Mini-Planer, Kalender mit nackten Weibern drauf und so weiter … So bist du also an die Grenze gekommen: Was haben Sie mit? Sag‘ ich: Werbegeschenke, alles nur Werbegeschenke, keine Handelswaren. Bitte aufmachen! Jetzt machst also auf, der steht neben dir – meistens waren es zwei. Dann nehme ich also das erste Trumm raus und sage: Schaun’S, das schenk‘ ich Ihnen, das, das und das. Das hat man so lange machen müssen, bis er einfach nix mehr halten konnte. Weil jetzt hatte er eigentlich nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder er lässt alles in den Gatsch (Dreck) fallen und gräbt und sekkiert dich weiter oder er sagt: Danke, Kofferraum zu, Wiederschauen, und trägt die Geschenke weg. Das ist angewandte Psychologie. Aber das lernt man natürlich. So bin ich immer über die Grenze gekommen. Am Ende haben sich die Grenzler und meine Kunden gefreut, und ich natürlich auch, weil ich war Everybody’s Darling.“

Dolina brachte die Tochter der kleinen Amtsträgerin in Warschau zu Deutschkursen in Wien unter. Er besorgte den Millionen-Bankkredit der Schweizer Bank für die polnische Bank, damit sie die Produkte seiner US-Firma für das polnische Fernsehen zahlen konnte. Bei Amexco in Wien verschaffte er Kreditlinien für andere Memorex-Käufe im Osten. Dem Sohn einer weiteren Funktionärin verhalf er zu Trainingszeiten auf den Computern der Universität, nachts, wenn niemand mehr dort war. Sicher finden wir in Dolinas Biographie nur einen kleinen Ausschnitt seiner unerschöpflichen ambulanten Werkstatt.

Der Leser gewinnt einen Eindruck, wie auch heute die Geschäfte im größten Teil der Welt ablaufen – je autoritärer die Systeme, desto mehr, nicht nur in Asien, Afrika und Lateinamerika. Nein das beginnt schon am Balkan, und bei uns sind am Ende wohl nur dieTechniken verschieden und die Netze anders geknüpft. Der Ostblock jedenfalls, da sind sich viele einig, wäre ohne Schwarzmärkte und gut geölte Beziehungen zu den westlichen Lieferanten schon viel früher implodiert.

Die Bürokratie per Handschlag austricksen

Ein besonderer Coup Dolinas ist nah an unserer Staatsbürokratie West. Wo Computer laufen, braucht es Klimaschränke, Isolierung, Feuer-Lösch- und Alarmsysteme – und Motorengeneratoren. Solche Generatoren wollte die Außenhandelsgesellschaft von Wrocław, ELWRO. Deren Einkaufsdirektor, ein Freund Dolinas, beschreibt in einem zwei Meter langen Telex, was er braucht. Es ist Ende Oktober. So etwas lässt Dolina bei der Firma SELIN in Genua produzieren. Die sagen, einer kostet 1,1 Millionen Dollar, Lieferzeit sechs Monate. Der ELWRO bietet Dolina das Stück für 2,2 Millionen Dollar an, zwei wollen sie haben, zusammen 4,4 Millionen, fünf inklusive Zubehör.

Die polnischen Techniker sind mit der Produktbeschreibung sehr zufrieden. Beim Preis reden sie nicht mit. Das einzige Problem bei den Verhandlungen in Wrocław ist das  Lieferdatum. Die Generatoren müssen vor Jahresende die Grenze überschreiten. Nicht weil sie so schnell gebraucht werden. Nein, die Lieferung muss in diesem Budgetjahr eintreffen, weil sonst das Geld weg ist. Unterbrechung. Unter vier Augen und Ohren erfährt Dolina von seinem Spezi, der polnische Kunde hat noch nicht einmal die Fundamente für das neue Computerzentrum gelegt. Nun weiß Dolina Rat. Er verspricht seinem Freund, wir liefern, aber unter einer Bedingung: Du lagerst die Kisten mit den Bauteilen und niemand macht sie auf. Handschlag, vereinbart.

In Österreich werden alte Kompressoren, Schrott, in Kisten verpackt, mit Schablonen die Auftragsnummern angebracht. Der österreichische Spediteur liefert alles an den staatlichen polnischen Spediteur, Ende Dezember kommt die Ladung in Polen an. Am 3. Januar schreibt Dolina an die ELWRO, tut uns sehr leid, unser Spediteur hat einen Fehler gemacht: „Ihre Kisten gingen nach Kairo und die Kairo-Kisten gingen an Sie. Aber keine Sorge, behalten Sie, was Sie haben, sobald die Kisten von Kairo zurückkommen, schicken wir das sofort nach Wrocław und Sie schicken mir dann die Kisten zurück.“ Jeder bekam, was er wollte und Dolinas eigene Firma verdiente an seinem Improvisationsstück  2,8 Millionen. Und die Schrottkisten? Dolina bat seinen Spezi, das Zeug einfach wegzuschmeißen. So geschah es.

Warum die Geschichte nah an unserer Staatsbürokratie ist? Wer öffentliche Zuschüsse – schöner Ausdruck für Steuergelder – bekommt, weiß, was „Dezemberfieber“ ist. Was der „Zuschussempfänger“ in diesem Budgetjahr nicht ausgibt, kürzt sein Budget für das nächste. Also werden im Dezember möglichst teure Produkte bestellt, Autos, Computer usw. damit 100 Prozent „Ausschöpfung“ erreicht werden. Staatliche Kameralistik ist systemübergreifend dämlich.

Mr. Fuji Osteuropa

1974 waren alle osteuropäischen Fernsehstationen Kunden von Rolf Dolina. Da war es ein herber Schlag, als Memorex beschloss, nur noch Cormputer herzustellen, womit Dolinas wichtigste Ware wegbrach. Doch wenige Wochen später verhandelte er mit Fuji und übernahm ihre Vertretung in Osteuropa. Dolinas Kumpel in der DDR fanden das wunderbar, keine amerikanischen Videobänder mehr, sondern grüne Fuji-Boxen vom aufstrebenden Japan. Was Dolina ärgerte, war die Firmenphilosophe der Japaner. Fuji suchte sich für jede Produktsparte einen anderen Vertriebspartner – Dolina wollte die gesamte Fuji-Filmpalette vertreiben. Dolina wäre nicht Dolina, hätte er die Einheits-Strukturen des komunistischen Osteuropa nicht auch hier als sein Instrument genutzt.

Bei seinen Spezis brachte er systematisch in Erfahrung, wie viele Millionen Meter Film Polen wieder einkauft und sagte den Fuji-Managern vorher, dass der Zuschlag nicht an Fuji, sondern an BASF oder Kodak gehen würde. Warum? Dafür sorgten Dolinas Leute, bis sein Freund in Jugoslawien den Fuji-Boss aus Düsseldorf beim Abendessen in Ljubljana schlicht fragte, wann er begreifen würde, dass Fuji nur mit Dolina für Kinofilme in Osteuropa liefern könne. Das bescherte Dolina den Fuji-Auftrag für Titos Reich. Nach und nach erkämpfte sich der zähe Wiener die ganze Fuji-Palette für ganz Osteuropa.

Mut und Fleiß

Mit zwölf Jahren schaffte es Dolina in den Fußballverein der Post, der ihn für 30 Schilling an den Staatsligaclub Vienna verkauft – als Tormann. Nach der Hauptschule nimmt er dem Drängen seiner Mutter entgegen, Beamter bei Post oder Bahn zu werden, eine Lehre auf und wird Buchhalter. Mit zusätzlicher Arbeit erfüllt er sich seinen ersten großen Wunsch: eine Vespa. Damit ist er damals, was er viel später mit dem Ferrari sein wird. Zusammen mit seiner Clique organisiert er mit primitivsten Mitteln nach dem Vorbild des New Yorker Jazzclubs Birdland den ersten Ort in Wien, an dem Rock‘ n‘ Roll getanzt werden kann. Dolina führt die Kasse. Er arbeitet eisern und spart für sein nächstes Ziel.

Dem Druck der Mutter und Tanten entzieht er sich durch Auswanderung nach Australien. Auswandern will er gar nicht, nur einfach ganz weit weg. Australien wirbt damals aktiv um neue Einwanderer. Da seine Mutter ihm die nötigen Unterschriften dafür nie gegeben hätte, ertrickst sich der Siebzehnjährige diese und geht im Dezember 1958 in Melbourne an Land. Es gibt wenig, was der Jüngling in Australien nicht tut – Zuckerrohr schneiden, Kraftwerksbau, Autoreifen reparieren, Kängurus jagen, stets mehrere Jobs und jedes Wochenende arbeiten – vor allem sparen, sparen, sparen, denn er will ja zurück nach Wien. Das tut er in einer langen Reise nach und durch Amerika von San Francisco bis New York, Autostop und zu Fuß, drei Monate lang – unterwegs Geld verdienen auf einer Farm. Anfang November 1960 ist Rudi, der seit Australien Rolf heißt, wieder in Wien.

Über den Beginn seines unaufhaltsamen Aufstiegs zu einem mehr als außergewöhnlich erfolgreichen Unternehmer als Vertreter von Olivetti will ich nur zitieren, was er selbst über die Momente nach seinem schweren Autounfall erzählt: „Auf dem Weg zum Operationssaal fragt mich der Arzt …, was ich beruflich so mache. Ich hab‘ ihm erzählt, dass ich Olivetti-Vertreter bin und so weiter … das ganze Bla Bla. In diesen zwei Minuten habe ich ihm jedenfalls … vor der Narkose noch eine Reiseschreibmaschine verkauft.“

Unseren jüngeren Zeitgenossen zu erklären, in welcher Zeit der Wiener Gassenbub aufwuchs, ist gar nicht leicht. Das Schuljahr 1945 fiel aus, wurde auf 1946 verschoben. Die NS-Zeit war zu Ende, in den Trümmern war Selbstorganisation Trumpf. Bis wieder öffentliche Strukturen entstanden, war die Generation der Rudi Dolinas im wesentlichen sich selbst überlassen. Wer sich wie er für den sebstbestimmten Weg entschied, gegen den bequemen, lernte im wahren Leben, sich immer zu allererst auf eines zu verlassen, auf Leute mit Handschlag-Qualität. Diese Leute konnten auf ihn zählen, ohne jeden Vorbehalt, und er auf sie. Das brachte Rolf Dolina mit grenzenlosem Mut und einem unglaublichen Fleiß dahin, wo er heute ist.

Seinen Weg nachzulesen lohnt. Seine Lebensgeschichte liefert ausreichend Stoff für mehrere spannende Spielfilme.

Lisa Rettl: Flugstunden zwischen Ost und West

2014, styria, € 24,99

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